12.10.2017

Kalte Regeln

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Kalte Regeln

Die Flüchtlingspolitik der Europäischen Union verhindert Solidarität

von Arne Semsrott

Ilona Kálnoky, gebogen, 2007, Edelstahl, Angelschnur, 100 x 100 x 40 cm
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Mit einer einzigen Entscheidung hätte der Europäische Gerichtshof (EuGH) im März 2017 die Flüchtlingspolitik der gesamten Europäischen Union schlagartig ändern können. Eine syrische Flüchtlingsfamilie hatte in der belgischen Botschaft in Beirut ein Einreisevisum in die EU beantragt und gegen die anschließende Ablehnung ihres Antrags geklagt. Der Fall war brisant: Wären die Familienmitglieder bei der Antragstellung bereits auf belgischem Boden gewesen, wären sie wahrscheinlich als Flüchtlinge anerkannt worden. So aber wurde ihnen, wie in solchen Fällen üblich, die Möglichkeit auf ein humanitäres Visum verwehrt. Es stand viel auf dem Spiel für Schutzsuchende aus der ganzen Welt. War die Ablehnung durch die belgischen Behörden rechtswidrig?

Die EU-Richter zogen sich aus der Affäre. Obwohl sogar EU-Generalanwalt Paolo Mengozzi sich in seinem Schluss­antrag dafür aussprach, bestimmten Flüchtlingen aus humanitären Gründen ein Visum auszustellen, erklärte sich der EuGH für nicht zuständig. Um humanitäre Visa müssten sich, wenn es sie denn geben sollte, die einzelnen Mitgliedstaaten selbst kümmern. Dabei war der Gerichtshof bei anderen Asylfragen nicht so schüchtern, auch weitreichende Urteile zu sprechen.

Mit dem Votum des obersten EU-Gerichts bleibt die Flüchtlingspolitik der EU ein paradoxes Konstrukt: Um eine Chance auf Asyl zu haben, muss man sich auf europäischem Territorium oder an der Grenze befinden. Ein Recht auf Einreise gibt es aber nicht. Asyl können deswegen nur Menschen beantragen, die mit dem illegalen Grenzübertritt automatisch zu Rechtsbrechern werden.

„Asyldarwinismus“ nennt das die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl: Nur wer den Nato-Draht an den EU-Außengrenzen überwindet oder den Weg über das Mittelmeer überlebt, darf Schutz erhalten. Alle anderen nicht. Dabei gibt es Alternativen zur jetzigen Flüchtlingspolitik, die nicht nur Schutzsuchenden, sondern auch anderen Migranten legale Zufluchtswege garantieren können.

„Das Urteil des Gerichtshofs hat den Mitgliedstaaten zwar nicht den Weg versperrt, einzelnen Flüchtlingen humanitäre Visa nach nationalem Recht zu erteilen, damit sie in die EU einreisen können“, sagt die Völkerrechtlerin Pauline Endres de Oliveira, die an der Universität Gießen zum europäischen Asylrecht forscht. „Vermutlich werden sich die Mitgliedstaaten aber eher auf dem Urteil ausruhen.“

Würden sie sich stattdessen an dem Konzept orientieren, das das dänische Menschenrechtszentrum bereits 2002 vorgeschlagen hat und das ins Wahlprogramm der spanischen Linkspartei Podemos aufgenommen wurde, könnten Menschen auf der ganzen Welt in ihrem Heimat- oder Nachbarland Asylanträge stellen – und zwar in den Botschaften von EU-Mitgliedstaaten. Nach verkürzter Prüfung könnten sie dann ein Einreisevisum erhalten, um anschließend Asylstatus oder zumindest ein Bleiberecht zu erlangen. Wenn etwa die deutsche Botschaft in Nigeria Asylanträge nach Deutschland weiterleiten würde, müssten sich potenzielle Flüchtlinge aus Subsahara-Afrika – darunter auch Frauen und Kinder – nicht mehr in die Hände von Schmugglern begeben, den Weg übers Mittelmeer wagen und auch nicht die Tenéré-Wüste in Niger durchqueren, wo jedes Jahr noch mehr Flüchtlinge sterben als im Mittelmeer.

Botschaftsasyle wären eine Lösung

Botschaftsasyle waren früher durchaus üblich und bis vor kurzem zum Beispiel in Schweizer Auslandsvertretungen möglich. 2013 schaffte das Land diese Möglichkeit aber ab. Frankreich stellt in Ausnahmefällen zumindest in Auslandsvertretungen humanitäre Visa aus. Brasilien wies 2013 seine Konsulate im Nahen Osten an, Einreisevisa für Asylsuchende aus Syrien auszustellen.

Im Visakodex der EU könnten humanitäre Asylverfahren festgelegt werden. Das wäre zwar aufwendig und teuer für auswärtige Dienste, könnte aber auch unter Sicherheitsaspekten von Vorteil sein: Werden Asylanträge schon im Herkunftsland bearbeitet, erspart man sich die Sicherheitsüberprüfung im Zielland. Botschaftsasyle können schon jetzt von jedem EU-Staat individuell eingeführt werden. Für eine EU-weite Lösung müsste sich die Union allerdings auf ein gemeinsames Asylverfahren für den gesamten Raum einigen statt wie bisher nur auf Mindeststandards. Der existiert allerdings trotz vieler Konzepte bis heute nicht.

Damit müsste die Europäische Union nämlich akzeptieren, dass eine nicht definierte Anzahl von Schutzsuchenden nach Europa kommt. Die EU-Politik legt den Fokus stattdessen auf die Etablierung sogenannter Hotspots, die die kontrollierte Einreise in die EU suggerieren. Nicht in den Herkunftsländern von Flüchtlingen, sondern an den EU-Außengrenzen sollen Aufnahmezentren oder „Auffanglager“ entstehen, in denen Flüchtlinge Asylanträge stellen können.

Für ein solches Konzept hat sich seinerzeit schon SPD-Innenminister Otto Schily starkgemacht, und heute treibt es Frankreichs Präsident Emmanuel Macron auf Flüchtlingsgipfeln voran. Dabei ist zu befürchten, dass diese Lager – besonders wenn sie in instabilen Staaten wie Libyen entstehen – letztlich zu riesigen Flüchtlingslagern würden. Ob die Rechtsstaatlichkeit der Asylverfahren abseits der europäischen Öffentlichkeit gesichert wäre und dann tatsächlich alle Menschen nach Europa einreisen dürften, die einen Anspruch auf Asyl haben, ist zu bezweifeln.

Es ist aber ohnehin sehr unwahrscheinlich, dass offizielle Auffanglager außerhalb der EU tatsächlich entstehen. „Bei all diesen Plänen müsste neben der Beachtung menschenrechtlicher Verpflichtungen und Standards unter anderem geklärt werden, nach welchem Verteilungsmechanismus die Flüchtlinge in welche Länder weiterreisen dürften“, sagt Endres de Oliveira.

Für ein solidarisches Asylmodell müssten sich die EU-Staaten zunächst auf eine Verantwortungsteilung einigen. Dass die Verteilung von Flüchtlingen innerhalb der EU bisher nur äußerst stockend funktioniert, zeigt sich an den laufenden Notprogrammen: Von September 2015 bis Juli 2017 bekamen weniger als 25 000 Flüchtlinge, die in Italien und Griechenland regis­triert wurden, Bleiberecht in einem anderen EU-Staat. Österreich, Polen und Ungarn nahmen gar keine Flüchtlinge auf, Tschechien und die Slowakei gerade einmal je ein Dutzend. Gegen feste Verteilungsquoten, die sich an Größe und Wirtschaftskraft der Mitgliedstaaten orientieren, sperren sie sich.

Wer hilft, muss zahlen

Auch Deutschland, das sich beim Thema Flüchtlinge gern als humanitäres Gegenmodell präsentiert, tut wenig für eine solidarische Lösung: Gegen ein verpflichtendes Verteilungsprogramm wehrte sich bei Verhandlungen zur Dublin-III-Verordnung vor allem Berlin. Auch die Entwürfe zur Dublin-IV-Verordnung1 sehen keinen Verteilungsmechanismus, sondern nur weitere Verschärfungen des Asylrechts vor. Flüchtlingsorganisationen fordern deswegen bereits die Abschaffung der Dublin-Verordnung.

Einstweilen gilt auf den Fluchtrouten wie im Mittelmeer weiterhin das Verursacherprinzip: Wer Flüchtlinge rettet, muss auch ihr Asylverfahren garantieren. In anderen Bereichen wären derart unsolidarische Vorschriften unvorstellbar. Müssten Nothelfer zum Beispiel bei Verkehrsunfällen automatisch auch für die Krankenhausbehandlung aufkommen, würden Unfallstellen vermutlich weiträumig umfahren werden.

Während über Auffanglager an EU-Außengrenzen noch diskutiert wird, existieren auf der ganzen Welt längst tausende Mini-Hotspots, die kein Mensch infrage stellt. An allen internationalen Flughäfen ist die Grenzkontrolle nämlich vorgelagert – und teilweise privatisiert. Fluggesellschaften prüfen ohne nennenswerte öffentliche Kontrolle und wenig transparent, ob Fluggäste berechtigt sind, in die EU einzureisen. Dabei macht es in der Regel keinen Unterschied, ob Menschen Asyl suchen oder nicht – nur wer Einreisedokumente hat, darf einreisen, alle anderen nicht. Das hält viele politisch Verfolgte von einer Einreise per Flugzeug ab, da sie sich oft keine Reisedokumente beschaffen können.

Zu diesen Kontrollen sind Fluggesellschaften nach einer EU-Richtlinie angehalten. Befördern sie Menschen in die EU, die nicht die erforderlichen Dokumente besitzen, müssen sie für deren Rücktransport sorgen und riskieren hohe Geldstrafen, sogenannte Carrier Sanctions. Die führen dazu, dass Fluggesellschaften im Zweifel eher mehr Menschen von einem Flug abhalten. Dabei erwähnt die Richtlinie auch, dass die Genfer Flüchtlingskonven­tion nicht beeinträchtigt werden darf. Heißt: Flüchtlinge dürfen theoretisch nicht vom Flug abgehalten werden.

Darauf machte 2015 die schwedische Initiative Refugee Air aufmerksam: Sie kündigte an, ein eigenes Flugzeug zu chartern und damit Flüchtlinge in die EU zu bringen. Statt Schmugglern tausende Euro zu geben, sollten sie sicher nach Schweden einreisen können, um dort Asyl zu beantragen. Ein Jahr später wollten auch die Künstler vom Zentrum für Politische Schönheit im Rahmen der Aktion „Flüchtlinge fressen“ eine Chartermaschine mit Flüchtlingen an Bord nach Deutschland bringen. Doch das Bundesinnenministerium machte Druck auf den Betreiber Air Berlin, sodass der Flug abgesagt wurde. Refugee Air war hingegen teilweise erfolgreich: Zwar wurde auch bei ihnen aus den Charterflügen nichts, aber die schwedische Regierung kündigte zumindest an, in einem Umsiedlungsverfahren 5000 Flüchtlinge aus Syrien aufzunehmen.

Sowohl einzelne Mitgliedstaaten als auch die EU insgesamt haben in den vergangenen Jahren immer wieder befristete Umsiedlungsverfahren ins Leben gerufen, die von der UN-Flüchtlingsorganisation UNHCR koordiniert werden. Sie sollen bestimmten Flüchtlingen aus Syrien und anderen Krisenstaaten die Einreise in die EU ermöglichen und ihnen eine langfristige Perspektive in der EU bieten. Insbesondere bei der deutschen Regierung sind solche Resettlement-Programme beliebt, weil sie damit Tatkraft in humanitären Notsituationen demonstrieren kann, ohne den im Grundgesetz verankerten individuellen Asylanspruch prüfen zu müssen. Das hat für die Regierungen den Vorteil, dass sie selbst entscheiden, in welcher Anzahl und nach welchen Kriterien Menschen einreisen dürfen. Einen Anspruch auf Teilnahme an den Programmen gibt es nicht – unabhängig davon, ob jemand als Flüchtling anerkannt würde oder nicht.

Eine neue Resettlement-Verordnung könnte über die temporären Programme hinaus jährliche Aufnahmequoten für die EU-Mitgliedstaaten festlegen. Außerdem könnten Programme gefördert werden, innerhalb derer Privatpersonen Bürgschaften für Flüchtlinge übernehmen. Die Resettlement-Programme zeigen, dass kein EU-Mitglied auf andere warten muss, um zu handeln. Bislang liegt die Entscheidung darüber, wer daran teilnehmen darf, beim UNHCR. In Zukunft soll Resettlement jedoch zu einem Mittel der EU-Außenpolitik werden.

Theoretisch könnten über die Resettlement-Quoten auch Menschen einreisen, die ohnehin Anspruch auf Asyl in der EU hätten, etwa im Rahmen der Familienzusammenführung. Bisher können allerdings nur Ehepartner, minderjährige Kinder oder die Eltern eines minderjährigen Flüchtlings – nicht aber erwachsene Geschwister, Töchter und Söhne oder Großeltern – ein Visum zum Familiennachzug beantragen. Da viele Asylsuchende auch aus Syrien derzeit nur subsidiären Schutz erhalten, dürfen nach einer Sonderregelung der Bundesregierung eigentlich keine Verwandten nachziehen.

Damit werden Familien auseinandergerissen, aber auch anerkannte Migrationstheorien ignoriert. Netzwerktheorien gehen davon aus, dass Familien eine zentrale Rolle beim Entschluss spielen, ein Land zu verlassen, um woanders Schutz oder Arbeit zu finden. Auch die Entscheidung für ein bestimmtes Zielland geht nicht allein auf die viel diskutierten „Push“- und „Pull“-Faktoren zurück.2

Die Schweiz zeigte 2013, wie ein progressives Familiennachzugsmodell aussehen kann: Sie ermöglichte es in der Schweiz lebenden Syrern zumindest für einige Monate, auch Verwandte außerhalb der Kernfamilie (Großeltern, Enkel oder Geschwister) aus dem Krisengebiet herauszuholen. Außerdem wurde die Bürokratieschwelle gesenkt: Wenn jemand aus Kriegsgründen keine Urkunden nachweisen konnte, reichte eine „glaubhafte Versicherung“ der Verwandtschaft. 3749 Visa wurden auf diesem Weg ausgestellt. Das Programm wurde allerdings schnell wieder eingestellt – aus Angst vor zu vielen neuen Asylbewerbern. Auch in anderen Ländern stehen Notprogramme vor dem Aus.

Solange legale Fluchtwege fehlen, bleibt der Fokus auf der Notrettung, zumal auf dem Mittelmeer. Anstatt dort zu helfen, geht die EU aber auf Konfrontationskurs zur Zivilgesellschaft. Seit August 2017 bedroht die EU-finanzierte libysche Küstenwache Helfer im Mittelmeer. Das Schiff von Jugend Rettet wurde sogar von italienischen Strafbehörden festgesetzt. Die zivilen Seenotretter ankern dicht gedrängt an den Kais der maltesischen Hauptstadt Valetta: das Rettungsschiff der Migrant Offshore Aid Station, ein paar hundert Meter weiter die „Seefuchs“ der Organisation Sea-Eye, kurz dahinter die „Sea Watch 2“.

Die Nichtregierungsorganisationen haben in den vergangenen Jahren nicht nur tausende Menschen vor dem Ertrinken bewahrt, sondern auch die Öffentlichkeit wachgerüttelt und auf das Versagen der EU aufmerksam gemacht. „Wir wollten zeigen, dass man auch mit wenigen Ressourcen das Sterben stoppen kann“, sagt Pauline Schmidt von Jugend Rettet. „Wir haben bewiesen, dass auch ein paar unerfahrene Jugendliche eine solche Mission auf die Beine stellen können.“

Statt ihnen für ihren Einsatz zu danken, erklärte die EU-Grenz­schutz­agen­tur Frontex – unterstützt vom deutschen Innenminister – die NGOs zum Sicherheitsrisiko, das Migranten anlocke. Inzwischen macht die EU in Kooperation mit libyschen Milizen den Fluchtkorridor im Mittelmeer dicht.

Während die EU die zivilen Retter im Stich lässt, investiert sie in die Aufrüstung der Grenze. So vergab Frontex zwischen 2012 und 2015 Aufträge für die Grenzsicherung in Höhe von 29,2 Millionen Euro an private Unternehmen. Und auch Staatsunternehmen wie die Bundesdruckerei verdienen an den Flüchtlingen. Der Konzern mit Sitz in Bonn hat jüngst von Marokko einen Auftrag zur Entwicklung und Umsetzung eines „nationalen Grenzkontrollsystems“ erhalten. Im Gegenzug erklärt sich Marokko damit einverstanden, dass die biometrischen Daten von den neuen Hightechgrenzen mit Informationen über abgeschobene Flüchtlinge abgeglichen werden.

Den größten Nutzen hat die Sicherheitsindustrie

Das steht in Einklang mit der Politik der EU-Kommission. Deren Generaldirektion für Migration und Inneres, die auch für Asyl zuständig ist, verfolgt das ausdrückliche Ziel, die Sicherheitsindustrie zu fördern. Auf ihrer Web­site erklärt das Haus von EU-Kommissar Di­mi­tris Av­ra­mo­pou­los, man wolle unter anderem durch Forschungsaufträge Maßnahmen ergreifen, „um die marktführende Position der EU-Unternehmen in den kommenden Jahren zu sichern“. Damit verliert die Asylpolitik ihre Autonomie, sie wird – wie seit Bestehen der gemeinsamen europäischen Außengrenze erkennbar – fast automatisch mit sicherheits- und wirtschaftspolitischen Aspekten vermengt.

Waren in den 1960er Jahren noch Arbeits- und Kultusminister für Mi­gra­tion zuständig, übernahmen bis in die 1980er Jahre die Innenminister das Themenfeld. Sie sorgten zusammen mit Bundeskanzler Helmut Kohl dafür, dass der Vertrag von Maastricht 1993 eine effektive Zusammenarbeit der EU-Staaten zur Migrationskontrolle vorsah. Mit den Dubliner Verordnungen wurde in den darauffolgenden Jahren die Bearbeitung von Asylanträgen in Europa fast ausschließlich auf die Grenzstaaten in Südeuropa abgewälzt.

Fortan wurden Migration, Terrorabwehr, Grenzschutz und Kampf gegen organisierte Kriminalität in einem Atemzug genannt – und das politische Asyl fiel dem Sicherheitsdenken zum Opfer. 1998 zog die österreichische Rats­präsidentschaft eine Verbindung zwischen illegaler Immigration und Asyl, um für das Fingerabdruckidentifizierungssystem Eurodac zu werben. So hieß es in einem geleakten Regierungspapier: „In den vergangenen Jahren hat der starke Anstieg der Zahlen illegaler Immigranten (und damit potenzieller Asylbewerber) gezeigt, dass ihre Fingerabdrücke im System gespeichert werden müssen.“

Solange es kein Einwanderungsgesetz gibt, werden potenzielle Arbeitsmigranten weiterhin versuchen, über ein Asylverfahren in die EU-Länder zu gelangen. Bisher können nur Höchstqualifizierte ein Arbeitsvisum für die EU erhalten. Doch die Agrarpolitik der EU, die unterschiedlichen Probleme in den Herkunftsländern und die globale Erderwärmung werden weiter dafür sorgen, dass vor allem auch weniger qualifizierte Menschen in die EU einreisen wollen.

Die Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA) hat den EU-Staatschefs umfassende Vorschläge für temporäre Arbeitserlaubnisse unterbreitet. Ein Modell könnten die Verträge für Saisonarbeiter aus Lateinamerika sein, die regelmäßig zur Ernte nach Spanien einreisen, oder die befristete Aufenthaltserlaubnis für Reisen zur medizinischen Behandlung. Zahlreiche Hochschulen setzen sich dafür ein, dass mehr Visa für Studierende und Wissenschaftler vergeben werden.

Nach den offiziellen Positionen der EU zu urteilen, müsste es möglich sein, derartige Regelungen zu treffen. Schließlich will sie nach eigener Aussage langfristig neue Regeln für legale Migration etablieren und eine auf Solidarität ausgerichtete Asylpolitik aller Mitgliedstaaten schaffen. Doch das sind wohl alles nur Lippenbekenntnisse, wie die Debatten über die Dublin-Verordnung zeigen. Bei deren Weiterentwicklung geht es zuerst und vor allem darum, möglichst wenige Menschen nach Europa einreisen zu lassen.

Einige europäische Linke setzen sich hingegen bereits für einen anderen Ansatz ein. Im Februar 2017 mobilisierte Ada Colau, die Bürgermeisterin von Barcelona, 160 000 Menschen, die unter dem Motto „Wir wollen sie willkommen heißen“ für eine humanitäre Flüchtlingspolitik auf die Straße gingen. Die Kundgebung endete am Strand von Barcelona vor der „Anzeige der Schande“, einem Denkmal für die Menschen, die in den vergangenen Jahren im Mittelmeer ertrunken sind. Eine Anzeigetafel zeigt die aktuelle Zahl der Flüchtlinge, die seit Jahresbeginn beim Versuch, das Mittelmeer zu überqueren, gestorben sind, darunter steht: „Es ist nicht nur eine Zahl“.

Während in anderen Ländern fremdenfeindliche Parteien und Bewegungen Stimmung gegen Zuwanderer machen, will Barcelona die Asyldebatte von Sicherheitsfragen loslösen und einen Diskurs über Menschenrechte und Solidarität anstoßen. Konzepte und Gesetzesinitiativen für Botschaftsasyle und humanitäre Visa, geteilte Verantwortung, Resettlement-Programme, erleichterte Arbeitsmigration und Bekämpfung von Fluchtursachen liegen seit Jahren oder sogar Jahrzehnten vor. Sie müssten nur beschlossen und umgesetzt werden.

1 Die Dublin-Verordnungen regeln die Zuständigkeit der EU-Mitgliedstaaten für die Durchführung von Asylverfahren. Die Vorschläge der EU-Kommission zu Dublin IV vom Mai 2016 halten am Prinzip fest, dass die Erst­ein­reise­staaten zuständig sind, und sehen erstmalig sogar eine verstärkte Auslagerung in Länder außerhalb der EU vor.

2 „Push“-Faktoren sind beispielsweise Hunger und Krieg im Herkunftsland, „Pull“-Faktoren Aussicht auf Arbeit und Chancen auf Anerkennung von Asyl im Zielland. Tatsächlich sind etablierte Migrationskorridore etwa zu früheren Kolonien genauso mitentscheidend für eine Migration wie die wahrgenommenen Mi­gra­tions­kulturen.

Arne Semsrott ist Politikwissenschaftler.

© Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 12.10.2017, von Arne Semsrott