12.10.2017

Die Freunde der Bauern

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Die Freunde der Bauern

von Korine Amacher

Sofja Perowskaja im Kreise ihrer Familie: Die Anhängerin der Narodniki organisierte das tödliche Attentat auf Zar Alexander II. und wurde dafür am 15. April 1881 hingerichtet akg-images
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Nach Ansicht Lenins war die erste Revolte gegen das zaristische Regime im Dezember 1825 vor allem deswegen gescheitert, weil die adligen Putschisten Angst vor einem Volksaufstand hatten. Sie glaubten, mit Grausen an frühere große Bauernrevolten zurückdenkend, die Bauern würden die Großgrundbesitzer abschlachten.

Auch die Marxisten hatten, da sie die Industriearbeiter zur Speerspitze der Revolution erklärten, nicht viel für die Bauern übrig, die im Russischen Reich 80 Prozent der Bevölkerung stellten. Georgi W. Plechanow (1856–1918), Mitbegründer der ersten marxistischen Organisation für Russland („Befreiung der Arbeit“, entstanden 1883 in Genf), traute den Landarbeitern keine „politisch bewussten Initiativen“ zu. Die Landbevölkerung habe Schwierigkeiten, sich die sozialistische Lehre anzueignen, weil ihre Lebensverhältnisse sich zu stark von denen unterschieden, die diese Lehre hervorgebracht hätten.1

Im Gegensatz zu den adligen Revolutionären des Dezemberaufstands (Dekabristen) und den Marxisten schrieben die Narodniki (Volksverbundenen) den Bauern eine zentrale Rolle bei der Umwälzung der feudalen Gesellschaftsordnung zu. Alexander Herzen (1812–1870), der Spiritus Rector der Narodniki, war 1847 als einer der ersten russischen Revolutionäre ins Exil gegangen. In Paris erlebte er 1848 das Scheitern der Revolution. Vom Westen enttäuscht, richtete sich sein Blick nun auf die russischen Dorfgemeinschaften, die keinen privaten Landbesitz kannten. Laut Herzen waren sie die Basis für den Übergang von der Autokratie zum Sozialismus.

1852 zog Herzen nach London und gründete mit Nikolai Ogarjow (1813–1877) die oppositionelle Zeitschrift Kolokol (Die Glocke). Die Hefte wurden nach Russland geschmuggelt, wo sie regen Anklang fanden und die öffentliche Meinung stark beeinflussten. So auch ein vielzitierter Artikel Ogarjows, der im Juli 1861, drei Monate nach der Aufhebung der Leibeigenschaft, erschien und die revolutionäre russische Jugend zur Agitation der Landbevölkerung aufforderte.2 Zwölf Jahre später kam ein ähnlicher Appell von Michail Bakunin (1814–1876) aus dem Schweizer Exil: Das unterdrückte russische Volk sei jederzeit bereit sich aufzulehnen, schrieb der berühmte Anarchist.3 Tatsächlich ging es nach der Agrarreform vielen Landarbeitern schlechter als zuvor. Die meisten konnten trotz staatlicher Darlehen kein Land erwerben, so dass aus den ehemaligen Leibeigenen abhängige Lohnarbeiter wurden.

In den Jahren 1873 und 1874 zogen etwa 2500 junge Leute als Bauern verkleidet aufs Land, um als Tagelöhner auf dem Feld zu arbeiten und den So­zia­lismus zu predigen. Doch die meisten Bauern konnten mit den Parolen der jungen Studentinnen und Studenten nichts anfangen. Sie wollten kein kollektives Eigentum, sondern selbst Land besitzen. Einige gingen so weit, die jungen Narodniki bei der Polizei zu denunzieren. Viele wurden verhaftet und zu Freiheitsstrafen verurteilt. Nicht eine der rund 30 Provinzen, in denen die jungen Sozialisten missioniert hatten, folgte ihrem Aufruf. Die Narodniki-Bewegung zerfiel.

Sieg des Proletariats in einem Land der Bauern

Die folgenden Jahre waren von Zweifeln und Kontroversen geprägt. Die Anarchisten der Gruppe Narodnaja Wolja (Volkswille) kamen zu dem Schluss: Da das Volk in seinem Elend zu resigniert sei, um sich aufzulehnen, müsse man in seinem Namen handeln. Am 1. März 1881 verübte die Gruppe einen tödlichen Bombenanschlag auf den 63-jährigen Zar Alexander II. Das Resultat war jedoch nicht der Zusammenbruch des Regimes, sondern die Verschärfung der Repression unter dem neuen Zaren Alexander III.

Die ersten russischen Marxisten, die wie Plechanow und die „Kiewer Rebellin“ Wera Sassulitsch (1849–1919) aus der Narodniki-Bewegung kamen, übertrugen in gewisser Weise ihren früheren Glauben an das revolutionäre bäuerliche Potenzial auf die Industriearbeiter. Diese hatten laut Plechanow „eine höhere Entwicklungsstufe“ als die Bauern erreicht: „Da sie mehr Bedürfnisse und einen weiteren intellektuellen Horizont haben, werden die Industriearbeiter sich der revolutionären Intelligenzija im Kampf gegen den Absolutismus anschließen. Mit der so erlangten politischen Freiheit werden sie eine Sozialistische Arbeiterpartei gründen, welche die systematische Propaganda des Sozialismus in die Bauernschaft tragen muss.“4

In den Augen der Marxisten war „der Bauer“, in den die Narodniki ihre Hoffnungen auf eine gesellschaftliche Erneuerung gesetzt hatten, ein passiver und konservativer Faktor. Wie also konnten die Marxisten in einem vorwiegend agrarischen Land an einen Sieg des Proletariats glauben? Bis 1917 waren sie innerhalb der revolutionären Bewegung in der Minderheit. Ihr größter Konkurrent war die 1901 gegründete Sozialrevolutionären Partei (SR), die vor allem wegen ihrer spektakulären Anschläge berühmt war.

Die SR forderte in ihrem Agrarprogramm die entschädigungslose Enteignung der Großgrundbesitzer und die Überführung des gesamten Bodens in Gemeineigentum. Langfristig strebten sie die kollektive Bewirtschaftung an. Die Sozialrevolutionäre agitierten zwar auch unter den Industriearbeitern, waren aber vor allem auf dem Land verankert.

Während der ersten Revolution von 1905/06 wurde auch Lenin auf die rebellischen Landarbeiter aufmerksam. In seiner Schrift „Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution“ versuchte er die unterschiedlichen Rollen der beiden unterdrückten Klassen systematisch darzustellen.

In diesem Kontext sprach Lenin erstmals von der „demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft“. Angesichts seines neu erwachten Interesses für die Bauern warfen ihm einige Revolutionäre eine Affinität zu den weltfremden Narodniki vor. Anders als diese glaubte Lenin jedoch nicht, dass die Bauern zu einer autonomen Revolution fähig seien. Und doch wollte er deren subversives Potenzial für den revolutionären Prozess nutzen.

Die neue Provisorische Regierung, die nach der Abdankung des Zaren am 2. März 1917 die Staatsgeschäfte übernommen hatte, war ebenfalls nicht in der Lage, die Agrarfrage zur Zufriedenheit der Bauern zu lösen. Während Liberale und Sozialisten noch über Enteignungen und Entschädigungen stritten, bezog Lenin eindeutig Position. In seinen „Aprilthesen“, einem Referat über „die Aufgaben des Proletariats in der gegenwärtigen Revolution“, propagierte er den „Übergang der Macht in die Hände des Proletariats und der sich ihm anschließenden ärmsten Teile der Bauernschaft“ und forderte die „Na­tio­na­lisierung des gesamten Bodens im Lande“.

Als die Bauern begannen sich in Räten zu organisieren, versuchte die Provisorische Regierung vergebens, diese durch ein Dekret unter ihre Kontrolle zu bringen. Aber die Situation spitzte sich weiter zu, und Lenin erkannte, dass ein Sieg der Bolschewiki ohne die Unterstützung – oder wenigstens die Neutralität – der Bauern unmöglich war. Zu Beginn des Sommers 1917 relativierte er seine Aprilthesen und stellte klar, dass der Boden den Bauernräten unterstellt werden sollte. Von der Verstaatlichung des Bodens war nicht mehr die Rede.5 Taktisch flexibel bediente sich Lenin sogar bei dem Programm seiner politischen Gegner, den Sozialrevolutionären, und forderte die Enteignung des Grundbesitzes und die gerechte Aufteilung der Ländereien unter Kontrolle der bäuerlichen Gemeinschaft.

Am 26. Oktober 1917, einen Tag nach dem Sturz der Provisorischen Regierung, verabschiedete der Zweite Allrussische Sowjetkongress das Dekret über Grund und Boden, in dem das Eigentum der Gutsbesitzer an Grund und Boden „unverzüglich“ und entschädigungslos aufgehoben wurde. Bis zum Zusammentritt der verfassunggebenden Versammlung sollten die Ländereien „in die Verfügungsgewalt der örtlichen Bodenkomitees und der Kreis­sowjets der Bauerndeputierten“ übergehen.

Was auf dem Papier so revolutionär anmutete, legalisierte aber im Grunde nur die faktische Lage: Da die Provisorische Regierung eine Entscheidung über die Aufteilung des Bodens zu lange hinausgezögert hatte (obwohl Landwirtschaftsministers Wiktor Tschernow ein Gründungsmitglied der SR war), hatten die Dorfgemeinschaften die Revolution sozusagen selbst in die Hand genommen und sich im Lauf des Sommers die Ländereien der Großgrundbesitzer und reichen Bauern einfach angeeignet.

Dennoch stellten sich die Bauern am Ende des Bürgerkriegs gegen die Bolschewiki, die ihnen nicht nur, wie die Narodniki, die Tugenden des So­zia­lis­mus predigten, sondern ihnen auch ihre Erzeugnisse wegnahmen, um die hungernden Städter zu versorgen.

1921 verschaffte Lenin dem Land mit der Neuen Ökonomischen Politik (NEP) eine Atempause. Sie ließ bestimmte privatwirtschaftliche Unternehmungen zu und kam der Bauernschaft entgegen: Die Bauern durften jetzt ihre Produktion, die das Ablieferungssoll überstieg, auf dem freien Markt anbieten. Das beruhigte zwar zunächst die antikommunistische Stimmung auf dem Land, doch das alte Problem der Bauern, dass ihre kleinen Äcker zu wenig Erträge abwarfen, wurde dadurch nicht gelöst.

Stalins „große Wende“ von 1928/29 setzte dem Traum von der bäuerlichen Selbstverwaltung ein brutales Ende; Millionen Menschen starben als Folge der Zwangskollektivierung des Bodens.

1 Georgi W. Plechanow, „Ausgewählte philosophische Werke“, Bd. 1, Moskau 1956.

2 Nikolai Ogarjow, „Was braucht das Volk?“, Kolokol, London, Juli 1861.

3 Michail Bakunin, „Staatlichkeit und Anarchie“ (1873), in: Wolfgang Eckhardt (Hg.), „Ausgewählte Schriften“, Bd. 4, Berlin (Karin Kramer Verlag) 2007.

4 Georgi W. Plechanow, „Ausgewählte philosophische Werke“, Bd. 1, siehe Anmerkung 1.

5 Siehe Marc Ferro, „La Révolution de 1917“, Paris (AlbinMichel, Bibliothèque de l’évolution de l’humanité) 1997.

Aus dem Französischen von Inga Frohn

Korine Amacher ist Honorarprofessorin für russische und sowjetische Geschichte an der Universität Genf.

Le Monde diplomatique vom 12.10.2017, von Korine Amacher