Der Internationalist
von Serge Halimi
UdSSR – Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken. Anfangs stand der Name nicht für ein Territorium, sondern eine Idee: die Weltrevolution, ausgehend von dem erfolgreichen Aufstand in Russland. Links oben auf die riesige rote Fahne kamen Hammer und Sichel als Symbole des neuen Staats, dessen erste Nationalhymne die Internationale wurde.
Der Gründer der UdSSR war ebenfalls Internationalist. Lenin verbrachte den größten Teil seines Lebens als Berufsrevolutionär im Exil (in München, London, Genf, Paris, Krakau, Zürich, Helsinki). Und er war an fast allen wichtigen Debatten der Arbeiterbewegung beteiligt. Auf dem Höhepunkt des Ersten Weltkriegs fuhr er in einem plombierten Zug durch deutsches Gebiet nach Russland, wo der Zar entmachtet und die Revolution im Gange war. Auf den Straßen und Versammlungen wurden die Internationale und die Marseillaise gesungen, das Lied der Französischen Revolution für die Genossen. Für Lenin war sie ein zentraler historischer Bezugspunkt. Er wollte es so gut machen wie die Jakobiner und länger durchhalten als die Pariser Kommune von 1870. Und er erteilte dem Nationalismus eine klare Absage.
Der Parteiführer der Bolschewiki erinnerte 1920 daran, dass nachdem 1914 fast alle europäischen Sozialisten und Gewerkschafter mit den Monarchisten ihren „Burgfrieden“ (Union sacrée) geschlossen hatten, seine Partei „sich nicht fürchtete, die Niederlage der Zarenmonarchie zu proklamieren und die ,Vaterlandsverteidigung‘ im Krieg zwischen zwei imperialistischen Räubern zu brandmarken“. Unmittelbar nach ihrem Staatsstreich vom 25. Oktober 1917 schlugen die Bolschewiki „allen Völkern den Frieden“ vor, „um die Revolution in Deutschland und in anderen Ländern zu beschleunigen“.1
Im Grunde war es in hohem Maße paradox, dass die Partei, die sich die Diktatur des Proletariats auf die Fahne geschrieben hatte, die Macht in einem Land an sich reißen konnte, in dem weniger als 3 Prozent der Bevölkerung der Arbeiterklasse angehörten. Möglich wurde dies nur, weil nach dem Ende der Romanow-Dynastie in Russland ein Machtvakuum entstanden war.2
Allerdings erwarteten die Bolschewiki ohnehin Hilfe und Unterstützung aus den fortgeschritteneren Ländern mit einer mächtigeren, politisch gebildeten Arbeiterklasse. Eine internationale Revolution, glaubten sie damals, sei nur noch eine Frage von Wochen oder höchstens Monaten. In Deutschland, Frankreich, Italien und Großbritannien wuchs die Wut, es kam immer wieder zu Meutereien. Im Oktober 1917 wurde Lenin ungeduldig. Der russische Aufstand schien ihm überfällig, die Ereignisse in den anderen Ländern waren für ihn „unübersehbare Anzeichen des großen Umschwungs, Anzeichen des Vorabends der Revolution im Weltmaßstab“.3 Die Bolschewiki müssten nur die erste Salve abfeuern und dann auf die Verstärkung warten.
Doch in Berlin, München und Budapest wurde die Verstärkung niedergemacht. Während die neuen russischen Machthaber „allen kriegführenden Völkern“ einen „sofortigen Frieden ohne Annexionen und Kontributionen“4 vorschlugen, setzte das Deutsche Kaiserreich seine Offensive fort, wohl wissend, dass die russischen Soldaten sich nicht mehr massakrieren lassen wollten. Um das Überleben des jungen Staats zu sichern, unterzeichneten seine Repräsentanten den Friedensvertrag von Brest-Litowsk, obwohl sie dadurch einen Teil ihres Territoriums verloren. Durch dieses Eingeständnis wollten die Bolschewiki Zeit gewinnen, denn sie hofften nach wie vor auf eine europaweite Revolution.
In Wirklichkeit war jedoch bereits die Konterrevolution auf dem Vormarsch. Lenins Plan eines Friedens der „arbeitenden Massen gegen alle Kapitalisten“5 ging nicht auf. Stattdessen versuchten zehn Expeditionskorps (aus den USA, Kanada, Frankreich, Großbritannien, Serbien, Finnland, Rumänien, der Türkei, Griechenland und Japan) gemeinsam mit den Streitkräften der „Weißen“ Armee, die alte Ordnung in Russland wiederherzustellen.
1921 gingen die revolutionären Kräfte siegreich aus diesem neuen Krieg hervor. Doch das Land war verwüstet und international isoliert. Durch die Oktoberrevolution hatte das Kapital die Kontrolle über das größte Staatsterritorium der Welt verloren. Und damit nicht genug: „Der Kommunist“ – zerzaust, bedrohlich, kosmopolitisch, jüdisch, mit dem Messer zwischen den Zähnen – war keine speziell russische Erscheinung, die man notfalls mithilfe eines Cordon sanitaire im Schach halten konnte. Er war zugleich der innere Feind, der treue Fußsoldat der Internationale, deren Hauptstadt Moskau war, die drohende Gefahr einer sozialen Revolution, hier, jetzt, anderswo.
Eine Gefahr? Und eine Hoffnung, trotz der Blutspur, die den Weg des Kommunismus säumt. 1934 kritisierte die Philosophin und Arbeiteraktivistin Simone Weil die „Schändung [. . .], die dem Andenken von Marx durch den Kult zugefügt wird, den ihm die Unterdrücker des modernen Russland widmen“.
Nur drei Jahre später, auf dem Höhepunkt der stalinistischen Säuberungen, denen zwei Drittel der bolschewistischen Kader zum Opfer fielen, schrieb dieselbe Simone Weil: „Der sowjetrussische Mythos ist insofern subversiv, als er dem Fabrikarbeiter, der von seinem Vorgesetzten nach Hause geschickt wird, das Gefühl vermittelt, die Rote Armee und Magnitogorsk stünden trotz allem hinter ihm. So kann er seinen Stolz behalten. Der Mythos von der historischen Zwangsläufigkeit der Revolution erfüllt, wenn auch etwas abstrakter, die gleiche Funktion. Es ist wertvoll, die Geschichte auf seiner Seite zu wissen, wenn man bettelarm und allein ist.“6
Das gilt auch heute noch. Das kommunistische Gesellschaftssystem, das sich über ein knappes Drittel des Planeten erstreckte und die wichtigste politische Bewegung des 20. Jahrhunderts war, ist zwar gescheitert. Doch selbst in seiner am meisten pervertierten Form brachte er fast überall die Abschaffung kapitalistischen Eigentums, den Ausbau des Bildungssektors, kostenlose Gesundheitsversorgung, Frauenrechte sowie diplomatische, militärische, finanzielle und technische Unterstützung der meisten antikolonialen Kämpfe und der unabhängigen Staaten, die aus diesen Kämpfen hervorgingen. Und natürlich eine „beispiellose politische Förderung der Unterschicht“, die Arbeiter und Bauern in Machtpositionen beförderte, „die zuvor den Vertretern des Bürgertums vorbehalten gewesen waren“.7
Dank ihrer internationalen Verbundenheit konnten die Kommunisten sprachliche, religiöse, ethnische und territoriale Grenzen überwinden, wie es heutzutage die sozialen Netzwerke leisten. Die gleiche Hoffnung, die Simone Weils Fabrikarbeiter empfand, wenn er im radikalen, laizistischen Frankreich der 1930er Jahre an Magnitogorsk dachte, gab es im protestantischen Deutschland, im konfuzianischen China und im muslimischen Indonesien; unter kubanischen Tabakpflückern wie unter australischen Schafscherern.8 Welche politische Bewegung kann das heute von sich behaupten?
In einer Erzählung aus dem Band „El uzbeko mudo“ schreibt Luis Sepúlveda von seiner Solidarität mit den Vietnamesen. Die Geschichte spielt 1965; der Autor war damals politischer Sekretär in der chilenischen KP-Zelle „Maurice Thorez“, und sein vietnamesischer Kamerad leitete die Zelle „Nguyen Van Troi“. Die beiden diskutierten über Trotzkis „Permanente Revolution“ und Lenins „Staat und Revolution“, sie umwarben junge Frauen, indem sie ihnen empfahlen, Nikolai Ostrowskis „Wie der Stahl gehärtet wurde“ zu lesen, und sahen sowjetische Filme. Internationalistische Geschichten wie diese gibt es zuhauf.
Und heute? Der Zerfall der Sowjetunion beschleunigte den Erfolg des anderen, entgegengesetzten Universalismus: den der besitzenden Klassen. Darüber schrieb im Jahr 2000 Perry Anderson in einem viel beachteten Text: „Zum ersten Mal seit der Reformation gibt es in der westlichen Ideen-Welt keine echten Widersprüche, also keine rivalisierenden Weltansichten mehr; und auch auf globaler Ebene fehlen sie fast völlig – die weitgehend wirkungslosen und archaischen religiösen Doktrinen einmal ausgenommen. Der Neoliberalismus, verstanden als eine Reihe von Grundsätzen, herrscht uneingeschränkt über die Welt.“9
Der Wirtschaftswissenschaftler Branko Milanović hat gezeigt, wie die Zunahme des globalen Reichtums seit 1988 die Ungleichheit verstärkt hat. Dass es nach 1914 genau andersherum war, ist für Milanović kein Zufall: „Der durch die Russische Revolution, den Sozialismus und den Syndikalismus erzeugte Druck und die Ernüchterung der Unterschichten, die den wohlhabenden Klassen die Schuld am Krieg gaben, haben diese Umverteilungsdynamik verstärkt.“10
Ein progressives Steuersystem, Arbeitsgesetze, Achtstundentag, eine Sozialversicherung und die Weigerung, den Besitzenden die Kontrolle über den Staat zu überlassen: All diese Errungenschaften haben für bestimmte Teile der Gesellschaft den Mythos Oktober nicht gebrochen, anderen Teilen dagegen nicht die Angst vor der Revolution genommen. Sobald Letztere abgewendet war, entwickelte die „beglückende Globalisierung“ immer neue Facetten: Sozialabbau, militärische Interventionen des Westens, Privatisierung öffentlicher Leistungen, Denunzierung aller revolutionären Projekte, egal ob kommunistisch, anarchistisch oder selbstverwaltet.
Im August 1991, also kurz vor dem Zerfall der Sowjetunion, verlieh der linksliberale Rechtsanwalt Jean-Denis Bredin, ein Mitglied der Académie française, dem schillernden Diskurs vom „Ende der Geschichte“ einen melancholischen Beigeschmack, indem er fragte: „Könnte man vielleicht sagen, dass der hiesige Sozialismus nur ein unter anderem Namen firmierender Radikalismus gewesen wäre, hätte es nicht den Kommunismus gegeben, der ihn unter Aufsicht hielt und unter Druck setzte, stets bereit, ihm seinen Platz streitig zu machen?“ Womöglich habe nur der Kommunismus die Sozialisten davon abgehalten, zu schnell oder zu weit zurückzuweichen: „All diese Dickschädel und Sektierer, diese Dauerstreiker, diese Unruhestifter in unserer Fabriken und auf den Straßen, diese Starrköpfe, die andauernd Reformen verlangten und dabei von der Revolution träumten, diese gestrigen Marxisten, die dem Kapitalismus den Schlaf raubten – könnte es sein, dass wir ihnen vieles verdanken?“11
Das „Ende des Kommunismus“ schien auch das Ende der großen Auseinandersetzung zwischen den beiden Hauptströmungen der Linken nach der Russischen Revolution zu bringen, der Niedergang der einen schien den Triumph der anderen zu bedeuten, die Rache der Sozialdemokratie an ihrem aufsässigen jüngeren Bruder. Doch dieser Triumph war nur von kurzer Dauer.
Das hundertjährige Jubiläum des Sturms auf das Winterpalais fällt mit einem heftigen Rückschlag für die Reformisten zusammen: Die Clinton-Dynastie wurde abgewählt; Tony Blair, Felipe González und Gerhard Schröder sind Manager geworden; und François Hollande, na ja. Doch in den meisten dieser Länder, wie auch andernorts, spürt man das erneute Erwachen einer radikalen Ungeduld.
Kurz vor den Feierlichkeiten zum 200. Jahrestag des Beginns der Französischen Revolution, die eher an einen Exorzismus erinnerten, sagte der sozialistische Politiker Michel Rocard: „Revolutionen sind gefährlich. Ohne sie geht es uns auch ganz gut.“12 Seitdem sind 30 Jahre ins Land gegangen, in denen sich die Globalisierung durchgesetzt hat. Die alten Gespenster sind zurück, und die Revolution ist nicht so tot, wie viele glauben.
3 Lenin, „Die Krise ist herangereift“, in: „Werke“, Bd. 26, Berlin (Dietz) 1961.
4 Lenin, „Dekret über den Frieden“, in: „Werke“, Bd. 26, Berlin (Dietz) 1961.
8 Siehe Eric Hobsbawm „Das Zeitalter der Extreme“, München (dtv) 1998.
9 Perry Anderson, „Renewals“, New Left Review, Nr. 1, London, Januar/Februar 2000.
11 Jean-Denis Bredin, „Est-il permis ?“, Le Monde, 31. August 1991.
Aus dem Französischen von Richard Siegert