09.11.2017

Als Zohra Bibi sich wehrte

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Als Zohra Bibi sich wehrte

Der harte Alltag von indischen Hausangestellten

von Julien Brygo

Dienstleister vor den Wohntürmen in Noida KRYSTOF KRIZ/ullstein bild-CTK
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In der Abenddämmerung drehen die Affen, Eichhörnchen und Vögel im Park noch mal richtig auf. Zohra Bibi1 sitzt auf einer Bank und erinnert sich an die Ereignisse vor einigen Wochen. Die Ankunft bei ihrer Arbeitgeberin, die Ohrfeigen, die Flucht, das beschlagnahmte Handy und die Nacht, in der sie im Modern Mahagun festsaß, einer Hochhaussiedlung in dem Neu-Delhi-Vorort Noida. Und dann die Kollegen, die am nächsten Morgen mit Stöcken und Steinen bewaffnet anrückten.

Am 12. Juli 2017 betrat die 29-jährige Bibi, eine von 500 Hausangestellten des Modern Mahagun, die Wohnung von Harshu Sethi. „Ich stehe morgens immer um 5.30 Uhr auf, damit ich vor sieben bei meinen Arbeitgebern bin und ihnen das Frühstück machen kann. Ich arbeite in acht Haushalten und verdiene insgesamt 10 000 Rupien (221 Euro). Das mache ich seit 12 Jahren. Mein ältester Sohn, mein Mann und ich haben schon beim Bau des Modern Magahun mitgearbeitet. Als die Bewohner eingezogen waren, wurde ich Hausangestellte. Ich bin eines Morgens einfach hingegangen und habe gefragt.“

Seit dem 13. Juli werden Zohra Bibi und ihr Mann Abdul von der Polizei gesucht. Sie verstecken sich in einer Wohnung weit weg von Noida, die ihre offiziell nicht angemeldete Gewerkschaft angemietet hat: die 7000 Mitglieder starke Organisation Gharelu Kamgar Union (GKU). In der Nacht vom 12. zum 13. Juli hatte Abdul die Polizei angerufen und zu Frau Sethi geschickt. Als seine Frau unauffindbar blieb, alarmierte er am frühen Morgen Kollegen und Nachbarn.

Zohra Bibi sitzt mit verschränkten Armen vor uns, sie trägt eine orangefarbene Kurta, ein Hauch Puder in derselben Farbe liegt auf dem Scheitel ihres kupferfarbenen Haars, „damit man mich für eine Hindu hält, so bleiben mir unnötige Probleme erspart“. Sie ist eine von Zehntausenden, mehrheitlich Muslimen, die aus der Provinz Westbengalen in die großen Städte gekommen sind.

Die Hochhäuser in Noida mit Klimaanlage, schnellem Internet, 50-Meter-Pool, privaten Wachleuten und zahlreichen Angestellten verheißen eine strahlende Zukunft. Die großen Anlagen in den Vorstädten, die wie Pilze aus dem Boden schießen, sind bei der oberen Mittelschicht heiß begehrt und verkörpern den Traum einer indischen global class, zusammengesetzt aus selbstständigen Handwerkern, Beamten, Ärzten oder Anwälten, die vor der Überbevölkerung und den überteuerten Mieten in Neu-Delhi fliehen. Hier wohnen nicht die Superreichen – laut US-Magazin Forbes stand Indien 2016 mit 100 Milliardären an vierter Stelle nach den USA, China und Deutschland. Es sind die Besserverdienenden, die sich nach einem Leben wie im Westen sehnen. „Wohnen in Noida, leben wie in Rom“, werben die Romano-Residenzen; „Ein anderer Ort, eine andere Welt“, schwärmt das Werbeschild der Residenz Jaypee Greens, vor deren Mauern die Hausangestellten in Wellblechhütten hausen.

Der 13. Juli begann wie jeder andere Tag in den stuckverzierten, von Tennisplätzen, schattigen Gärten und Minigolfanlagen umgebenen Mahagun-Hochhäusern, die Manhattan, Venezia oder Eternia heißen. Die Damen wollten ihre Kinder zur Schule bringen oder sich für ihren Yogakurs fertigmachen, während die Ehemänner per Smart­phone bei Ola oder Uber einen Wagen bestellten, um sich ins Büro im Stadtzentrum fahren zu lassen.

Doch dieser Morgen verlief anders als gewohnt: Einige hundert Haushaltshilfen, begleitet von ihren Männern und Nachbarn aus den Elendsvierteln – Bauarbeiter, Rikschafahrer, Gemüseverkäufer –, durchbrachen die Zäune der Anlage, um Zohra Bibi zurückzuholen, weil sie glaubten, sie sei in Gefahr. Für einen kurzen rebellischen Moment traten sie aus ihrer gewohnten Unsichtbarkeit heraus.

Auf die Frage, wie genau der Streit mit ihrer Herrin eskaliert sei, antwortet Zohra Bibi ausweichend. Drei Klagen wurden noch am selben Tag von der Arbeitgeberin, deren Nachbarschaft und der Verwaltung des Modern Mahagun eingereicht: wegen „Aufruhr“, „Sachbeschädigung“ und „versuchtem Mord“. Die vierte, Abduls Anzeige gegen die Arbeitgeberin Sethi wegen „Freiheitsberaubung“, wurde nach zehn Tagen ad acta gelegt.

Der Manager fürchtet um den Ruf des Modern Mahagun

Jetzt ist die Justiz am Zug, und Zohra Bibi muss aufpassen, was sie sagt. An dem Tag, als sie ihre Lohnrückstände, ungefähr 7000 Rupien (91 Euro) abholen wollte, habe Frau Sethi sie geohrfeigt und geschubst. „Dann hat sie gedroht, mich in die Mülltonne zu werfen. Ich hatte eine Bezahlung für das stundenlange Reinigen ihrer Kleidung gefordert, das eigentlich nicht zu meinen Aufgaben gehört. Sie schrie mich an und wollte 17 000 Rupien [220 Euro] zurückhaben, aber ich hatte nichts gestohlen. Sie hat mich mehrmals ins Gesicht geschlagen und wollte mich bei den Sicherheitsleuten anzeigen, dann hätte ich alle meine Arbeitgeber verloren. Ich bin die ganze Nacht im Modern Mahagun geblieben. Am nächsten Morgen haben mich die Sicherheitsleute geholt und rausgebracht.“

Nie zuvor hat die indische Oberschicht einen solchen Aufstand ihrer Hilfskräfte erlebt. Das fühle sich jetzt an wie ein „Knöchelchen, das uns in der Kehle steckt und das wir weder runterschlucken noch ausspucken können“, erklärte später eine Bewohnerin gegenüber einer Journalistin der New York Times.2

Einen Monat nach dem Aufruhr empfängt man uns im Büro des Modern Mahagun. An den Wänden des hellen Zimmers hängen Dutzende Pläne von Großprojekten namens Mahagun Maestro, Mahagun Manor, Mahagun Mansion und so weiter. Der PR-­Mann Manish Pandey schwärmt von seinem Produkt: „Im Einkaufs­zen­trum gibt es 64 Geschäfte. Wir haben eine Grundschule und diverse Freizeitangebote: Tennis, Basketball, Fitness und einen Swimmingpool. Hier leben 2600 Menschen auf 25 Hektar – von der Standardausführung mit Schlafzimmer, Küche und Wohnzimmer bis hin zu Luxusapartments mit 137 Quadratmetern.“

Bei der Frage nach den Hausangestellten, die von früh bis spät, zu unmöglichen Zeiten und ohne Pausenraum von Wohnung zu Wohnung eilen, verzieht der PR-Mann das Gesicht. Dass die Leute keine eigene Dienstbotenwohnung hätten, sei noch lange kein Grund, den Ruf der Anlage zu beschmutzen. „Schreiben Sie nichts Negatives über uns. Erwähnen Sie nicht den Zwischenfall vom letzten Monat. Jetzt ist alles wieder normal. Unsere 120 Sicherheitsleute haben die Situation völlig im Griff.“

Am Tag nach der Auseinandersetzung ließ die örtliche Verwaltung Dutzende Obst- und Gemüsestände vor dem Haupteingang des Modern Mahagun zerstören, weil sich deren bengalische Besitzer angeblich dem Protest angeschlossen hatten. Im benachbarten Elendsviertel, dessen Bewohner den Beamten vor Ort einmalig 10 000 Rupien (130 Euro) und monatlich 700 Rupien (9 Euro) Miete zahlen müssen, wurden 58 Männer verhaftet und misshandelt und ihre Hütten von Polizisten verwüstet.3

Auf die erste Welle der Solidarität folgte die Angst, registriert oder verhaftet zu werden oder seinen Broterwerb zu verlieren. „Wir haben uns an dem Morgen versammelt, um unsere Kollegin zurückzuholen“, erinnert sich Amina Bibi, eine Nachbarin von Zohra. „Wir wussten nicht, was ihr zugestoßen war, und als die Sicherheitsleute sie rausgeschubst haben, sahen wir, wie schwach sie war. Man hatte sie die ganze Nacht drinnen festgehalten und geschlagen.“

Amina Bibis Mann ist einer von 13 Aufrührern, die Ende August immer noch im Gefängnis in Dasna saßen. Ihr Prozess soll noch in diesem Jahr stattfinden.

Bereits 2001 verabschiedete die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) ein erstes Übereinkommen zum Schutz von Hausangestellten,4 deren Zahl zwischen 1995 und 2011 weltweit um 60 Prozent gestiegen ist. Doch eine Ausbildung nach dem Vorbild des rund um die Uhr verfügbaren Dienstmädchens, wie in manchen europäischen Ländern teilweise noch bis Mitte des 20. Jahrhunderts üblich, wäre für die Verhältnisse im heutigen Indien zu teuer.

Die Millionen indischen Hausangestellte, die meist in mehreren Haushalten arbeiten, kommen aus wenig entwickelten Provinzen wie Bihar, Jharkhand, Uttar Pradesh, Assam oder Westbengalen. Hauptgrund für den Exodus ist die Armut in den ländlichen Gebieten. Hinzu kommt, ähnlich wie in Zentralasien, die enorme Belastung, die eine Heirat für die Familie der Braut bedeutet, weil sie nicht nur eine Mitgift aufbringen, sondern auch alle Feierlichkeiten bezahlen muss.

Die Marxistin Savita will nicht auf ihren Koch verzichten

Im dritten Stock eines der 21 Hochhäuser von Modern Mahagun backt Sharad über der offenen Gasflamme Brot. Der weiche Teig knistert, dann bläht er sich zu einem appetitlichen Ballon auf, fällt wieder in sich zusammen und landet im Brotkorb. Sharad ist ganz auf seine Arbeit konzentriert und wirft uns einen misstrauischen Blick zu.

„Er wird nicht mit Ihnen reden“, warnt Savita5 und erklärt, dass die Haus­angestellten aus Cooch Behar und Mal­dah (Zohra Bibis Heimat) eigentlich nicht mehr hier arbeiten dürfen. Nach den Unruhen hat die Verwaltung der Wohnsiedlung eine Liste von 140 Personen aufgestellt, die für immer verbannt wurden. „Die meisten Aufständischen wurden anhand von Videos der Überwachungskameras und Zitaten in den Me­dien identifiziert“, berichtet Savita. „Bei Sharad haben sie eine Ausnahme gemacht, weil wir einen Empfehlungsbrief geschrieben haben, um ihn zu behalten. Sprechen Sie lieber nicht mit ihm.“

Savita ist Professorin und sagt von sich, sie sei Marxistin, ebenso wie ihr Lebensgefährte Anshuman, der englische Literatur unterrichtet. Das Paar empört sich weniger über das Ausmaß der Ausbeutung, das durch den Aufruhr ans Licht kam, als vielmehr über die vielen Anschuldigungen gegen die Muslimin Zohra Bibi und ihre Kollegen in Me­dien, Foren und sozialen Netzwerken. „Sie sind keine Bangladescherinnen, sondern Inderinnen, sie sind wahlberechtigt und haben eine Arbeitserlaubnis. Das sind keine Illegalen, und sie sind auch nicht gekommen, um hier Dschihad zu machen.“

Nachdem sie Friedrich Engels, ­Pierre Bourdieu und François Mitterrand zitiert haben, bitten sie uns zu Tisch, gemeinsam mit Alok Kumar, dem GKU-Gewerkschafter, der uns miteinander bekannt gemacht hat. Sharad verschwindet. „Die Angestellten sind da, weil sie gebraucht werden, ungefähr so wie die Klimaanlage“, sagt Anshuman. „Wir können uns ein Leben ohne sie kaum noch vorstellen: das Geschirr nicht gespült, die Fußböden nicht geputzt – undenkbar.“

Kollektive Proteste von Hausangestellten wie nach der Auseinandersetzung vom 13. Juli sind in Indien wie anderswo auf der Welt ausgesprochen selten. Seitdem müssen die wohlhabenden Klassen in Indien über das Verhältnis zu ihren Hausangestellten nachdenken. An die Stelle der fast schon zur Familie gehörenden Dienerin ist längst die anonyme Arbeitskraft getreten, die man nur ein paar Stunden am Tag beschäftigt. Es geht nur noch darum, die unangenehmen Pflichten los zu sein und Zeit zu sparen.

Anshuman erklärt es so: „In den großen Städten gibt es ein Überangebot an Hausangestellten vom Land. Das ist ein Markt, auf dem Arbeitskräfte von Tag zu Tag ersetzbar sind. Es gibt also keine Bindung mehr. Früher hatte man seine ‚Maids‘ rund um die Uhr, wuchs mit ihnen auf und lebte mit ihnen. Heute heißt es für die Angestellten, die nur ein paar Stunden am Tag in den Haushalten sind, hire and fire. Wer eine neue braucht, muss nur einmal aus dem Fenster rufen. Das gehört zum Alltag der Mittelschicht, zu der Feudalkultur, in die wir hineingewachsen sind.“

Meistens läuft es allerdings nicht über einen Ruf aus dem Fenster, sondern über WhatsApp-Gruppen, die wie eine Art Intranet für die 2600 Bewohner funktionieren – ein Forum, auf dem Informationen und die Namen von fleißigen oder unzuverlässigen Angestellten ausgetauscht werden.

Savita und Anshuman verdienen etwa 200 000 Rupien im Monat (2500 Euro, fast 20-mal so viel wie das mittlere Einkommen). Ihrer Reinigungskraft zahlen sie 3500 Rupien (45 Euro) für morgens und abends jeweils zwei bis drei Stunden Putzen und Geschirrspülen (es gibt keine Spülmaschine). Der Koch bekommt 4000 Rupien (52 Euro) dafür, dass er jeden Abend Essen zubereitet und es in der Küche bereitstellt, bevor er geht. „Dank unserer Angestellten können wir uns ganz auf unsere Arbeit und unser Familienleben kon­zen­trie­ren. Aber sie können von dem Lohn nicht einmal den Bus bezahlen!“ Läge es nicht in ihrer Hand, mehr zu bezahlen? Sie betonen, dass der geringe Lohn schon das Fünffache des Durchschnittslohns in Westbengalen sei – auch ein Argument, um sich nicht allzu großzügig zu zeigen.

Ob Hausarbeit, Schreibarbeiten oder IT-Dienstleistungen – indische Arbeitskräfte sind daran gewöhnt, ihr Einkommen individuell auszuhandeln. In dem 1,3-Milliarden-Einwohner-Land sind fast 80 Prozent des Arbeitsmarkts informell. Die Hausangestellten sind das Öl im Getriebe der Gesellschaft. Sie kommen oft aus niederen Kasten, genießen keinerlei gesetzlichen Schutz und keine besonderen Rechte. Nach einer Studie des Indischen Amts für Statistik (NSSO) machen in Indien 4,5 Millionen Menschen anderen den Haushalt, 3 Millionen davon sind Frauen. Gewerkschaften und Menschenrechtsorganisationen sprechen hingegen von 20 Millionen – womit Indien weltweit an der Spitze läge.

Nach Angaben des Ministeriums für Frauen und Kinder von 2014 haben damals 3511 weibliche Hausangestellte ihre Arbeitgeber wegen körperlicher Gewalt angezeigt. Die Dunkelziffer der misshandelten Frauen, die sich nicht trauen, zur Polizei zu gehen, dürfte weitaus höher liegen, mit zehntausenden, wenn nicht hunderttausenden Betroffenen.

Am 10. März 2017 soll in Gurgaon, einer Satellitenstadt wie Noida, die 17-jährige Ranjita Brahma von ihrer Arbeitgeberin Sonal Mehta vom Bal­kon im elften Stock eines Carlton-Hochhauses gestoßen worden sein. Mehta ist mit dem Vizedirektor der indischen Tochter der Bank of America, Merrill Lynch, verheiratet. Trotz medizinischer Gutachten, in denen von zahlreichen Gesichtsverletzungen die Rede ist, hat die Polizei den Tod des Mädchens als Selbstmord eingestuft.6 Für einen möglichen Prozess wegen Anstiftung zum Selbstmord wurde noch kein Termin festgesetzt.

„So was kommt in den Wohnanlagen oft vor. Die Opfer sind immer Migrantinnen, die von der Polizei und von ihren Arbeitgebern gepiesackt werden“, schimpft Anshuman, der in der Bewegung vom 13. Juli nichts Ideologisches erkennen kann. „Das war eine Reaktion auf die Boshaftigkeit mancher Arbeitgeberinnen, sonst nichts.“

Der Gewerkschafter Kumar ist anderer Meinung. „Der Aufstand war durchaus ideologisch motiviert, weil sich die Frauen organisiert und verbündet haben, untereinander, mit den Köchen, aber auch mit Arbeitgeberinnen, um für höhere Löhne und vor allem für ein Ende von Repression und Gewalt zu kämpfen. Soziale Unruhen beginnen immer spontan, ohne klare Losung, außer der, die eigene Haut zu retten. Diesmal haben sich die Frauen aber zusammengetan und für ihre Rechte gekämpft. Nicht für ihre gesetzlichen Rechte, die haben sie sowieso nicht, aber für ihre Rechte als Menschen und Arbeitnehmerinnen. Wir Gewerkschafter sind nach den Zusammenstößen dazugekommen und haben versucht, ihrer Bewegung Struktur zu geben, sie mit anderen Anliegen zu verknüpfen und vor allem die besonders Gefährdeten zu schützen, wie Zohra Bibi, ihren Mann und die Frauen der 13 Verhafteten.“

Hindus beschuldigen Muslime

In einem Gemeinschaftsraum haben sich einige Arbeitgeber der Hausangestellten versammelt, die bereit sind, unsere Fragen zu beantworten. Anoop Mehrotra, leitender Angestellter in einer Telefongesellschaft, ist überzeugt, dass das Ganze ein kriminelles Komplott war und nichts mit Klassenkampf zu tun hatte. „Da steckt ein Mastermind dahinter, der die Horde zusammengetrieben und angestachelt hat. Die Horde wollte weder diskutieren noch die Wahrheit erfahren, sie wollte die Familie töten. So weit ist es schon gekommen!“ 2008 war in Noida der indische Generaldirektor des italienischen Autozulieferers MNC Grazziano Trasmissioni, Lalit Kishore Chadhary, bei einer Revolte von 200 Beschäftigten, denen man ihre Entlassung verkündet hatte, mit Hammerschlägen getötet worden.

Jaghit Singh, Krankenhauschef in Delhi, gibt zu bedenken: „Warum sollten Sie einer Angestellten erlauben, in Ihre Wohnung zu kommen, Ihnen das Frühstück zu servieren, sauber zu machen und am Abend wiederzukommen, um noch mal aufzuräumen, wenn das Klima vergiftet ist? Wenn ich irgendwo arbeite, kann ich es mir nicht leisten, meinen Arbeitgeber zu hassen. Dann sollte ich besser kündigen. Dieser kleine Zwischenfall ist mit Absicht zum Flächenbrand aufgeblasen worden.“

Die Arbeitgeber haben sowohl von der Polizei als auch von den Behörden viel Unterstützung erhalten. Am 16. Juli stattete ihnen Mahesh Sharma einen Besuch ab – der Kulturminister der hindunationalistischen Regierung Modi schwingt gern Reden gegen Muslime, Röcke und den Westen.7 Er versprach den Bewohnern, die Unruhestifter zu bestrafen: „Es besteht kein Zweifel, dass Familie Sethi unschuldig ist. Da haben sich ein paar Leute zusammengetan, um zu verletzen und zu töten. Ich werde persönlich dafür sorgen, dass sie in den nächsten Jahren auf keinen Fall gegen Kaution freigelassen werden. Dafür werden wir im Namen der Familie Sethi kämpfen.“8

Die Bewohner von Modern Mahagun haben sich bereits umgestellt. „Wir haben zusammen Spülmaschinen gekauft und Reinigungsfirmen beauftragt. In Zukunft werden Leute für uns arbeiten, mit denen wir keinerlei Beziehung haben. Wir werden nicht wissen, wie sie heißen, und ihnen keine Tasse Tee anbieten. Wie in den USA“, bedauert Sing.

Frau Sethi, die Arbeitgeberin von Zohra Bibi, hat bereits eine Leiharbeitsfirma beauftragt. Der Grundschullehrerin gehen die Bilder von den zerbrochenen Fenstern, den umgeworfenen Küchenmöbeln und den wütenden Menschen auf ihrer Terrasse nicht mehr aus dem Kopf. „Ich versuche, meinen Schülerinnen und Schülern bestimmte Werte zu vermitteln, ein moralisches Verhalten und Freude am Leben. Aber seit diesem Zwischenfall hat mein positives Menschenbild einen Knacks bekommen.“

Der Konflikt im Modern Mahagun führte nicht nur zu einer neuen Polarisierung und der Unterstellung, dass der Aufstand der aus Bangladesch stammenden Hausangestellten zum Teil dschihadistisch motiviert gewesen sei. Er wirkte sich auch auf andere große Wohnanlagen in Indien aus. Am 22. Juli organisierten in Chennai (früher Madras) etwa 50 Angestellte eine Solidaritätskundgebung für Zohra Bibi. Und am 30. Juli 2017 wurden die Bewohner einer beliebten Wohnanlage in Gurgaon von ihren Hausangestellten unsanft geweckt. Sie forderten höhere Löhne.9

In einem anderen Komplex in Noi­da hat die Verwaltung den Bewohnern ein Blatt mit zehn Ratschlägen geschickt, darunter: „Verschaffen Sie sich Einblick in die Strafakten Ihrer Angestellten“; „Treffen Sie Sicherheitsvorkehrungen, bevor Sie jemanden einstellen“; „Überwachungskameras in den Treppenhäusern und Fluren Ihres Wohnblocks können die Aktivitäten Ihres Personals in Ihrer Abwesenheit aufzeichnen“. Womöglich sind hohe Mauern, private Sicherheitsdienste und Dauerüberwachung der Preis, den Indiens Mittel- und Oberschicht für die informelle Servicegesellschaft bezahlen muss, die um sie herum entstanden ist.

1 In Westbengalen sind die Namen verheirateter Frauen mit dem Zusatz „Bibi“ versehen.

2 Siehe Suhasini Raj und Ellen Barry, „At a luxury complex in India, the maids and the madams go to war“, The New York Times, 15. Juli 2017.

3 Siehe Maya John, Sunita Toppo und Manju Mochhary, „Noida’s domestic workers’ take on the ‚madams‘. A report from ground zero“, Kafila, 2. August 2017, kafila.online.

4 „Übereinkommen über menschenwürdige Arbeit für Hausangestellte“, angenommen am 16. Juni 2011, in Kraft getreten am 5. September 2013. Von den 180 Mitgliedsländern hatten es bis zum 1. September 2017 nur 24 ratifiziert (weder Indien noch Frankreich, wohl aber Deutschland).

5 Namen geändert.

6  Siehe Rashpal Singh, „Protest at police station against death of a domestic help from Assam“, Hindustan Times, Neu-Delhi, 12. März 2017.

7 Siehe „Le ministre qui voulait purifier la société in­dienne“, Courrier international, Paris, 18. Oktober 2015.

8 Pathikrit Sanyal, „By siding with flat owners, Union minister Mahesh Sharma has shown ugly class bias“, Daily O, 18. August 2017, www.dailyo.in.

9 Siehe Aakash Joshi, „An immoral subsidy“, The In­dian Express, Noida, 6. August 2017.

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Julien Brygo ist Journalist und mit Olivier Cyran Autor von „Boulots de merde! Du cireur au trader. Enquête sur l’utilité et la nuisance sociales des métiers“, Paris (La Découverte) 2016.

Le Monde diplomatique vom 09.11.2017, von Julien Brygo