Polens Prioritäten
Wie die regierende PiS von den Fehlern ihrer Vorgänger profitiert
von Irene Hahn-Fuhr und Gert Röhrborn
So geht Volkspartei: 47 Prozent erreichte die polnische Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość, PiS) jüngst in einer Umfrage bei der Sonntagsfrage – Tendenz steigend. Wie kann das sein angesichts umstrittener Maßnahmen im Justizwesen, im Bereich Medien oder zu Frauenrechten, die auf entschiedenen Widerspruch breiter gesellschaftlicher Kreise treffen? Wer, und aus welchen Gründen, unterstützt den sogenannten guten Wandel (dobra zmiana)? Wer diesen Fragen nachgeht, stellt alsbald fest, dass die Reformstrategie der PiS mehr als eine populistische Eintagsfliege ist.
Schon der Ausgang der Parlamentswahlen vom Oktober 2015, bei denen die PiS mit 37,6 Prozent der Stimmen 51 Prozent der Sejm-Sitze holte, war so interpretiert worden, dass viele Wählerinnen und Wähler aufgrund einer – einem miesen Mikroklima entsprungenen – Wechselstimmung massenhaft zur Hauptkonkurrentin der bis dato regierenden Bürgerplattform (Platforma Obywatelska, PO) übergelaufen sind. Oder aber für die neu gegründeten Parteien Die Moderne (Nowoczesna) und Kukiz’15 stimmten oder mangels Alternative gleich zu Hause blieben. Die PO hatte zu Recht, aber erfolglos auf die guten makroökonomischen Daten (solides Wachstum, sinkende Arbeitslosigkeit, vertretbare Schuldenlast, hohe Auslandsinvestitionen) verwiesen und vor der Unberechenbarkeit der PiS in weltanschaulichen und verfassungsrechtlichen Fragen gewarnt.
Lautstarke Kontroversen zu Themen wie Gewaltenteilung, Unabhängigkeit der Medien und Abtreibung gab es in der laufenden Legislaturperiode zuhauf. Doch in der öffentlichen Wahrnehmung stachen, neben der populären harten Haltung in der europäischen Flüchtlingsfrage, die Absenkung des Rentenalters und die Einführung des Kindergelds „500+“ heraus. Deshalb waren in- wie ausländische Beobachter schnell mit der These bei der Hand, die PiS betreibe eine – materiell wie symbolisch – einfach gestrickte Umverteilungspolitik von oben nach unten, um ihre autoritären Maßnahmen in anderen Feldern durch ihren Rückhalt bei sozial Benachteiligten mit niedrigem Einkommen oder schlechter Ausbildung zu rechtfertigen. Dies ist allerdings, wie zunehmend deutlich wird, nur teilweise zutreffend.
Jacek Kucharczyk, Leiter des Instituts für öffentliche Angelegenheiten, hat auf Basis von Umfragen des Meinungsforschungsinstituts CBOS und eigenen Untersuchungen seines Thinktanks festgestellt, dass die PiS nach wie vor unter der Landbevölkerung, praktizierenden Gläubigen und Personen ohne höheren Bildungsabschluss besonders populär ist.1 Doch die neuerdings wachsende Zustimmung für die Regierungspartei beruht eher auf einer Mobilisierung von Nichtwählern wie auch von Besserverdienenden.
Bezeichnend ist, dass beim Ranking der Negativwählerschaft mittlerweile nicht mehr die PiS, sondern die PO in Führung liegt: 42 Prozent geben an, unter gar keinen Umständen für die Bürgerplattform stimmen zu wollen, bei der PiS sind es 37 Prozent. Dies hat nicht nur mit uneingelösten Wahlversprechen und Affären der PO zu tun, sondern auch mit deren genereller (wirtschafts- und) sozialpolitischer Ausrichtung. Vor den anstehenden Kommunal- und Regionalwahlen versucht die PO, dies über eine programmatische Neuausrichtung auf die politische und finanzielle Dezentralisierung des Landes zu kompensieren, bislang ohne Erfolg
Der Kurs der polnischen Nationalkonservativen scheint derart breite Unterstützung überwiegend nicht wegen, sondern trotz ihrer nationalistischen Töne zu finden. Der Führungsstil der PiS – hier ist dem Leiter Hörfunk im ARD-Studio Warschau Jan Pallokat zuzustimmen2 – macht für viele Menschen Politik wieder greif- und erlebbar, vermittelt ganz verschiedenen, eigentlich miteinander konkurrierenden sozialen Gruppen ein Gefühl von Würde – und zugleich ein Aha-Erlebnis: „Seht her, es geht auch anders“, man kann etwas bewirken. Wenn führende Politikerinnen und Politiker der PiS von „nationaler Souveränität“ sprechen, ist dies für sie kein Begriff aus der politischen Mottenkiste, vielmehr geht es ihnen um eine vitale Verbindung aus wirtschaftlicher Modernität, gesellschaftlicher Tradition und individuellem Stolz.
Reparationsforderungen und Kindergeld
Hinter zentralen politischen Parolen wie „Erheben wir uns von den Knien“ oder „Kampf gegen den Impossibilismus“ steht der Wunsch nach einem handlungsfähigen, fürsorglichen und international ernst zu nehmenden Staat, der großen gesellschaftlichen Widerhall findet. Dies bezieht sich insbesondere auf europäische Partner und besonders Deutschland, das die Interessen seines östlichen Nachbarlandes nicht immer ernst zu nehmen scheint.
Die derzeit wieder heiß diskutierten Reparationsforderungen gegenüber Berlin sind in dieser Form sicherlich nicht von Bestand und haben in erster Linie innenpolitische Bedeutung. Dennoch steht außer Frage, dass die PiS-Regierung einige durchaus relevante Fragen aufwirft, die nicht ignoriert werden sollten und die eigentlich auf den Merkzettel einer neuen bundesdeutschen Regierung gehören.
Dies betrifft neben dem langwierigen Streit um Nord Stream II (im größeren Kontext der Energie- und Sicherheitspolitik) die erneute Auseinandersetzung um die EU-Entsenderichtlinie (für Arbeitskräfte) oder das Fehlen einer vertraglichen Basis für die angedrohte Verknüpfung von Flüchtlingsverteilungsquoten und Zahlungen aus den Kohäsionsfonds oder auch die politischen wie ökonomischen Konsequenzen eines Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten. Hinzu kommen Fragen wie die Rückgabe geraubter polnischer Kunstwerke, die sich noch in Deutschland befinden, oder die mindere Qualität von Lebensmittelprodukten in den Ländern Mittelost- und Südosteuropas.
Mit solchen Themen steht die PiS keineswegs allein. So hat der frühere Außenminister Radosław Sikorski mit Bezug auf seine berühmte Berliner Rede von 2011 jüngst erneut betont, dass Polen eine deutsche Führung in Europa bejahe, aber nur unter der Bedingung ständiger Konsultation mit dem polnischen Partner.3
Das konservative Modernitätsversprechen, mit dem die PiS in immer breiteren Kreisen Anklang findet, beschreibt die Tendenz zu einem Staat, dessen wichtigste Institutionen die Demokratie als Schutzschild für jene Interessen begreifen sollen, die eine soziale, kulturelle und politische Mehrheit der Gesellschaft als lebenswichtig empfindet. Wobei diese Mehrheit gegen echte oder mutmaßliche Forderungen von Minderheiten und die Einflussnahme ausländischer Akteure – und deren inländischer „Helfershelfer“ – verteidigt werden muss.
Der Staat soll Diener seiner Bürgerinnen und Bürger sein und nicht ein von außen und innen korrumpierbarer Verwalter mit eigenen Interessen. Deshalb hat er das Versagen oder Fehlverhalten von Berufsständen und Personen, die dem öffentlichen Interesse verpflichtet sind, öffentlichkeitswirksam zu ahnden.
Wer sind neben der gütigen, aber für die Verteidigung ihrer „Schäfchen“ zu allem entschlossenen „Landesmutter“ Beata Szydło die wichtigsten Minister in einem Kabinett, das aus dem Hintergrund vom PiS-Vorsitzenden Jarosław Kaczyński gelenkt wird? Es sind offensichtlich nicht diejenigen, die im In- wie Ausland am stärksten beachtet werden, also Umweltminister Jan Szyszko (wegen der Rodung des geschützten Urwalds in Białowieża), Verteidigungsminister Antoni Macierewicz (wegen des fragwürdigen Umbaus der Armee) oder Außenminister Witold Waszczykowski (vor allem wegen diverser gescheiterter Verhandlungen auf internationalem Parkett).
Die Popularität der PiS im Innern befördern andere Leute: Etwa der „Sheriff“ Zbigniew Ziobro, Justizminister und Generalstaatsanwalt in einer Person, und sein Stellvertreter Patryk Jaki, der die Warschauer Reprivatisierungsaffäre aufklärt; dazu Elżbieta Rafalska, Ministerin für Familie, Arbeit und Sozialpolitik und natürlich der für Finanzen und Entwicklungspolitik zuständige stellvertretende Ministerpräsident Mateusz Morawiecki.
Neben der Bedeutung gesellschaftspolitischer Themen und europapolitischer Kontroversen erscheint es sinnvoll, den wirtschafts- und sozialpolitischen Kurs der PiS genauer unter die Lupe zu nehmen.4 Daher wollen wir im Folgenden den spezifischen Verlauf der polnischen Transformation beleuchten, wichtige Ergebnisse dieses Prozesse vor dem Hintergrund europäischer und globaler Zusammenhänge darstellen und sodann aufzeigen, wie die Reaktionen der polnischen Nationalkonservativen im Einzelnen aussahen.
Gerade im Blick auf die jüngere Geschichte Polens ist festzustellen, dass Deutschlands östlicher Nachbar ein wirtschaftlich aufstrebendes Land ist – und nicht die sprichwörtliche „Ruine“ aus den Wahlkampfslogans der PiS von 2015 („Polska w ruinie“). Aber es gilt auch: Als Ergebnis der im Rahmen der Globalisierung und Europäisierung abgelaufenen ökonomischen und politischen Transformation ist das Leben im Vergleich zu Ländern wie Deutschland viel härter – und der polnische Staat bietet bisher wenig an, was Abhilfe verspricht.
Im Folgenden wird die seit Jahren von Experten, verschiedenen Interessengruppen und aus der breiteren Gesellschaft vernehmbare Kritik an der Wirtschafts- und Sozialpolitik in mehreren Punkten zusammengefasst, die nicht losgelöst voneinander bestehen und sich gegenseitig beeinflussen. Diese Punkte machen in ihrer Gesamtheit den Kern des genuinen Prosperitäts- und Wohlfahrtsversprechens der PiS aus, an dem sich die Regierungspartei wird messen lassen müssen.
Polen hat nach wie vor ein vergleichsweise niedriges Lohnniveau, trotz nicht unerheblicher Steigerungen seit dem EU-Beitritt. Der Durchschnittslohn liegt bei 1000 Euro brutto; zudem ist der Arbeitsmarkt durch einen hohen Anteil von „flexiblen Beschäftigungsverhältnissen“ und von Grau- und Schwarzarbeit gekennzeichnet. Zugleich genießen einige Berufsgruppen, etwa Bergarbeiter und Polizisten, weiterhin staatliche Privilegien, was die strukturell ohnehin unterversorgten Sozialsysteme, besonders die öffentliche Renten- und Gesundheitskasse, über Gebühr belastet.
Bei existenziellen Bedrohungen wie Arbeitslosigkeit oder Invalidität sind die Betroffenen weitgehend auf sich allein gestellt: So beträgt das Arbeitslosengeld, das für maximal 6 bis 12 Monate ausgezahlt wird, unabhängig vom vorherigen Einkommen weniger als 50 Prozent des Mindesteinkommens. Dass die PiS die Anhebung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre scheinbar wider alle ökonomische Vernunft rückgängig gemacht hat, war ein unmissverständliches Signal an die Arbeitnehmer, dass sie deren Anliegen ernst nehmen will.
Verzögerungen und Fehlentwicklungen sind auch bei der Modernisierung der Infrastruktur zu verzeichnen. Die Verkehrsentwicklung wurde wegen fragwürdiger Vergaberichtlinien und falscher Prioritäten verschleppt, der Wohnungsbau beinahe vollständig privaten Investoren überlassen. Damit wurde einer ausufernden Suburbanisierung der großen städtischen Ballungszentren ohne ausreichenden öffentlichen Verkehrsanschluss Vorschub geleistet.
Hier liegt zugleich eine der Ursachen für die im europäischen Vergleich enorm hohen Luftverschmutzungswerte, die in Polen nicht hauptsächlich von der Industrie zu verantworten sind, sondern von den privaten Haushalten, die Kohle von schlechter Qualität oder gar Abfälle verfeuern, und in geringerem Maße auch vom Verkehr.
Durch die allgemeine Arbeitsmigration im Rahmen des europäischen Ost-West-Gefälles ist eine gesellschaftlich und ökonomisch prekäre Situation entstanden: 2,5 Millionen Polinnen und Polen, Tendenz weiterhin steigend, leben ständig im Ausland und verdienen dort nach anfänglicher Beschäftigung im Niedriglohnsektor auf Dauer deutlich mehr als in ihrem Heimatland.
Wie viele von ihnen zurückkommen werden, weiß man nicht; allerdings transferieren sie jedes Jahr rund 4 Milliarden Złoty (etwa 1 Milliarde Euro) nach Hause, womit sie viele polnischer Familien finanziell unterstützen.
Gleichzeitig drängen hunderttausende Ukrainer und andere Osteuropäer auf den polnischen Arbeitsmarkt, auf dem wegen der Auswanderung – und der großen demografischen Lücke – die Fachkräfte fehlen. Dabei handelt es sich angesichts der politischen und wirtschaftlichen Lage in der Ukraine keineswegs nur um eine Übergangssituation.
Darauf deutet auch die Tatsache, dass die Zahl ausländischer Beschäftigter nicht nur in boomenden Zentren wie Warschau, sondern auch in manchen kleineren Städten wie Płock von Jahr zu Jahr deutlich ansteigt (2015 waren es 3300; 2016 bereits 7300). Diese Zahlen sind nicht unbedingt repräsentativ, aber der Trend ist unübersehbar. Zusammengenommen haben in Polen tätige ausländische Arbeitskräfte allein im 1. Halbjahr 2017 etwa 10 Milliarden Złoty (2,5 Milliarden Euro) in ihre Heimatländer transferiert, also rund fünfmal so viel wie die polnische Arbeitsmigranten nach Polen.
Eines der im Wahlkampf am stärksten umkämpften Themen war die ungleiche Chancenverteilung. Dabei geht es sowohl um die wahrgenommene soziale Ungleichheit als auch um das deutliche regionale Gefälle. Im Zentrum der Kritik stehen nicht nur das tatsächliche Ausmaß der Unterschiede etwa hinsichtlich Einkommensniveau oder Bildungserfolg, sondern vor allem auch der Trend zur Verfestigung.
Was die Regionen betrifft, so ist besonders im Nord- und Südosten die Situation mit den neuen Bundesländern in Deutschland vergleichbar: Die Löhne liegen 20 Prozent unter dem Landesdurchschnitt, und der Zugang zu sozialer Infrastruktur in Bereichen wie Gesundheit, Bildung und Kultur ist eingeschränkt. Ein Gefühl des „Abgehängtseins“ macht sich breit.
Die Zustimmungsraten zum Flaggschiff der Sozialpolitik der PiS, dem Kindergeldprogramm „500+“, erklären sich nicht nur aus der wirksamen Reduzierung der absoluten Armut (um 48 Prozent) und der relativen Armut (um 26 Prozent) gerade unter Kindern, wobei Polen in dieser Kategorie in der EU mit über 20 Prozent zuvor zu den Schlusslichtern zählte.
Auch die derzeit noch nicht belastbaren Zahlen, die eine demografische Trendwende andeuten, sind für die öffentliche Meinung nicht ausschlaggebend. Entscheidend ist vielmehr die verbreitete Wahrnehmung, dass der Staat endlich einen ansehnlichen Teil des gestiegenen Volksvermögens an breite gesellschaftliche Schichten transferiert.
Auch der in Polen über Jahre vernachlässigte soziale Wohnungsbau ist ein großes Thema, das die PiS praktisch angeht. Im Gegensatz zu der Kreditförderung, die zu Zeiten der PO de facto jenen Mittelschichten gewährt wurde, die auch ohne staatliche Unterstützung einen Wohnungskauf hätten realisieren können, skizziert die PiS ein Wohnungsbauprogramm mit günstigen Mietwohnungen, die nach 20 Jahren in das Eigentum treuer Mieter übergehen können.
Für besonders großen Unmut sorgten Fälle organisierten Betrugs auf Kosten der Allgemeinheit, deren die staatlichen Organe offensichtlich nicht Herr werden konnten oder wollten. Am bekanntesten wurde die sogenannte Warschauer Reprivatisierungsaffäre. Unter dem Label der „Wiedergutmachung“ kommunistischer Enteignungen gelangten dabei Grundstücke und Immobilien im Wert von vielen Milliarden Złoty in die Hände unberechtigter Personen.
Von diesem Prozedere, in das offenbar auch die amtierende Stadtpräsidentin von Warschau und stellvertretende PO-Vorsitzende Hanna Gronkiewicz-Waltz verstrickt ist, profitierte ein Netzwerk von Angestellten der städtischen Verwaltung, Rechtsanwälten und Unternehmern. Geschädigt waren vor allem die Mieter von Sozialwohnungen, die samt den Immobilien „rückübertragen“ und manchmal auch gleich auf die Straße gesetzt wurden.
Das Unvermögen der PO, diesem Zustand ein Ende zu bereiten, nutzte die PiS für die Schaffung eines verfassungsrechtlich bedenklichen Sondertribunals, dessen Vorsitzender, der stellvertretende Justizminister Patryk Jaki, das „Privatisierungsunrecht“ öffentlichkeitswirksam wieder rückgängig macht.
Zudem hat sich die PiS auch dem Kampf gegen die Mehrwertsteuerkarusselle verschrieben, die im gesamten EU-Bereich ein enormes Problem sind und Steuereinbußen in einer geschätzten Höhe von 170 Milliarden Euro jährlich verursachen. Für Polen werden die Verluste auf bis zu 50 Milliarden Złoty (12,5 Milliarden Euro) geschätzt. 2016 hatte die Europäische Kommission zusammen mit den Mitgliedsländern entsprechende Handlungsvorschläge ausgearbeitet. Der ehemalige PO-Finanzminister Jacek Rostowski wollte schon 2013 entsprechende Maßnahmen ergreifen, scheiterte aber am Druck der Finanz- und Steuerberaterbranche. Die PiS hingegen hat sich davon nicht beeindrucken lassen und hebt immer wieder Betrugskartelle aus.
Echt polnisches Kapital für die Banken
Nach Voraussagen des Finanzministeriums liegen die zusätzlichen Steuereinnahmen im Jahr 2017 höher als die Gesamtkosten des Kindergeldprogramms. Unabhängige Ökonomen wie Ignacy Morawski hingegen schätzen die Gewinne eher auf die Hälfte, immerhin noch 10 Milliarden Złoty (2,5 Milliarden Euro)5 .
Damit wird zwar noch kein ausgeglichener Staatshaushalt erreicht, aber Zahlen sind in diesem Bereich ohnehin nicht alles. Wichtig ist zum einen die demonstrative Handlungsbereitschaft des Staates, zum anderen die Präsentation vermeintlich oder tatsächlich korrupter Angehöriger der Justiz. Auf diese Weise lassen sich manche Leute auch von der Justizreform überzeugen, vor allem was die Kontrolle von Richtern betrifft.
Politik, Wissenschaft und Medien durften sich im vergangenen Jahrzehnt mit einer Vielzahl staatlicher Entwicklungspläne auf verschiedenen Ebenen beschäftigen, ohne dass es tatsächlich zu einschneidenden politischen Veränderungen gekommen wäre. Grundsätzlich wurde dem polnischen Staat bisher von Bürgern wie von Experten strategisches Unvermögen attestiert.
Der nach dem amtierenden Vizepremier, Finanz- und Entwicklungsminister Mateusz Morawiecki benannte wirtschaftliche Entwicklungsplan der PiS mit dem Titel „Strategie für verantwortliche Entwicklung“ (Strategia Odpowiedzialnego Rozwoju) setzt im Kern auf Hochtechnologiestandorte, auf die Stärkung nationaler Champions – vergleichbar dem französischen Beispiel staatlicher Wirtschaftslenkung – und auf eine Renationalisierung von Banken. Kurzum: auf die Generierung „echt polnischen“ finanziellen und sozialen Kapitals. Dieser Plan soll die generelle Richtung einer verantwortlichen, sozial und vor allem regional ausgewogenen Entwicklung des Landes vorgeben – eine Antwort auf die sogenannte Middle Income Trap.
Dieser Begriff bezeichnet eine Wachstumsgrenze, an die erfolgreiche Transformationsländer wie Polen stoßen. Da der Beginn der wirtschaftlichen Transformation in die Hochzeit neoliberaler Wirtschaftstheorien fiel, folgte man seinerzeit unter Anleitung von Vizepremier und Wirtschaftsminister Leszek Balcerowicz einem Modell, das auf eine schnelle Öffnung der planwirtschaftlich organisierten Wirtschaft für überlegenes ausländisches Kapital und entsprechende Unternehmensformen setzte. Tatsächlich führte der „Balcerowicz-Plan“ in den 1990er Jahren zu einem massiven Rückbau der eigenen Industrie des Landes.
Als Folge dieser Schocktherapie ist Polen heute effektiv in den europäischen und globalen Markt integriert, was immer mehr mittelständischen Unternehmen Exportperspektiven eröffnet, etwa in der Fensterbranche, im Transportsektor und bei Finanzdienstleistern, die globale Konzerne betreuen. Allerdings gibt es bisher wenig innovative und wachstumsstarke Kernbereiche, in denen Polen selbst die Entwicklung vorgeben könnte, statt nur verlängerte Werkbank des Westens zu sein.
Vor großen Herausforderungen steht auch der Energiesektor. Der muss zur Stützung des weiteren Wirtschaftswachstums nicht nur einen nachhaltigen und saubereren Mix entwickeln, sondern bedarf auch grundsätzlicher Investitionen in Kapazitäten und in die Leitungsnetze. Andernfalls werden Energieengpässe und steigende Erzeugungspreise die Konkurrenzfähigkeit polnischer Unternehmen beeinträchtigen.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die PiS bis zu einem gewissen Punkt eine deutlich nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik umsetzt, wie sie auch in anderen EU-Ländern – und gerade in Deutschland – zahlreiche Anhänger hat. Der aktuelle Kurs der Nationalkonservativen ist als – gesellschaftlich populäre – Nachholstrategie zu verstehen, die Defizite oder Versäumnisse aus der Transformationsperiode abarbeitet und zugleich entwicklungspolitische Hürden zu beseitigen versucht.
Inflationsgefahr und Rechtsunsicherheit
Die der PiS nach ihrem Wahlsieg prophezeite wirtschaftspolitische Katastrophe ist bisher nicht zu sehen. Die Auslandsinvestitionen sind stabil, das Wirtschaftswachstum von 3,5 bis 4 Prozent ist im europäischen Vergleich ein Spitzenwert. Die Stimmung unter den Unternehmern ist offenbar gut, das Steueraufkommen wächst, auch dank des Kampfs gegen Steuerkarusselle, und entspricht bislang den Ankündigungen der Regierung. Sollten die laufenden Investitionen in Infrastrukturen in näherer Zukunft vollzogen werden, dürfte das die polnische Wirtschaftskraft zusätzlich ankurbeln. Ein weiteres Indiz für den positiven Trend ist die Ankündigung von Wirtschaftsminister Morawiecki, Polen werde ab 2018 endgültig auf seine (ohnehin nie genutzte) Kreditlinie beim IWF verzichten.
Allerdings steht der wahre Reality-Check für den von der PiS eingeschlagenen Kurs noch aus: Bei der Elektromobilität geht es offenbar voran, aber andere Vorhaben des Morawiecki-Plans (Stärkung des Verteidigungssektors, Ausbau von Wasserstraßen und Flughäfen) sind noch kaum angegangen. Eine neue Herausforderung stellt der wegen des Fachkräftemangels spürbar steigende Lohndruck dar; hier liegen die Steigerungsraten deutlich über dem Produktivitätszuwachs.
Daher beginnt bereits die Inflation anzuziehen.6 Weil dies auch die Lebensmittelpreise betrifft, sind die unteren Einkommensschichten besonders betroffen. Zudem ist die Wirtschaftspolitik der PiS mit einem weiteren Risiko belastet: der zunehmenden Rechtsunsicherheit für Investoren sowie der Angst von Beamten und Unternehmern, bei politisch definiertem Fehlverhalten rechtlich belangt zu werden. Diese Unsicherheit hatte schon während der ersten Regierungszeit der PiS (2005 bis 2007) ein passives Verhalten statt der gewünschten Innovationen gefördert.
Auch die Dysfunktionalität des polnischen Bildungs- und Ausbildungssystems kann die PiS mit ihrer ideologisch ausgerichteten Bildungsreform nicht wirklich angehen. Zudem dürfte sich die PiS mit ihrer negativen Einstellung zum Euro weiter in der Peripherie Europas isolieren, während die Integration der Eurozone voranschreitet. Nicht nur die wirtschaftlichen, sondern vor allem die politischen Kosten könnten hier höher ausfallen, als man in Warschau annimmt.7
Was die europäische Dimension betrifft, so ist davon auszugehen, dass sich das politische Makroklima in der EU in den kommenden Jahren eher zugunsten der PiS und ihrer rechtsgaullistischen Vision von Europa verändert: In Richtung eines Europa von Nationalstaaten also, die auf die immer lauter vorgetragenen Forderungen zahlreicher Bürgerinnen und Bürger reagieren, vor den Unbilden der Globalisierung – und den Versuchen, deren Kosten auf andere abzuwälzen – effektiv geschützt zu werden.
In vielen Mitgliedstaaten der EU werden rechtspopulistische Bewegungen mit protektionistischen Positionen immer stärker und zwingen, selbst wenn sie nicht in eine Regierung eintreten, die Parteien des politischen Mainstreams zu Kurskorrekturen. Die Gestaltungsspielräume von Deutschland und Frankreich für einen neuen „föderalen Entwurf“ sind enorm geschrumpft. Daher erscheint es geboten, polnischen Anliegen etwa im Bereich Binnenmarkt (Arbeitnehmerfreizügigkeit, Energiemarkt) entgegenzukommen, damit Warschau im Gegenzug in Fragen wie Klimaschutz oder Flüchtlingspolitik Kompromisse eingeht.
Auch darf man nicht übersehen, dass Kaczyński – im Gegensatz zu anderen Machthabern, mit denen er vorschnell verglichen wird – tatsächlich eine kohärente, offensichtlich rechtsautoritäre Vision von einem funktionierenden Staat hat. Es geht ihm also nicht nur um die Macht als solche. Das darf natürlich nicht darüber hinwegtäuschen, dass für die PiS zu oft der Zweck die Mittel heiligt, womit sie die gesellschaftliche Spaltung Polens verschärft und rechtsstaatliche Kontrollmechanismen außer Kraft setzt.
Eine Opposition, die dem ideologischen Umbau des Staats vor allem im Bereich Justiz und Medien – der nationalistische Töne salonfähig macht, das Anwachsen von Fremdenfeindlichkeit fördert und Minderheitenrechte abbaut – Einhalt gebieten will, muss daher vor allem in der Sozial- und Wirtschaftspolitik substanzielle Angebote machen. Um die Wählerschaft überzeugen zu können, muss die Opposition zeigen, dass soziales Wohlergehen sehr wohl mit einer offenen, pluralen, rechtsstaatlich verfassten Gesellschaft vereinbar ist.
1 Interview, Gazeta Wyborcza, 17. Oktober 2017.
7 Siehe Manuel Sarrazin und Robert Biedron, Frankfurter Rundschau, 6. September 2017.
Irene Hahn-Fuhr ist Politologin und leitet das Büro der Heinrich-Böll-Stiftung in Warschau. Gert Röhrborn ist Politologe und Programmkoordinator bei der Heinrich-Böll-Stiftung in Warschau .
Dieser Text erscheint demnächst in: Andreas Rostek (Hg.), „POLSKA first – über die polnische Krise“, Berlin (edition.foto TAPETA__Flugschrift) 2018.
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