Nichts ist normal in Gaza
Die ohnehin katastrophale Lage der Bewohner von Gaza ist seit dem Sommer noch schlimmer geworden. Mit der jüngsten Annäherung zwischen Fatah und Hamas steigt nun die Hoffnung auf Besserung. Doch dafür müsste auch Israel einlenken und seine Blockade lockern.
von Sara Roy
Als der palästinensische Premierminister Hamdallah am 2. Oktober den Erez-Grenzübergang nach Gaza überquerte, wurde er mit frenetischem Jubel begrüßt. Sein Besuch war ein erster Schritt zu einem erneuten Versuch einer Einigung zwischen den verfeindeten Parteien Fatah und Hamas.
Zwei Wochen zuvor hatte die Hamas-Regierung in Gaza verkündet, sie sei bereit, mit der Fatah über eine Versöhnung zu verhandeln und ihren Verwaltungsrat aufzulösen, der die Regierungsgeschäfte in Gaza bis dahin de facto geführt hat. Ob die Versöhnung diesmal gelingt, steht allerdings in den Sternen. Der letzte Versuch zur Bildung einer Einheitsregierung 2014 scheiterte bereits nach wenigen Wochen.
Die Hamas, die den Gazastreifen seit 2007 kontrolliert,1 trat mit ihrem neuen Versöhnungsangebot eine Flucht nach vor an, denn Gaza befindet sich seit Monaten in einer Art humanitärem Schockzustand. Das liegt vor allem an der andauernden israelischen Blockade, die von den USA, Europa und Ägypten unterstützt wird, aber auch am zunehmenden Drucks aus Ramallah.
Während meines letzten Besuchs in Gaza im Frühjahr 2017 haben mich zwei Dinge am meisten berührt: die verheerenden Auswirkungen der mittlerweile über zehn Jahre andauernden Isolation Gazas vom Rest der Welt und die Tatsache, dass hier immer mehr Menschen ganz offensichtlich am Ende ihrer Kräfte sind.
Einst war das kleine Küstengebiet eine blühende Handelsstätte, heute wird kaum noch etwas produziert. Die Wirtschaft ist weitgehend vom Konsum abhängig.2 Zuletzt hatten Exporterleichterungen die Agrarausfuhren ins Westjordanland und nach Israel – lange Zeit Gazas Hauptabsatzmärkte – leicht ansteigen lassen, doch das reicht bei Weitem nicht, um den geschwächten produktiven Sektor in Gang zu bringen. Fast die Hälfte der Erwerbsbevölkerung in Gaza kann ihren Lebensunterhalt nicht mehr selbst verdienen. Die Arbeitslosenquote beträgt heute um die 42 Prozent; bei jungen Leuten zwischen 15 und 29 erreicht sie sogar 60 Prozent. Die Suche nach einem Job oder irgendeiner anderen Möglichkeit, Geld zu verdienen, zerrt an den Nerven. Die Leute können fast an gar nichts anderes mehr denken, erzählte man mir.
Für die politischen Spannungen in den letzten Jahren zwischen der Hamas-Regierung in Gaza und der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) in Ramallah machen sie im Gazastreifen vor allem Präsident Abbas verantwortlich, der die Hoheit über den Etat der PA hat und sich in den vergangenen Jahren weigerte, die Verwaltungsbeamten der Hamas-Regierung auf die Gehaltsliste zu setzen. Bei meinem Besuch gab man mir wiederholt zu verstehen, dass Abbas, wenn er die Unterstützung der Bevölkerung in Gaza haben wolle, den Hamas-Beamten nur ihre Gehälter auszahlen müsse. Er sträubte sich bisher mit dem Argument, dass von dem Geld der militärische Arm der Hamas finanziert werde, und trägt so eine Mitschuld an Gazas desolater Lage.
Abbas’ Weigerung brachte die Leute umso mehr auf, weil die rund 55 000 Beamten, die vor 2007 (also noch unter der Fatah) eingestellt wurden, weiterhin ihr volles Monatsgehalt bekamen. Das liegt zwischen 500 bis 1000 Dollar, was für die hiesigen Verhältnisse eine hohe Summe ist. Diese Leute werden vor allem dafür bezahlt, dass sie nicht für die Hamas-Regierung arbeiten, die PA ließ sich das bis vor Kurzem jeden Monat 45 Millionen Dollar kosten – Geld, das hauptsächlich aus Saudi-Arabien, der EU und den USA stammt.
Im April 2017 jedoch kürzte Abbas diese Gehälter um 30 bis 50 Prozent, um den allgemeinen Druck zu erhöhen, und drohte: „Entweder gibt uns Hamas den Gazastreifen zurück, oder sie müssen die volle Verantwortung für die Bevölkerung übernehmen.“ Der Konfliktforscher Brian Barber, der sich damals gerade in Gaza aufhielt, berichtet, die Gehaltskürzungen hätten eine regelrechte Schockwelle ausgelöst. Anfang Juli versetzte die Autonomiebehörde dann auch noch 6000 Beamte in den vorzeitigen Ruhestand.
Kein Trinkwasser und selten Strom
Außerdem entschied Abbas, die PA-Zahlungen für Strom aus Israel für Gaza auszusetzen. Prompt lieferte Israel im Juni weniger Strom. Zuvor waren täglich 120 Megawatt in den Gazastreifen geflossen, was etwa ein Viertel des gesamten Strombedarfs gedeckt hat. Gazas einziges Kraftwerk, das mit Diesel betrieben wird, läuft wegen fehlenden Kraftstoffs seit Monaten nicht mit voller Kapazität. Zuletzt gab es in Gaza oft nur zwei bis vier Stunden am Tag Strom.
Nach Angaben der NGO Oxfam ist die gesamte Situation inzwischen schlimmer als nach dem Gaza-Krieg von 2014. Damals hatte rund die Hälfte der Bewohner keinen ausreichenden Zugang zu Trinkwasser – heute gilt das für die gesamte Bevölkerung.3 Die Abwasserentsorgung ist weitgehend zusammengebrochen, ein Großteil der Abwässer wird direkt ins Meer geleitet. 73 Prozent der Küstengewässer Gazas sind gesundheitsgefährdend verschmutzt und selbst im Süden Israels wurden Strände gesperrt.4
Es fehlt an allem. Neu ist die immense Verzweiflung, die die Menschen dazu treibt, sämtliche Tabus zu überschreiten. Einmal kam eine gut angezogene Frau, das Gesicht hinter einem Nikab verborgen, in mein Hotel, um zu betteln. Als die Hotelangestellten sie höflich baten, zu gehen, weigerte sie sich energisch und bestand darauf zu bleiben – am Ende musste sie gewaltsam nach draußen gebracht werden. Sie fragte nicht, ob sie betteln dürfe, sie forderte es. So etwas habe ich in Gaza noch nie zuvor erlebt.
Das vielleicht alarmierendste Zeichen dieser Verzweiflung ist die zunehmende Prostitution. In der traditionsbewussten konservativen Gesellschaft Gazas galt sie immer als unmoralisch und schändlich; nicht nur die Frauen, die sich prostituierten, auch ihre Familien wurden sozial geächtet. Das scheint sich in den letzten Jahren geändert zu haben. Ein bekannter Arbeitgeber, der in Gaza hoch angesehen ist, erzählte mir, dass Frauen, oft gut gekleidet, in sein Büro kommen, um sich ihm „für wenig Geld“ anzubieten.
Junge Frauen, erzählte er mir, hätten es inzwischen sehr schwer, einen Ehemann zu finden, weil die Männer fürchten, dass sie nicht mehr „rein“ sind. Eltern würden ihn geradezu anflehen, ihre Töchter einzustellen, damit sie einen „sicheren und anständigen“ Arbeitsplatz haben. Ein Freund erzählte mir, dass er in einem Restaurant mitbekommen habe, wie eine junge Frau einem Mann ein unmissverständliches Angebot gemacht hat, während ihre Eltern daneben saßen. Als ich ihn fragte, wie er sich ein solches Verhalten erklärt, antwortete er: „Leute, die in einem normalen Umfeld leben, verhalten sich normal. Leute, die in einem unnormalen Umfeld leben, nicht.“
Nichts ist normal in Gaza. Mindestens 1,3 Millionen von insgesamt 1,9 Millionen Einwohnern sind auf humanitäre Hilfe angewiesen, größtenteils in Form von Lebensmitteln (Reis, Zucker, Öl, Milch). Mitte 2016 gab es in Gaza 65 000 Binnenflüchtlinge (unmittelbar nach der israelischen Offensive von 2014 waren es sogar 500 000). 41 000 Menschen sind praktisch obdachlos und haben überhaupt kein Bargeld.
Die Selbstmordrate in Gaza steigt – und die Scheidungsrate. Letztere lag einmal bei 2 Prozent und erreicht laut Angaben der UN und örtlicher Gesundheitsdienste heute um die 40 Prozent. „Im Al-Schati-Flüchtlingslager kommt es jeden Monat zu mindestens 2000 häuslichen Streitigkeiten“, berichtet ein Mitarbeiter des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNWRA): „Die Polizei wird dessen nicht mehr Herr, und die Gerichte müssen sich mit hunderten von Klagen herumschlagen. Der Hamas-Regierung wachsen die vielen Probleme ganz einfach über den Kopf.“ Eines davon ist der steigende Drogenmissbrauch.
Gazas Bevölkerung ist jung: Fast drei Viertel sind unter 30. Sie sind in dem schmalen Küstenstreifen gefangen und dürfen das Gebiet nicht verlassen; die meisten sind in ihrem ganzen Leben noch nie woanders gewesen. Zur Tatenlosigkeit verdammt, schließen sich junge Leute militanten und extremistischen Organisationen an, um wenigstens an einen bezahlten Job zu kommen. Wo immer ich hinkam, erzählte man mir, dass die wachsende Unterstützung für extremistische Gruppierungen in Gaza weder politisch noch ideologisch motiviert sei – wie diese selbst gern behaupten –, sondern der Not gehorcht. Tatsächlich treten viele, wenn nicht sogar die meisten neuen Rekruten nur deshalb den Verbänden des Islamischen Dschihad bei, weil die Mitgliedschaft ein Einkommen garantiert.
Gleichzeitig versucht die Hamas verzweifelt, Geld für ihre Kämpfer der Kassam-Brigaden zusammenzukratzen, deren Zahl ebenfalls gestiegen sein soll. Es scheint, als hätten arbeitslose junge Männer in Gaza nur noch die Wahl zwischen zwei Alternativen: entweder einer militanten Organisation beizutreten – oder aufzugeben.
„Es wäre viel klüger von den Israelis“, sagte mir ein gläubiger Muslim, „wenn sie hier zwei oder drei Industriegebiete eröffnen würden, bei jedem Bewerber einen Sicherheitscheck machen und die Besten einstellen. Die Kassam-Brigaden würden sich schnell in Luft auflösen, und es wäre sicherer für alle. Die Moscheen würden leer stehen.“ Es heißt auch, dass viele junge Männer die Kassam wieder verlassen, wenn sie einen Platz in einem von Gazas Wohnprojekten bekommen. Sie glauben, dass sie damit verhindern können, dass ihr neues Zuhause zum Ziel israelischer Angriffe wird.
„Was wir brauchen, sind israelische Fabriken und palästinensische Arbeitskräfte“, meint ein Geschäftsmann. „Ein Sack Zement beschäftigt hier in Gaza 35 Leute; und wenn einer aus Gaza in Israel arbeitet, beten zu Hause sieben Verwandte für Israels Sicherheit. Stell dir vor, wir hätten ein ‚Made in Gaza‘-Label. Wir könnten unsere Produkte in der Region verkaufen, und sie würden weggehen wie warme Semmeln. Gaza würde profitieren, aber auch Israel. Alles, was wir wollen, sind offene Grenzen für den Export.“
Die Leute in Gaza haben Unternehmergeist, sie sind erfinderisch – und sie sehnen sich nach einer anständigen Arbeit, um wieder selbst für ihre Kinder sorgen zu können. Stattdessen sind sie in die erniedrigende Abhängigkeit von humanitärer Hilfe gezwungen, die sie von denselben Ländern bekommen, die zu Gazas desolater Lage beitragen. Diese Politik ist nicht nur moralisch obszön, sie ist auch unfassbar dumm.
Doch nicht alle sind arm in Gaza. Eine kleine Minderheit – mehrmals hörte ich die Zahl 50 000 – ist relativ wohlhabend. In manchen Fällen stammt der Reichtum aus dem mittlerweile fast erloschenen Handel durch die Tunnel nach Ägypten. Die Tunnelgeschäfte hielten die Wirtschaft in Gaza einst am Laufen, zeitweise florierte sie sogar, trotz der israelischen Blockade. Doch seit in Gaza kaum noch etwas produziert wird, hängt die Wirtschaft an den wenigen privilegierten Bewohnern Gazas: Sie füllen die Hotels, Einkaufszentren und Restaurants; Letztere scheinen überhaupt die einzigen Betriebe zu sein, die noch Gewinn machen.
Manche Leute sagen, dieser Wohlstand zeige doch, dass die Zustände in Gaza sehr viel besser seien als gemeinhin dargestellt. Das sei doch ein „willkommenes Zeichen von Normalität“, sagen sie. Doch auch die Reichen sind abhängig, eingesperrt, erniedrigt und zornig. Die Unfreiheit und das Gefühl, nichts im Voraus planen zu können, machen ihnen genauso zu schaffen wie allen anderen. Eines Abends traf ich einen der reichsten und erfolgreichsten Geschäftsmänner in Gaza. In allen Einzelheiten beschrieb er mir die Restriktionen, die Tel Aviv seiner Firma auferlegt hat. Dabei war Israel früher einer seiner wichtigsten Absatzmärkte. „Die Israelis zerstören mein Geschäft. Warum? Sie machen immer mehr Druck. Wozu?“
Die Unterschiede zwischen Reich und Arm sind unübersehbar. Beide Welten existieren zum Greifen nah nebeneinander. Als ich eines Abends mit einem schwedischen Freund in einem der besten Restaurants in Gaza verabredet war und all die gut gekleideten Familien sah und die Teenager, die mit ihren Smartphones spielten, fragte ich mich, wie viele von ihnen wohl schon einmal im Al-Schati-Flüchtlingslager waren, das nur einen kurzen Fußweg vom Restaurant entfernt liegt. Viele, wahrscheinlich sogar die meisten von ihnen, sind wohl noch niemals dort gewesen.
Leute, die in Gaza als privilegiert gelten, haben nicht unbedingt das meiste Geld, aber sie haben ein regelmäßiges Einkommen. Bis vor Kurzem zählten zu den Privilegierten die oben erwähnten PA-Angestellten, die dafür bezahlt wurden, nicht für die Hamas zu arbeiten; des Weiteren gehören alle, die für die UNWRA, eine internationale NGO und lokale öffentliche Einrichtungen arbeiten, dazu, und die, die als Selbstständige erfolgreich sind. In Gaza hat man sich immer gegenseitig geholfen, aber die uneigennützige Wohltätigkeit ist nicht mehr so selbstverständlich wie früher.
Ein Freund aus einer bekannten Familie in Gaza beschrieb mir sein Dilemma: „Steuern an die Hamas, dann all die anderen Abgaben, zu denen ständig neue hinzukommen, und natürlich Haushalt, Essen, Geld für Freunde. Meine Rücklagen sind fast aufgebraucht. Bald muss ich meinen Besitz verhökern, um die Rechnungen zu bezahlen.“ Zwar gehe es ihm besser als den meisten anderen hier, und er tue, was er könne, um anderen zu helfen, aber: „Wo soll das enden? Das Tragische an der Situation ist, dass Freunde dich nur noch als Geldquelle betrachten. Und die Freundschaften enden, wenn du das Geld nicht mehr aufbringen kannst. Überleg mal, wie es kommt, dass Leute sich so verhalten!“ Anscheinend mache sich niemand klar, wie viel Druck es braucht, dass die wichtigsten Werte, die ein Mensch hat, aufgegeben werden. „Das ist nicht mehr das alte Gaza.“
Auch die Hamas ist besessen von der Frage des Überlebens. Die Leere in den öffentlichen Kassen durch den Rückgang der Einnahmen in den letzten Jahren versucht sie durch neue Geldquellen zu kompensieren: neue Steuern, neue Abgaben, neue Geldbußen und Preiserhöhungen, „den Leuten das letzte Geld abpressen“, sagt ein Beobachter dazu. Der Preis für eine Schachtel Zigaretten hat sich kürzlich von 8 auf 25 Neue Israelische Schekel (NIS)5 mehr als verdreifacht; die Grundstückssteuer hat sich verdoppelt, es gibt eine neue „Sauberkeitssteuer“ für Straßenreinigung und Abwasserentsorgung.
Auch die Pkw-Zulassung muss zukünftig halbjährlich erneuert werden, was jedes Mal 600 NIS kostet – eine geradezu utopische Summe für die meisten Gaza-Bewohner. Wer seine Zulassung nicht erneuert, läuft Gefahr, dass sein Auto konfisziert wird. Die meisten Leute können diese Steuern und Abgaben nicht in voller Höhe bezahlen. Deshalb nimmt die Hamas vor allem diejenigen ins Visier, die dazu in der Lage sind; für den Rest gibt es Staffeltarife. Die Maßnahmen scheinen zu wirken, jedenfalls was die Einnahmen der Regierung betrifft. „Die Hamas steht unter einem riesigen Druck, wie wir alle, sie kämpft um ihren Selbsterhalt, es geht nicht mehr um Politik“, meint ein Bekannter.
In letzter Zeit nimmt die offene Kritik an der Hamas zu, vor allem vonseiten junger Leute. Über Facebook, Twitter und WhatsApp verbreiten sich Kommentare gegen den Missbrauch der Religion als Zwangsmittel und als Rechtfertigung für die Fehler der Regierung.
Angst vor der Welt da draußen
Gleichzeitig gibt es immer mehr zivilgesellschaftliches Engagement: Eine ganze Reihe neuer Initiativen ist entstanden, die nach anderen Lösungen für die schlimme Lage in Gaza suchen. Die Bandbreite dieser beharrlichen Freiwilligenarbeit ist beeindruckend: Kleine landwirtschaftliche Betriebe wurden wieder zum Leben erweckt, es gibt Menschenrechtsgruppen, Angebote für psychologische Rehamaßnahmen, Aktionen für den Umweltschutz und Workshops, die sich mit technologischen Innovationen beschäftigen.
Die Leute in Gaza waren ja schon immer sehr technikaffin. „Sollte eines Tages endlich Frieden herrschen, wäre Gaza auf dem Internetsektor genauso stark wie Indien“, meint sogar ein US-amerikanischer Investor. Tatsächlich soll es in Gaza genauso viele User geben wie in Tel Aviv und manche arbeiten bereits als Subunternehmer für Firmen in Indien, Bangladesch oder Israel.
Das könnte optimistisch stimmen, gäbe es nicht andererseits einen auffallenden und bedrückenden Mangel an Ehrgeiz. Natürlich sind die Alltagsprobleme enorm, viele können von der Erfüllung ihrer Grundbedürfnisse – wie ausreichende Nahrung, Kleider und Elektrizität – nur träumen. Die Leute in Gaza igeln sich ein und kümmern sich verständlicherweise zuerst um sich selbst und ihre Familien. Als ein Freund von mir, der Lehrer ist, seine Schüler fragte, was sie sich am allermeisten wünschen würden, antworteten sie: „ein neues Paar Schuhe“, „ein neues T-Shirt“ und „Eiscreme vom Laden in der Omar-al-Mukhtar Straße“.
Warum sollte man auch Pläne schmieden, wenn es keine Chance gibt, sie zu verwirklichen? Ich habe mich auch darüber gewundert, wie wenig die jungen und gut ausgebildeten Leute über die Erste Intifada und die Oslo-Jahre wussten – als würde die unmittelbare Gegenwart ihre ganze Aufmerksamkeit beanspruchen. Anders ausgedrückt: sie fühlen sich nicht nur einer möglichen Zukunft beraubt, sie sind auch von ihrer jüngsten Vergangenheit abgeschnitten – und von den vielen wichtigen Lehren, die sie daraus ziehen könnten.
„Die Leute haben Angst, die Welt zu betreten, oder sie betreten sie mit Waffen zu ihrer Verteidigung“, sagte mir ein Wirtschaftswissenschaftler. „Es gibt tatsächlich immer mehr Leute, die Angst davor haben, Gaza zu verlassen, weil sie nicht wissen, wie sie in der Welt da draußen zurechtkommen sollen. Man muss ihnen beibringen, offener zu denken, sonst sind wir verloren.“
Die israelische Regierung hat alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel ausgereizt, um Gaza unter Druck zu setzen. Als die Leute aus Gaza noch in Israel arbeiten durften, konnte Israel das für sich nutzen: Es konnte die Grenze dicht machen und Zugeständnisse erzwingen. Jetzt besteht selbst diese Möglichkeit nicht mehr, übrig geblieben sind nur noch Drohungen. Diese Politik gegenüber Gaza hat mit keiner politischen Zielsetzung oder Logik zu tun, sondern mit „Ermüdung“, wie der israelische Verteidigungsminister Ehud Barak 2014 sagte.6
„Wenn die Israelis vernünftig wären“, sagte mir jemand in Gaza, „könnten alle davon profitieren. Alles, was sie tun müssen, ist uns ein klein wenig Raum geben, um ein normales Leben zu führen; alle extremistischen Gruppen würden verschwinden. Hamas würde verschwinden. Nicht die Panzer und Flugzeuge der israelischen Armee müssen mit diesen Gruppen fertig werden. Unsere Generation will Frieden, und es ist dumm von Israel, sich zu verweigern. Die nächste Generation ist womöglich nicht mehr so motiviert wie wir. Oder geht es Israel gerade darum?“
Viele in Gaza hegen nun die Hoffnung, dass sich ihre desolate Lage mit der angestrebten Versöhnung zwischen Fatah und Hamas bessern wird. Doch ob die durch Ägypten vermittelten Gespräche tatsächlich zu einer Einigung führen werden, ist fraglich. In vielen Punkten liegen die Interessen weit auseinander: Da ist zunächst die Frage der Wahlen, die einem Versöhnungsprozess logischerweise folgen müssten. Umfragen zufolge würde die Hamas den Urnengang gewinnen, ebenso wie den letzten von 2006. Vor diesem Hintergrund hat die Fatah kein Interesse an Wahlen, ebenso wenig wie Israel und die USA.
Ein weiterer Punkt ist die Frage der Sicherheitskräfte in Gaza. Dschibril ar-Radschub, Fatah-Mitglied und ehemaliger Sicherheitschef der Palästinensischen Autonomiebehörde im Westjordanland, verkündete, es dürfe nur einen einzigen Sicherheitsapparat geben. Soll heißen: der bewaffnete Arm der Hamas, die Kassam-Brigaden, sollen ihre Waffen niederlegen – eine Forderung, deren Erfüllung die Hamas bereits ausgeschlossen hat.
Die Hamas ist zwar bereit, die zivile Verwaltung im Gazastreifen wieder an Ramallah abzugeben, doch auch dieser Punkt birgt Konfliktpotenzial. Denn die Fatah dürfte darauf bestehen, dass die von ihr bezahlten Verwaltungsbeamten auf ihre alten Posten zurückkehren – womit Zehntausende, die in der Hamas-Verwaltung beschäftigt waren, ihre Posten verlieren würden.
Und schließlich ist jede innerpalästinensische Versöhnung auch von der Unterstützung des Auslands abhängig. Für Israel wäre eine Einigung zwischen Hamas und Fatah gefährlich, weil diese den Forderungen nach einem palästinensischen Staat und einem Ende der Besatzung des Westjordanlands eine neue Stärke verleihen würde.
In den letzten Monaten hat sich Ägypten der Hamas angenähert, weil sich die Organisation in ihrer neuen Charta vom Mai 2017 von der Muslimbruderschaft losgesagt hat, die von Kairo als Terrororganisation betrachtet und im eigenen Land hart bekämpft wird. Viele in Gaza hoffen nun, dass zumindest der Grenzübergang Rafah nach Ägypten wieder regelmäßig geöffnet wird.
Bleibt zu hoffen, dass Fatah und Hamas bei den für diesen Monat in Kairo angesetzten Gesprächen Lösungen für die vielen Streitpunkte finden und gemeinsam dafür sorgen, die Lebenssituation der Bewohner Gazas zu verbessern. Die hätten es verdient.
Aus dem Englischen von Jakob Farah
Sara Roy ist Wissenschaftlerin am Centre for Middle Eastern Studies in Harvard und Autorin zahlreicher Bücher über den Gazastreifen, zuletzt erschien „Hamas and Civil Society in Gaza: Engaging the Islamist Social Sector“, Princeton (Princeton University Press) 2013.
© London Review of Books; für die deutsche Übersetzung Le Monde diplomatique, Berlin