Vereint entzweit und unverzichtbar
von Samantha Power
Die Widersprüche der UNO liegen seit ihrer Gründung offen zutage, und seit dem Ende des Kalten Krieges sind völkerrechtlich legitimierte Instrumente zur Kriseninterventionnötiger denn je. Doch die UNO kann nicht mehr leisten, als ihre Mitgliedstaaten zu geben bereit sind. Das gilt nicht nur für die finanzielle Ausstattung
Vor sechzig Jahren fanden sich die gebeutelten Sieger des Zweiten Weltkriegs in San Francisco zusammen, um sich über die Grundzüge einer weltumspannenden Organisation zu verständigen, die nach den Worten von Henry Cabot Lodge, dem späteren US-Botschafter bei der UN, der Welt zwar „nicht den Himmel bringen, aber uns vielleicht vor der Hölle bewahren könnte“.
Die treibende Kraft bei der Gründung der UNO war Präsident Franklin D. Roosevelt, aber als er 13 Tage vor Beginn der San-Francisco-Konferenz starb, musste sein Vizepräsident Harry Truman die Sache übernehmen. Im Vergleich mit Truman muss der heutige Präsident George W. Bush als ein weitgereister Mann gelten. Der Nachfolger Roosevelts war nur einmal in Europa gewesen, als Soldat im Ersten Weltkrieg. Doch über die Bedeutung des Engagements der USA für die UN war er sich durchaus im Klaren: „Amerika kann sich nicht mehr blasiert hinter seine geistige Maginot-Linie zurückziehen“, meinte er, denn dafür stehe zu viel auf dem Spiel: „In einer Welt ohne einen solchen Mechanismus wären wir zu ständiger Angst vor unserer eigenen Vernichtung verdammt. Es war also wichtig, dass wir einen Anfang machten, und sei er noch so unvollkommen.“1
Die Unvollkommenheiten der UN traten von Beginn an klar zutage. Ihre Konstruktion beruhte auf einer Reihe eindeutiger Widersprüche. Der erste bestand darin, dass sich die Notwendigkeit der UN aus der Existenz von aggressiven und hochgerüsteten Staaten begründete, denen man nicht zutrauen konnte, Kriege zu vermeiden, die Rechte ihrer Bürger zu respektieren oder sich für das Leiden von Menschen jenseits ihrer Grenzen zu interessieren – und doch war die neue Weltorganisation für die Durchsetzung ihrer Prinzipien auf ebendiese selbstsüchtigen Staaten angewiesen.
Ein zweiter Widerspruch: Wie die Verfassung der USA die Gleichheit der Menschen feiern, zugleich aber die Sklaverei rechtfertigen konnte, befürwortete auch die UN-Charta großspurig das Selbstbestimmungsrecht der Völker und den Prozess der Entkolonialisierung, nahm es zugleich aber hin, dass einflussreiche Mitgliedstaaten wie Großbritannien und Frankreich sich weigerten, ihre Kolonien aufzugeben.2 Der dritte Widerspruch lag darin, dass Diktaturen und Demokratien auf der Bühne der UN die gleichen Rechte hatten, während die Charta von den Mitgliedstaaten forderte, die Menschenrechte und die grundlegenden Freiheiten zu respektieren.
Ein vierter Widerspruch: Für die UNO gilt wie für jede Organisation, dass ihre Effektivität von einem durchsetzungsfähigen Führungsorgan abhängt, doch faktisch lag die Macht in den Händen des Sicherheitsrats. Der aber war ein endlos streitender Ausschuss, der von den fünf ständigen Mitgliedern (USA, Großbritannien, Frankreich, Sowjetunion und China) dominiert wurde, die ganz unterschiedliche Interessen und politische Systeme repräsentierten. Und dem gewählten Generalsekretär, der die Weltorganisation nach außen repräsentiert, beließ man nicht viel mehr Kompetenzen als einem „obersten Verwaltungsbeamten“. Er war lediglich ein Diener der Mitgliedstaaten, wie auch die Beschreibung seines Arbeitsplatzes als „Sekretariat“ erkennen lässt.
Der fünfte Widerspruch lag darin begründet, dass die Idee der UNO auf der Prämisse beruhte, dass Kriege – also Angriffshandlungen über nationale Grenzen hinweg, wie sie ja auch den Zweiten Weltkrieg ausgelöst hatten – nach wie vor die größte Gefahr für die Menschheit darstellen. Doch die spätere Geschichte verlief anders und hat gezeigt, dass die größte Bedrohung von Staaten ausgehen kann, die sich an den Rechten ihrer eigenen Bürger vergehen, oder auch von Terroristen, die überhaupt keine Grenzen respektieren.
Angesichts dieser Widersprüche ist es kein Wunder, dass etwa Charles de Gaulle nur von den „so genannten Vereinten Nationen“ gesprochen und sich auch David Ben Gurion, der erste israelische Staatspräsident, abfällig über die UN geäußert hat. Die Spötteleien begannen also schon mit ihrer Gründung, doch erst 2004 war es so weit, dass selbst Generalsekretär Kofi Annan von einem annus horribilis für die UNO sprechen musste. Denn die schlitterte 2003 tatsächlich in ihre schlimmste Krise, nachdem sich der mächtigste Mitgliedstaat USA, im Verein mit Großbritannien, über den politisch gespaltenen Sicherheitsrat hinweggesetzt und den Irakkrieg begonnen hatte.
Als es dann für kurze Zeit so aussah, als sei dieser Krieg gewonnen, suchten die europäischen Kriegsgegner und die US-Regierung ihre Differenzen beizulegen, und sie taten dies gezielt im Rahmen der Vereinten Nationen. So verabschiedete der Sicherheitsrat eine ambivalente Resolution, die einerseits den USA entgegenkam, indem sie die Okkupation des Irak anerkannte, andererseits aber den Europäern Recht gab, insofern der Generalsekretär aufgefordert wurde, eine politische UN-Mission nach Bagdad zu entsenden, die für eine beschleunigte Machtübergabe an die Iraker sorgen sollte.
Kofi Annan fühlt sich fast nie imstande, auch nicht im Fall eines völlig unrealistischen Auftrags, dem Sicherheitsrat entgegenzutreten. In diesem Fall ließ er sich auf das Irak-Mandat verpflichten, weil er vor der Drohung aus Washington kuschte, andernfalls werde die UNO an Bedeutung einbüßen. Und er tat noch mehr: Er entsandte „den besten Mann der UN“, seinen alten Freund Sergio Vieira de Mello, den erfahrensten Diplomaten der Weltorganisation, der sich besonders bei „Nation Building“-Aufträgen bewährt hatte. Elf Wochen lang versuchte de Mello, ein total widersprüchliches Irak-Mandat auszuüben, also die Okkupation zu unterstützen und zugleich abzuschaffen. Dann fiel er einem Selbstmordattentat zum Opfer, das mit ihm 21 Menschen in den Tod riss.
Für die UN wurde 2004, was eigentlich niemand für möglich hielt, ein noch schlimmeres Jahr. Zunächst kam heraus, dass Blauhelmsoldaten aus Marokko, Südafrika, Nepal, Pakistan und Uruguay bei ihren Einsätzen im Kongo und in Liberia junge Frauen sexuell ausgebeutet hatten. Dann gerieten UN-Beamte, die für das 65 Milliarden Dollar teure „Oil for Food“-Programm für den Irak verantwortlich waren, in den Verdacht, Bestechungsgelder kassiert zu haben. Und die UN-Kommission für Menschenrechte, deren Vorsitz 2003 bei Libyen gelegen hatte, wählte als Nachfolger für die nächsten drei Jahre ausgerechnet den Sudan, dessen Regierung ein ethnisches Gemetzel in Dafur angelastet wurde, das bis 2004 bereits zehntausende Todesopfer gefordert hatte. Anfang 2005 schließlich, als das Ansehen der Weltorganisation auf seinen Tiefpunkt gesunken war, verkündete die Bush-Administration, als nächsten UN-Botschafter werde sie ausgerechnet John Bolton berufen, einen Mann also, der die Existenz des Völkerrechts leugnet und mit dem Spruch hausieren geht, es würde eigentlich „überhaupt nichts ausmachen, wenn [das UN-Gebäude] zehn Stockwerke weniger hätte“.
Am 29. März 2005 stellte ein Reporter dem UN-Generalsekretär die wenig überraschende Frage, ob er nicht die Zeit für seinen Rücktritt gekommen sehe. Annan hatte seit langem den Witz in seinem Repertoire, das Kürzel SG für „Secretary General“ stehe in Wahrheit für „ScapeGoat“, also Sündenbock. Doch bei dieser Frage schlug er ungewohnt heftig zurück: „Nein, verdammt“, meinte er patzig und sagte voraus, dass er bis zum 60. Jahrestag der UN-Gründung im September 2005 seine Reformen durchsetzen werde.
Über eine „UN-Reform“ wird geredet, seit die Organisation existiert, und in der Regel ohne Ergebnis. Doch nie hat man sich so verzweifelt auf das Thema geworfen wie heute. Inzwischen wurden schon wichtige Beamte aus dem inneren Kreis um Annan zum Rücktritt gezwungen – und das in einer Organisation, in der es schwer ist, einen Posten zu erobern, aber fast unmöglich, ihn später zu verlieren. Zudem hat Annan empfohlen, die nach äußerst laxen Besetzungskriterien funktionierende und deshalb immer wieder anstößige Menschenrechtskommission aufzulösen und stattdessen ein kleineres Gremium zu bilden, dem nur Staaten angehören können, die tatsächlich die Menschenrechte respektieren. Schließlich haben Deutschland, Japan, Brasilien und Indien einen Block gebildet, der sich dafür einsetzt, dass diese Länder ständige Mitglieder in einem zu erweiternden Sicherheitsrat werden.
Über die UN-Reform wird jedoch nirgends lauter und arroganter diskutiert als in Washington, wobei allerdings die selbst ernannten „Reformer“ höchst unterschiedliche Motive haben. Ein langjähriger UN-Gegner wie Tom DeLay, Vorsitzender der republikanischen Mehrheitsfraktion im Repräsentantenhaus, will mit einer Reform die Autonomie der Weltorganisation einschränken, die nach seiner Meinung „eine der größten Apologeten von Tyrannei und Terror“ darstellt. Sein republikanischer Kollege Henry Hyde hat im Repräsentantenhaus eine Gesetzesvorlage eingebracht, die am 17. Juni 2005 verabschiedet wurde. Danach sollen die USA 50 Prozent ihrer UN-Beiträge einbehalten, wenn bis Ende 2007 nicht mindestens 32 von 46 formulierten Bedingungen erfüllt sind. Die Bush-Regierung hat gegen diese Gesetzesvorlage – zu Recht – zwei Einwände: Zum einen werde damit der Einfluss der USA auf die UN just zu einem Zeitpunkt reduziert, an dem er am dringendsten vonnöten wäre; zum anderen würde die Autorität des Präsidenten, die Außenpolitik allein zu bestimmen, beschnitten. Dieses zweite Argument dürfte für eine Regierung, die dafür bekannt ist, dass sie unbedingt an ihrem Führungsmonopol festhalten will, schwerer wiegen.
Die Bush-Regierung hat sich von Ideen à la DeLay und Hyde distanziert und sich öffentlich für die Absicht Annans ausgesprochen, die UN-Menschenrechtskommission abzuschaffen und die Führungs- und Verwaltungsmethoden der Weltorganisation von Grund auf zu überholen. Sie fordert weiterhin, innerhalb der UN einen caucus of democracies aufzubauen und eine Konvention zur Terrorismusbekämpfung zu verabschieden. Erst wenn diese Veränderungsprozesse auf den Weg gebracht sind, will man sich auf eine Debatte über die Vergrößerung des Sicherheitsrats einlassen. Würde eine solche Debatte am Anfang stehen, könnte sie „den ganzen Sauerstoff aus dem Raum saugen“, befürchtet State-Department-Sprecher Nicholas Burns.
Die Bush-Regierung will nur zwei neue ständige Sitze im Sicherheitsrat (allerdings ohne Vetorecht) zugestehen, von denen einer an Japan gehen soll, das nach den USA die höchsten UN-Beiträge zahlt. Zudem befürwortet Washington „zwei oder drei“ weitere nichtständige Sitze. Eine drastischere Vergrößerung wäre „nicht so leicht verdaubar“, meint Nicholas Burns, und würde die Entscheidungsfindung im Sicherheitsrat noch umständlicher machen, als sie schon ist. Ein so großes Gremium könnte dann ähnlich schwerfällig werden wie der Nato-Rat mit seinen 26 Mitgliedern. Doch Bush hielt sich lange ungewohnt bedeckt, wenn man ihn fragte, ob Washington einen ständigen Sitz für Brasilien, Deutschland oder Indien befürwortet. Anfang August aber hat UN-Botschafter Bolton, den Bush ohne Zustimmung des US-Senats berufen hat, zusammen mit China ein Veto gegen den Antrag des Viererblocks angekündigt.
Im UN-Hauptquartier in New York wird eine Reform durchaus begrüßt. Kein Wunder angesichts der ramponierten Reputation der Weltorganisation ausgerechnet in dem Lande, in dem sie ihren Sitz hat. Doch altgediente UN-Mitarbeiter haben ihre Zweifel, wie weit die Reformen gehen können, denn schließlich rühren viele der Probleme nur von den Rissen in den Fundamenten der UN, die bereits seit ihrer Gründung 1945 existieren, sowie von politischen Entscheidungen, die von den mächtigsten Mitgliedstaaten ganz bewusst getroffen wurden. Richard Holbrooke, UN-Botschafter der USA in der Clinton-Ära, pflegt es so zu formulieren: „Wenn man ‚die UN‘ für den Genozid in Ruanda oder das Atomwaffenprogramm des Iran verantwortlich macht, ist das so, als würde man es dem Madison Square Garden anrechnen, wenn die New York Knicks schlecht spielen.“ Die UNO ist – wie die New Yorker Basketball-Arena – zuerst und vor allem ein Gebäude. Wenn man den Bau reparieren will, muss man zunächst etwas anderes reformieren: das Verhalten und die politischen Prioritäten der Staaten, die dieses Gebäude bewohnen.
Zur Illustration mögen zwei immer wieder genannte Beispiele für die „Krise“ der UN dienen: die Blauhelmeinsätze und die Misswirtschaft in der Zentrale. Bevor der Skandal des „Oil for Food“-Programms bekannt wurde, waren die übelsten Flecken auf der UN-Flagge die blutigen Massaker von 1994 in Ruanda und von 1995 in Srebrenica. Beide ereigneten sich in Gegenwart von UN- Friedenstruppen. Im Fall Ruanda wurde Kofi Annan, damals Leiter der Abteilung Friedenserhaltende Operationen in der New Yorker Zentrale, von seinem Kommandeur vor Ort, General Romeo Dallaire, vor dem drohenden Gemetzel gewarnt. Unverzeihlicherweise versäumte es Annan damals, den Sicherheitsrat zu alarmieren.
Doch wer trägt die größere Verantwortung dafür, dass es zu diesem Völkermord kommen konnte? Etwa der UN-Generalsekretär, der davon ausging, dass eine Warnung die Mitgliedstaaten dazu bringen würde, nichts zu tun oder aber sich aus Ruanda abzusetzen (eine Einschätzung, die sich während des Genozids bewahrheitete, als die westlichen Mächte nichts anderes taten, als ihre UN-Kontingente abzuziehen). Oder Bill Clinton, der aus Angst, die US-Soldaten könnten in das Chaos hineingezogen werden, den sofortigen Abzug der Blauhelme forderte, während die Massaker noch in vollem Gange waren? Oder aber François Mitterrand, der geholfen hatte, die Genozidtruppe zu bewaffnen und auszubilden, und der in der Endphase des Genozids eine Fallschirmtruppe absetzen ließ, um die Anführer des Verbrechens in Sicherheit zu bringen?
Und hat sich seitdem etwas geändert? Gewiss, die westlichen Länder haben die „Lehren der 1990er-Jahre“ beherzigt. Aber nicht, indem sie dafür gesorgt haben, dass friedenserhaltende Einsätze richtig angepackt werden. Stattdessen zogen sie daraus die Lehre, überhaupt keine Friedenseinsätze mehr zu riskieren. Bewaffnete Einheiten aus westlichen Ländern unter der blauen UN-Flagge sind zur extremen Ausnahme geworden. Die fünf Länder, die heute die größten Blauhelmkontingente stellen, sind Bangladesch, Indien, Pakistan, Äthiopien und Ghana. Die erfolgreichen Militäroperationen der letzten Jahre wurden nicht von den UN durchgeführt, sondern stets von einer „Koalition der Willigen“. Das gilt für die Intervention der Nato im Kosovo, für die australische Rettungsaktion zugunsten von Osttimor (beides 1999) und für das britische Eingreifen in Sierra Leone (2000). Statt also die kollektiven Strukturen zu stärken, um wichtige humanitäre und friedenserhaltende Aufgaben tatsächlich bewältigen zu können, haben sich die reichen Länder für das Rezept entschieden: auf eigene Faust operieren oder zu Hause bleiben. Deshalb sind es heute die armen Länder, die sich mit den härtesten Konfliktfällen – wie im Kongo und in Darfur – herumzuschlagen haben.
Was die friedenserhaltenden Einsätze betrifft, so ist die UNO ganz bestimmt nicht jenes „gigantische, vor sich hin rostende Schiffswrack“, als das John Bolton sie sieht. In Wirklichkeit hat die Organisation nicht einmal das nötige Personal, um ihre laufenden Friedensmissionen zu managen. Nach den Debakeln der 1990er-Jahre hatte Annan versprochen, es werde nie wieder so weit kommen, dass sich die UNO an zu vielen Orten engagiert. Doch dann musste er erleben, wie der Sicherheitsrat nicht weniger als 18 neue Einsätze autorisierte. Zugleich haben die Einsparungen in der Zentrale dazu geführt, dass die 66 000 Blauhelme von gerade mal 500 Beamten unterstützt werden. Kein einziger westlicher Staat würde auch nur im Traum daran denken, seine Soldaten bei so wenig personellem Back-up im Hauptquartier mit derart gefährlichen Missionen zu betrauen. Doch wenn die Truppen aus den Entwicklungsländern kommen, haben die Großmächte offenbar wenig Bedenken.
Am besten hat Kevin Kennedy, einer der erfahrenen Operationsplaner im New Yorker UN-Hauptquartier, das Dilemma beschrieben, als er mir sagte: „Die Orte, wo man die UNO hinschickt, verschlingen die eingesetzten Kräfte. Das soll weder Inkompetenz noch Faulheit entschuldigen, aber diese Orte verschlingen dich. Und wenn es nicht so wäre, würden die UN-Mitgliedstaaten selbst eingreifen.“ Wenn also die UNO nur an Konfliktherden zum Einsatz kommt, die alle anderen gern meiden, und wenn sie dann noch mit minimalen Ressourcen auskommen muss, darf man sich nicht wundern, wenn ihre Erfolgsbilanz nicht berauschend ausfällt.
Das zweite hochgesteckte Ziel der Reformverfechter betrifft die Managementebene der UN, die als notorisch uneffektiv gilt. Präsident Reagan meinte einmal, wenn man von der US-Regierung eine Subvention bezieht, sei das wegen der ganzen damit verbundenen Vorschriften etwa so, als heirate man eine junge Frau, um dann festzustellen, dass noch vor den Flitterwochen ihre ganze Familie mit in die Wohnung einzieht. Aber noch niederschmetternder sind die Auflagen, die Mitgliedstaaten bei ihren UN-Beiträgen durchsetzen. Sie bestehen darauf, dass jeder Cent, den sie an die UN abführen, peinlich genau abgerechnet wird. Die Folge ist, dass höhere Beamte selbst bei äußerst gefährlichen UN-Missionen häufig mehr Zeit auf bürokratischen Kram verwenden als auf sinnvolle Gedanken über die HIV-Prävention, auf die Planung von Wahlen oder auf Maßnahmen, die für sichere Straßen sorgen sollen. Und was die Personalentscheidungen betrifft, so versuchen die Mitgliedstaaten, ihre eigenen Leute in die Jobs zu drücken, völlig unabhängig von ihrer Eignung für die jeweilige Aufgabe. Kofi Annan hat mir das Problem so geschildert: „Wir kriegen nicht die Besten. Die Regierungen neigen dazu, uns die Leute zu schicken, die sie selbst nicht unterbringen können.“
Aber es wäre zu einfach, die UN-Mitgliedstaaten für das annus horribilis 2003 verantwortlich zu machen oder ihnen die Last der Reform aufzubürden. Wahr ist nämlich auch, dass die UNO in den wenigen Fällen, da sie die besten Leute anzieht, diese anschließend nur selten zu halten vermag. Als Sergio de Mello 2003 in Bagdad starb, bekannte ein sichtlich erschütterter Kofi Annan: „Ich hatte nur einen Sergio.“ Das war die angemessene Würdigung eines tapferen und brillanten UN-Beamten, zugleich aber auch eine unabsichtliche Anklage gegen die eigene Organisation. Eigentlich hätte der Generalsekretär für einen Kriseneinsatz auch andere Leute zur Verfügung haben müssen – und nicht nur immer de Mello oder den früheren algerischen Außenminister Lakhdar Brahimi, der inzwischen 71 Jahre alt ist. Die UNO frisst ihre jungen Leute auf. Und die Qualität ihres Personals wird auch weiterhin defizient sein, wenn ihre Führung nicht mit der defätistischen Mentalität ihrer Mitarbeiter aufräumt, die sich nur als Opfer der Machenschaften von Mitgliedstaaten sehen, statt umgekehrt auf diese gestaltend einzuwirken.
Nun ist es höchst unwahrscheinlich, dass die UN-Mitgliedstaaten sich in absehbarer Zeit ändern werden. Daher dürften sich auch die eingangs dargestellten Widersprüche in der Struktur der Vereinten Nationen nicht leicht überwinden lassen. Die mächtigsten Staaten der Welt müssen erst noch davon überzeugt werden, dass eine starke UNO auch ihren Interessen förderlich ist. Doch schon heute kann man allen klar machen, dass eine UNO, die in einem Skandalsumpf versinkt, die Mitgliedstaaten wie auch die verschiedenen UN-Organisationen davon abhält, die weit vordringlicheren Aufgaben der internationalen Sicherheit und der humanitären Intervention anzugehen.
Sechzig Jahre nach Gründung der Weltorganisation muss das Generalsekretariat also endlich das eigene Haus in Ordnung bringen: Es muss junge Talente rekrutieren, an sich binden und zur Entfaltung bringen. Es muss dafür sorgen, dass erstklassige Mitarbeiter und Sonderbeauftragte auf der Basis ihrer Qualitäten und nicht ihrer Nationalität ernannt werden. Und es muss von sich aus – ohne Scheu und Scham – an die Öffentlichkeit gehen, wenn Mitgliedstaaten erneut versuchen sollten, UN-Programme zu manipulieren, für die eigenen Zwecke auszunutzen oder finanziell auszutrocknen. Und schließlich gibt es eine Reform, die das UN-Generalsekretariat ganz sicher auf eigene Faust durchsetzen kann: Es muss verhindern, dass die UNO-Flagge als Feigenblatt missbraucht wird, hinter dem die Mitgliedstaaten ihre Uneinigkeit und ihre Gleichgültigkeit verbergen.
Aus dem Englischen von Niels Kadritzke Die Journalistin Samantha Power ist heute Direktorin des Carr Center for Human Rights Policy an der John F. Kennedy School of Government der Harvard University. Für „A Problem from Hell – America and the Age of Genocide“, New York (Harper Perennial), wurde sie 2003 mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet.