12.10.2017

Die Genossen Künstler

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Die Genossen Künstler

von Evelyne Pieiller

Moskau 1924: Tamisi Naito, Boris Pasternak, Sergei Eisenstein, Olga Tretjakowa, Lilja Brik, ­Wladimir Majakowski, Arseni Wosnessenski und Naitos Übersetzer Unbekannter Fotograf/akg
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George Grosz (Georg Groß) und John Heartfield (Helmut Herzfeld), aktive Mitglieder des Berliner „Clubs Dada“, verkündeten 1919: „Die Titulierung ‚Künstler‘ ist eine Beleidigung“, und: „Die Bezeichnung ‚Kunst‘ ist eine Annullierung der menschlichen Gleichwertigkeit.“1 Beide Künstler waren noch keine 30 Jahre alt, sie hatten den Krieg kennen und hassen gelernt und aus Abscheu vor dem Nationalismus ihre Namen amerikanisiert. Sie waren der jungen Kommunistischen Partei Deutschlands beigetreten und hatten miterlebt, wie der Spartakusaufstand blutig niedergeschlagen wurde. Grosz und Heartfield unterstützten die Berliner „13 Punkte des Dadaismus“, auch den Punkt, der „die internationale revolutionäre Vereinigung aller schöpferischen und geistigen Menschen der ganzen Welt auf dem Boden des radikalen Kommunismus“ fordert.2

Im Zuge der Oktoberrevolution und der Welle von Aufständen, die Europa am Ende des Ersten Weltkriegs erschütterten, entwickelten Avantgardekünstler Ästhetiken, die zu ihrem politischen Engagement passten. Überall stellte sich die Frage nach der Rolle der Kunst und der Künstler in einem neu zu errichtenden Gemeinwesen. Der Bruch mit der „bürgerlichen“ Kunst – durch Kubismus, Futurismus, Abstraktion, Symbolismus und so weiter – hatte schon vor dem Krieg stattgefunden, nun galt es, den Inhalt zu definieren. Wie und womit sollten sich Künstler an der Revolution beteiligen und mit ihren besonderen Fähigkeiten zu einer Verschönerung des Alltags beitragen?

Die erste Antwort lautete, die Kunst müsse sich in den Dienst der Sache stellen: Propaganda also. An Fabrikwänden, in Straßenbahnen, an öffentlichen Orten tauchten Plakate mit Losungen, Erklärungen, Aufrufen auf. Der Dichter und Dramatiker Wladimir Majakowski arbeitete an den „Rosta-Fenstern“ mit, knapp drei mal drei Meter großen Plakaten mit grafisch gestalteten Nachrichten und Karikaturen. Majakowski schrieb begeistert über den wirtschaftlichen Aufbau oder den Kampf gegen die Bürokratie, verlieh mit seinen Slogans einer Hygienekampagne Glanz und rühmte auch einmal sowjetische Euter.

1923 gründete er LEF (Linke Front der Künste), einen „freien Zusammenschluss aller Werktätigen der Künste“. Die LEFisten wollten figurative Gebrauchskunst wie Plakat, Illustra­tion, Werbung, Foto- und Filmmontage durchsetzen, die der Mobilisierung der Massen dienen sollten. Der Bildhauer Alexander Rodschenko, der Maler Marc Chagall und der Theaterregisseur Wsewolod Meyerhold, deren Einfluss weit über die Grenzen der Sowjetunion hinausreichte, gestalteten große Bürgerfeste, um bestimmte Ereignisse zu würdigen und zu interpretieren.

Neben ihrem Beitrag zur Mobilisierung sollten die Künstler dem Volk kunstgeschichtliches Wissen, die Codes und die Praxis der Kunst vermitteln. Schriftsteller erteilten Unterricht oder gaben Klassiker in Volksausgaben heraus, Bildhauer unterrichteten in den Wchutemas, den Höheren Künstlerisch-Technischen Werkstätten, die ab 1920 entstanden.

Die fünfjährigen Kurse, deren Lehrplan auf Vorschlägen des Pioniers der Abstraktion Wassily Kandinsky beruhte, sollten den künstlerischen und technischen Bedürfnissen des Landes entsprechen und seiner Zukunftshoffnung Ausdruck verleihen. Ebenso arbeiteten meist aus Amateuren bestehende Agitprop-Theatergruppen eng mit Meyerhold und Majakowski oder mit dem jungen Sergei Eisenstein zusammen.

Erstaunlicherweise litt die künstlerische Arbeit nicht darunter, sich in den Dienst einer Sache zu stellen. Die Avantgarde fand Mittel, an der gesellschaftlichen Umgestaltung mitzuwirken, ohne sich zu verleugnen. Vielleicht fand sie sogar ihre Erfüllung darin. Aus der Verbindung von experimenteller Kunst und Volkskunst gingen kühne, naiv stilisierte und grafisch innovative Propagandaplakate hervor. Andererseits förderte der Vorrang des Kollektivs und die Notwendigkeit, die revolutionären Inhalte erfahrbar zu machen, offenbar die Entwicklung ästhetischer Neuerungen. Denken wir nur an die Rasanz des damaligen Kinos, an die Montagetechnik von Eisenstein bis Pudowkin, an die Freiheit des Theaters, das alle Konventionen ablehnte, seinen Tempel verließ und populäre Formen wie Varieté und Zirkus einbezog.

Zwischen Instrument und Experiment

Alexander Rodschenko, Wladimir Tatlin und Kasimir Malewitsch, die in den Wchutemas unterrichteten, waren die wichtigsten Vertreter des Konstruktivismus. Diese mit dem Kubismus und dem Futurismus verwandte Bewegung entwickelte eine nichtfigurative Kunst mit geometrischen Elementen. Es gab widersprüchliche Strömungen unter den Konstruktivisten: Eine plädierte für funktionale Kunst, die sich in Architektur, Design und Typografie entfaltete; eine andere bevorzugte die reine Form.

In den Kunstschulen erhielt das Studium von Material und Techniken für die Herstellung von Gebrauchsgegenständen Vorrang, die Wchutemas reagierten nun vor allem auf Anfragen aus Fabriken. Wie weit sollte man gehen? Einige Konstruktivisten hießen die Entwicklung gut und forderten das Ende einer vom Alltag losgelösten Kunst; andere, wie Kandinsky, gingen ins Exil. Die Frage war: Welchen Platz hat das Ich, welches Recht der weniger „konstruktive“ Ausdruck? Soll der Künstler nur noch Sprecher des Volkes sein und von ihm verstanden werden?

„So also ist das Land. / Zum Teufel auch – was hab ich ausgebrüllt, ich wäre volksverbunden? / Die Poesie wird hier nicht mehr gebraucht. / Ich selbst bin nicht gefragt und abgefunden.“ Der Dichter dieser Verse, Sergei Jessenin, starb 1925 unter unklaren Umständen, Mord oder Selbstmord. Majakowski nahm sich 1930 das Leben. Er, der die Revolution unbeugsam begleitet hatte, obwohl er nie der Partei beitrat, der erlebt hatte, wie seine Werke auf Ablehnung stießen, aber dennoch weiterarbeitete: Er wusste, dass die heroische Epoche, an der er teilgehabt hatte, vorbei war. „Genosse Regierung“, wie er in seinem letzten Brief schrieb, war nicht mehr geneigt, die Fantasie und die Freiheit der Genossen Künstler gutzuheißen.

Die Avantgarde in Deutschland setzte sich während der ersten Jahre der Weimarer Republik auf ihre Weise mit der Frage von Nützlichkeit und Wirksamkeit der Kunst im Klassenkampf auseinander. Der Regisseur Erwin Piscator, anfangs Dadaist und ab 1920 KP-Mitglied, hatte Erfahrung im Agitprop und entwickelte in Berlin erst an der Volksbühne und später an seinen eigenen Bühnen ein revolutionäres episches Theater, dessen genialer Erbe Bertolt Brecht wurde. Piscators innovative Bühnentechnik erlaubte es zum Beispiel, einander gegenüberstehende Spielräume zu öffnen, die geeignet waren, Klassenkonflikte darzustellen. Gleichzeitig präsentierten Maler wie George Grosz und Otto Dix eine Ästhetik der Hässlichkeit, der Übertreibung und des Grotesken. Sie wollten „das Gesicht unserer Zeit spiegelnd [. . .] sich einordnen in das Heer der Unterdrückten“.4 Heartfield nutzte das damals völlig neue Mittel der Fotomontage. All diese Formen sollten die herrschende Macht untergraben.

Das 1919 von Walter Gropius gegründete Bauhaus folgte eher der Tradition der Wchutemas: Als Lehrstätte bot es der Avantgarde Möglichkeiten, konkrete Elemente einer besseren Gesellschaft zu entwickeln und herzustellen. Durch die Synthese aus Kunst, Kunsthandwerk und Industrie entstand ein funktionaler Stil in Wohnraumgestaltung und Architektur. Während sich die Avantgarde professionalisierte, erfuhr die Bauhausästhetik internationale Anerkennung – ihre politische Ausrichtung ging dabei jedoch zunehmend verloren.

Die Künstler, die in jenen Jahren den Schritt von der Revolte zur Revolution gingen, hatten den Mut, an zwei Fronten zu kämpfen: für die Befreiung der Kunst und die Überwindung der Grenzen des Individuums auf der einen und für die Befreiung der Unterdrückten auf der anderen Seite. Ihre Widersprüchlichkeit und die Formen, die sie erfanden, beschäftigen uns noch heute.

1 George Grosz und John Heartfield, „Der Kunstlump“, www.dada-companion.com/heartfield_docs/hea_kunstlump_1920.php.

2 „Was ist der Dadaismus und was will er?“, in: Richard Huelsenbeck (Hg.), „En Avant Dada. Eine Geschichte des Dadaismus“, Hamburg (Edition Nautilus) 1984.

3 Strophe des Gedichts „Sowjetische Rus“ von Sergej Jessenin, übersetzt von Rainer Kirsch, www.planetlyrik.de/sergej-jessenin-gedichte/2011/11/.

4 George Grosz und Wieland Herzfelde, „Die Kunst ist in Gefahr“, Berlin (Malik) 1925, S. 32.

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Le Monde diplomatique vom 12.10.2017, von Evelyne Pieiller