16.09.2005

Sicherheit für die Welt

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Sicherheit für die Welt

von Olivier Corten

Am sechzigsten Jahrestag der UNO-Gründung wissen die Protagonisten wie die Kritiker der Weltorganisation, dass es so nicht weitergeht. Nach der „heroischen Epoche“ der Entkolonialisierung und einer langen Sequenz erfolgreicher und gescheiterter Friedensoperationen stößt die UNO an die Grenzen des Völkerrechts. Und wenn von der „Blockade“ der UNO die Rede ist, beklagen die interessierten Mächte häufig nur, dass diese ihre vorgefassten Pläne nicht zu legitimieren bereit ist. Die UNO kann sich als „Friedensmacht“ nur bewähren, wenn sich alle Mitgliedstaaten ihrer Charta verpflichtet fühlen.

In Asien war der Zweite Weltkrieg noch nicht beendet, als im Juni 1945 in San Francisco die Charta der Vereinten Nationen verabschiedet wurde. Dieses Ereignis war ein Wendepunkt in der Geschichte der internationalen Beziehungen, denn seitdem ist jedwede „Anwendung von Gewalt“ – also Krieg wie auch andere Formen militärischer Intervention – im Grundsatz untersagt. Ein zentralisiertes Organ – der Sicherheitsrat – ist befugt, zwischenstaatliche Streitigkeiten beizulegen, und darf zu diesem Zweck wirtschaftliche, aber auch militärische Zwangsmaßnahmen beschließen.

Nach den vergeblichen Bemühungen des Völkerbunds markierte die Gründung der UNO den Übergang von einem System des „gerechten Kriegs“, in dem Militäraktionen fast ausschließlich in der Entscheidungsgewalt souveräner Staaten lagen, zu einer rationalen Rechtsordnung. Fortan waren Militäraktionen nur noch in zwei Fällen erlaubt: als Notwehr gegen Angriffshandlungen und bei einer durch den Sicherheitsrat festgestellten Bedrohung des Friedens. Die bloße Berufung auf „höhere Werte“, die ja keineswegs einheitlich sind, reicht zur Rechtfertigung militärischer Handlungen nicht mehr aus. Zudem bedarf jede Anwendung von Gewalt der Genehmigung oder Überwachung durch den Sicherheitsrat. In Erinnerung an das Scheitern des Völkerbunds nahm die Idee der kollektiven Sicherheit damit eine strengere Form an, wobei man auch hoffte, der eingebaute Zwangsmechanismus könne einen bewaffneten Konflikt zwischen den USA und der Sowjetunion verhindern.

Die strengen Regeln der UN-Charta konnten die zahlreichen Kriege freilich nicht verhindern. Die Sowjetunion wie die Vereinigten Staaten unternahmen unter Berufung auf ihre „gerechte Sache“ unilaterale Militäraktionen: die UdSSR in Ungarn, der Tschechoslowakei und in Afghanistan; die USA in Kuba, Grenada und Panama und natürlich in Vietnam und in Nicaragua.

In Afrika, Asien und Lateinamerika entwickelten sich zahlreiche Low-Intensity-Konflikte, auch Kriegsfolgen wie die dauerhafte Besetzung von Palästina waren nicht rückgängig zu machen. Weil beide Blöcke mit ihrer Vetomacht den Sicherheitsrat zur Ohnmacht verurteilten, funktionierte er allenfalls noch als Diskussionsforum, zuweilen auch als Verwalter von Waffenstillständen mittels „friedenserhaltender Operationen“ wie in Zypern und im Libanon.

Dennoch konnte das Ende des Ost-West-Konflikts weder die UNO noch das Völkerrecht regenerieren. Zwar wurde der erste Golfkrieg 1991 unter der Ägide des UN-Sicherheitsrats unternommen, weil der Irak sich mit der Okkupation von Kuwait des „Friedensbruchs“ schuldig gemacht hatte, doch das bedeutete keinesfalls den Beginn einer neuen Weltordnung. Denn schon 1999 zeigte der Angriff der Nato auf Jugoslawien, dass die Großmächte den Sicherheitsrat umgehen können, wenn seine Zustimmung nicht gesichert ist.

Die Entwicklung driftete verstärkt in diese Richtung, als die USA nach dem 11. September 2001 den „Krieg gegen den Terrorismus“ ausriefen und eine Art permanenten Ausnahmezustand1 verkündeten. Mit dem Sturz der Taliban, dem in streng völkerrechtlichem Sinne kein bewaffneter Angriff des afghanischen Staats vorausging, und mit der vom Sicherheitsrat nicht autorisierten Militärintervention im Irak kehrte am Beginn des 21. Jahrhunderts der militärische Unilateralismus in spektakulärer Weise auf die Weltbühne zurück.

Als Institution, die zur Wahrung des internationalen Kräftegleichgewichts konzipiert war, wird die UNO in der Realität von den Großmächten entweder instrumentalisiert oder durch die Interessenkonflikte dieser Mächte gelähmt. Was diese allerdings nicht hindert, ohne UN-Mandat zu handeln, wenn es in ihrem Interesse liegt.

Dass die UN-Charta im Hinblick auf militärische Gewaltanwendung toter Buchstabe geblieben ist, gilt freilich nur bedingt. Immerhin bleibt der Multilateralismus für den politischen Diskurs ein wichtiger Bezugspunkt. Nach wie vor wird jede Militäraktion formal unter Verweis auf internationales Recht gerechtfertigt. Und niemand wagt, die völkerrechtlichen Normen als solche in Frage zu stellen. Allerdings werden immer wieder politische Doktrinen ersonnen, die das Umgehen dieser Normen rechtfertigen sollen. Beliebt ist dabei die Berufung auf ein Notwehrrecht wie im Fall Afghanistan 2001 oder die Behauptung, der Sicherheitsrat habe der Aktion implizit durchaus zugestimmt wie im Fall von Jugoslawien 1999 und im Irak 2003.

Der Kosovokrieg sollte kein Präzedenzfall sein

Ein humanitäres Recht auf Einmischung, wie es von verschiedener Seite postuliert wird, findet bei den meisten Staaten keine Zustimmung. Besonders die europäischen Staaten begründeten ihr militärisches Eingreifen im Kosovo 1999 mit außergewöhnlichen Umständen und wollten es nicht als Präzedenzfall verstanden wissen.2 Der Irakkrieg hingegen wurde in der Weltöffentlichkeit und von den meisten Regierungen heftig kritisiert.

Mit der Idee des Präventivkriegs hat offiziell bislang noch kein Staat versucht, seine Militäraktionen rechtlich zu begründen. Auch beim Irakkrieg hielten die USA und ihre Koalitionspartner es stattdessen für angezeigt, alte Sicherheitsratsresolutionen neu zu interpretieren, um ihrem Vorhaben einen Anschein von Rechtmäßigkeit zu geben. Allerdings spielt die Idee im Rahmen der UN-Reformdebatte eine gewisse Rolle (siehe den Beitrag von Samantha Power S. !2/13). Wir haben es hier also mit einem doppelten Diskurs zu tun. Gegenüber der eigenen Öffentlichkeit können es sich die Regierenden erlauben, ein militärisches Eingreifen mit politischen (Terrorismusbekämpfung) oder moralischen Motiven (humanitäres „Recht“ auf Einmischung) zu begründen. Gegenüber anderen Staaten halten sie dagegen an den klassischen rechtlichen Argumenten fest, die sie unzulässig weit interpretieren.

Das relative Scheitern der UNO geht nur zum Teil auf ihre institutionellen Schwächen zurück. Der in Artikel 47 vorgesehene Generalstabsausschuss, der sich aus den Generalstabschefs der ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats zusammensetzen und für „die strategische Leitung aller dem Sicherheitsrat zur Verfügung gestellten Streitkräfte verantwortlich“ (Abs. 3) sein sollte, wurde nie gegründet. Die Lücke füllen informelle Mechanismen, die den ständigen Mitgliedern die Kontrolle über ihre strategischen Mittel belassen. Seit dem Koreakrieg wurden jeweils für ein konkretes Konfliktgebiet UN-Kontingente zusammengestellt – die so genannten Blauhelme –, die rechtlich zwar der UNO unterstanden, faktisch aber von den Streitkräften der Mitgliedstaaten abgestellt wurden.

In militärischer Hinsicht blieben die UN also auf den guten Willen der Mitgliedstaaten angewiesen, was mitunter verheerende Konsequenzen hatte, wie etwa in Ruanda 1994, als sich die belgischen Blauhelme zu Beginn des Völkermords 1994 zurückzogen. Bei anderen Einsätzen – etwa im Irak, in Bosnien-Herzegowina, Somalia, Ruanda, Haiti, Albanien und Elfenbeinküste – übertrug der Sicherheitsrat die Ausübung seiner militärischen Kompetenzen an nationale Streitkräfte, die gegebenenfalls im Rahmen regionaler Organisationen wie der Europäischen oder der Afrikanischen Union agierten. Solche Militäreinsätze kann man nur noch pro forma als kollektiv oder allgemein bezeichnen, da der Sicherheitsrat die Operationen nicht kontrollieren kann.

Lähmend wirkte oft auch der Abstimmungsmodus im Sicherheitsrat. Dieser Modus war eigentlich als Kompromiss konzipiert, der ein effizientes Handeln ermöglichen sollte. Mit dem qualifizierten Mehrheitsvotum hoffte man die Probleme zu umgehen, die der alte Völkerbund, der nach dem Prinzip der Einstimmigkeit funktionierte, immer wieder gehabt hatte. Und auch die Vetoregelungen wurden etwas gelockert, da die Stimmenthaltung eines ständigen Sicherheitsratsmitglieds eine Entscheidung nicht mehr blockieren konnte (siehe Kasten Seite 17). Zudem erhielt die Generalversammlung für den Fall, dass der Sicherheitsrat durch ein Veto blockiert ist, die Befugnis, geeignete Maßnahmen zu empfehlen, bis hin zum Einsatz von militärischer Gewalt.

Doch diese Aufweichung des Vetorechts hatte nur begrenzte Wirkung. Die ständigen Mitglieder machten von ihrem Veto häufig Gebrauch, noch häufiger reichte auch die bloße Drohung, um ihre Interessen durchzusetzen. Und was die Generalversammlung betrifft, so begnügte sie sich entweder mit Grundsatzerklärungen über die Voraussetzungen militärischer UN-Einsätze, oder sie verurteilte in aller Form ganz bestimmte Militärinterventionen, wie etwa den Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan 1979 oder die Intervention der Vereinigten Staaten in Nicaragua 1985. Aber weder beim Jugoslawienkrieg noch bei der Invasion im Irak hielten es die intervenierenden Militärmächte für angebracht, ihr Handeln von der Generalversammlung legitimieren zu lassen, nachdem sie im Sicherheitsrat gescheitert waren.

Kann man deshalb von einer „Blockade“ der UN sprechen? Wohl kaum, denn blockiert wurde im Fall Jugoslawien wie im Fall Irak nur der Kriegswille der westlichen Koalition, während der Sicherheitsrat für weniger drastische Maßnahmen durchaus offen war.

Der Internationale Gerichtshof (IGH), das einzige UN-Organ, das befugt ist, über die Zulässigkeit von Militäreinsätzen zu befinden, wurde seit 1945 nur selten bemüht. Selbst während der heftigen Kontroversen über die militärische Intervention im Irak 2002/2003 hielt es kein Staat für angebracht, die Richter in Den Haag nach ihrer Meinung zu fragen. Der IGH wäre aber auch befugt, die Gesetzmäßigkeit der Sicherheitsratsresolutionen zu prüfen. Nichts dergleichen ist geschehen. Deshalb beruht das Handeln – oder Nichthandeln – des Sicherheitsrats nach wie vor auf rein politischen Erwägungen. Aber auch wenn der IGH entscheiden würde, bliebe die Wirkung theoretisch, weil es dem angeklagten Staat freisteht, die Zuständigkeit des IGH zu akzeptieren oder abzulehnen. Als Jugoslawien im Juni 1999 den IGH anrief, um eine Verurteilung der Nato zu erwirken, erklärten die Nato-Mitglieder den Gerichtshof lieber für unzuständig, als sich auf eine Verhandlung in der Sache einzulassen.3

Die Debatte über die institutionelle UNO-Reform steht vor einem Dilemma: Strebt man einen Idealentwurf an, läuft man Gefahr, dass das Völkerrecht noch weniger Anwendung findet als heute schon; sieht man die Dinge aber realistischer, wird man von einer Reform eher abraten. Will man die institutionellen Probleme der UNO wirklich lösen, muss man die tieferen Probleme ins Auge fassen, die von der Struktur der Weltgesellschaft selbst herrühren.

Der Sicherheitsrat ist, wiesein Name besagt, ein Organ mit polizeilichem Auftrag. Auch wenn er diese Aufgabenstellung sehr weit auslegt und sich für alles zuständig fühlt (Flüchtlingsströme, Menschenrechtsverletzungen, Gesundheits- und Wirtschaftsprobleme), wird er immer unter dem Vorzeichen der Repression funktionieren, kollektive Sicherheit also ausschließlich als militärische Sicherheit sehen. Eine Konzept, das alle Sicherheitsaspekte integriert – neben den militärischen die politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen –, ist nicht in Sicht. Die Welthandelsorganisation etwa oder der Internationale Währungsfonds sind der UNO nur beigeordnet und unterliegen nicht ihrer Kontrolle.

Die internationale Gesellschaft selbst ist in sich vielfach gespalten. Zwar konnten sich die Staaten auf einige Leitprinzipien einigen – Nichtanwendung militärischer Gewalt, Menschenrechte, wirtschaftliche Zusammenarbeit –, aber was deren Auslegung betrifft, so gehen die Ansichten weit auseinander, wie sich jüngst wieder bei der Intervention im Irak gezeigt hat. Genau aus diesem Grund will die Staatengemeinschaft die Anwendung militärischer Gewalt von einer zentralen Schiedsinstanz überwachen lassen, die darüber befinden soll, ob eine „gerechte Sache“ vorliegt. Aber derselbe Grund erklärt auch, warum sie dabei nicht weit kommt.

Solange es kein zentrales politisches Organ gibt, das gemeinsame rechtliche Regeln zu setzen und durchzusetzen vermag, wird die Kofifizierung und Anwendung des Völkerrechs von der jeweiligen Kräftekonstellation abhängen. Keine institutionelle Reform wird den politischen Legitimierungsprozess erzwingen oder ersetzen können, den die heute so strapazierte UN-Charta zu kodifizieren suchte. Das internationale Recht hat vor allem eine Funktion: Es stiftet eine gemeinsame Sprache, die zur Verhinderung von Kriegen beitragen soll. Dass dies auch gelingt, erfordert einen beharrlichen Kampf.

Fußnoten: 1 Dazu Paul-Marie de La Gorce, „Un concept dangereux: la guerre préventive“, Manière de voir 67 („L’Empire contre l’Irak“), Januar/Februar 2003. 2 Siehe die Rede des deutschen Außenministers Joschka Fischer vor der 54. Generalversammlung der Vereinten Nationen am 22. September 1999, www.auswaertiges-amt.de/www/de/infoservice/download/pdf/reden/1999/r990922a.pdf. 3 Belgien, Frankreich, Vereinigte Staaten, Kanada, Spanien, Portugal, Italien, Niederlande, Großbritannien und Deutschland. Dazu Anne-Cécile Robert, „Internationale Rechtsprechung: Wer wen verurteilen darf und warum“, Le Monde diplomatique, Mai 2003.

Aus dem Französischen von Bodo Schulze Olivier Corten lehrt Internationales Recht am „Centre de droit international et de sociologie appliquée au droit international“ (Université libre de Bruxelles).

Le Monde diplomatique vom 16.09.2005, von Olivier Corten