16.09.2005

Was normal ist in Bagdad

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Was normal ist in Bagdad

von Patrick Cockburn

Die Attentate, die im Irak inzwischen alltäglich sind, zielen auf die Vertiefung der vorgegebenen Bruchlinien der Gesellschaft. Sie schüren vor allem das Misstrauen zwischen Schiiten und Sunniten, das zu der Massenpanik vom 31. August auf der Tigrisbrücke beigetragen hat.

In Bagdad zünden die Selbstmordattentäter ihre Bomben so regelmäßig, dass man meint, die Stadt liege unter Artilleriebeschuss. Ich mache mir längst nicht mehr die Mühe, jedes Mal auf das Dach meines Hotels zu gehen, um herauszufinden, wo die Bombe hochgegangen ist. Neulich explodierten an einem einzigen Tag zwölf Selbstmordbomben, die mindestens dreißig Todesopfer forderten.

Die Straßen sind ungewöhnlich leer. Viele Iraker sind zu dem Schluss gekommen, dass sie, wenn sie überleben wollen, am besten wohl zu Hause bleiben – oder außer Landes gehen, wenn sie über das nötige Geld verfügen. Als ein Freund von mir krank war, rief er in mehreren Arztpraxen an. Jedes Mal bekam er die Auskunft, der Doktor sei nach Jordanien, Syrien oder in den Iran gegangen. Ärzte, die in Bagdad geblieben sind, beginnen ihren Dienst meist erst nach 10 Uhr morgens. Die Selbstmordattentäter sind zwar rund um die Uhr tätig, aber ihre bevorzugte Zeit ist eindeutig die morgendliche Rushhour.

Größere Aufmerksamkeit schenke ich einer Bombe nur noch, wenn sie an einem Ort explodiert, an dem sie mich hätte erwischen können, oder wenn der Anschlag besonders groteske Züge hat. Einmal attackierten drei Selbstmordattentäter – einer im Auto und zwei zu Fuß – den Eingangskontrollpunkt zur Grünen Zone, den wir Journalisten normalerweise benutzen, wenn wir zu einer Pressekonferenz wollen. In einem anderen Fall erzählte ein Polizist, der den Anschlag überlebt hatte, dass eine der Bomben in einem Sarg versteckt war, der auf dem Dach eines Lieferwagens festgezurrt war. Den Fahrer hatte man an dem Checkpoint durchgelassen, weil er gesagt hatte, er müsse eine Leiche zur Autopsie bei der Polizei abliefern.

Nur wenige der Selbstmordbomber sind Iraker (heißt es), wobei es wahrscheinlich immer mehr werden. Doch die Organisation, die Fahrzeuge, die Explosivstoffe, die Zünder, die sicheren Verstecke und die nötigen Informationen sind einheimischer Herkunft. Hoschiar Zebari, der irakische Außenminister, erzählte mir, die Armee habe kürzlich eine Werkstatt aufgespürt, die täglich siebzig Autos explosionsfertig machen konnte. Er rechnete mit einem Anschlag auf sein Ministerium, ein hohes, weißes Gebäude im Zentrum von Bagdad, und ist privat gerade umgezogen, nachdem man in der Nähe seines Domizils ein mit einer Tonne Explosivstoff voll gepacktes Auto gefunden hatte. Zebari zeigte mir ziemlich stolz ein Foto, auf dem ein paar schwere Artilleriegranaten und ein aus einem Marinedepot entwendeter Torpedo zu sehen waren.

Laut den Nachrichtendiensten der irakischen Regierung nennen die Auftraggeber den Selbstmordattentätern ein bevorzugtes Ziel; falls es aber für sie unerreichbar ist, fahren sie in Bagdad herum und suchen nach anderen Todeskandidaten. Doch sie haben immer die Anweisung, nicht zurückzukommen. Manche Gebäude hat es immer und immer wieder getroffen; das Rekrutierungszentrum der Armee zum Beispiel, das auf dem alten Al-Muthana-Flughafen liegt, nicht weniger als sieben Mal. Wann immer ich dort vorbeifahre, sehe ich hunderte junger Männer mit weißer Kleidung und Flipflops, die wahrscheinlich aus dem Südirak stammen und hier für ein Bewerbungsgespräch anstehen. Die Wachposten versuchen, sie zu verscheuchen, und schreien: „Ihr macht euch zum Ziel!“ Aber sie suchen verzweifelt einen Job und wollen ihren Platz in der Warteschlange nicht aufgeben. Vor ein paar Wochen begann ein junger Mann, den Rekruten in spe eine Ansprache zu halten, und schimpfte, dass sie hier warten müssten, während erfolgreiche Bewerber Schmiergelder zahlten. Als sich eine größere Menge um ihn versammelt hatte, drückte er einen Hebel und sprengte sich in die Luft. Dabei riss er 25 seiner Zuhörer mit in den Tod.

Seit dem Sturz Saddam Husseins war die Stimmung in Bagdad nie so verzweifelt wie heute. Selbst irakische Beamte, die sich in der relativ sicheren Grünen Zone verschanzen und früher durchweg optimistisch waren, beginnen zu verzweifeln. Das liegt nicht nur an den immer häufigeren Selbstmordattentaten. In einigen Teilen der Stadt ist das Wasser knapp. Elektrischen Strom wird es heute wieder nur fünf Stunden geben. Die Leute kaufen sich kleine Generatoren für 200 Dollar, aber die reichen nur für die Lampen und den Fernseher und liefern nicht genug Strom für die Klimaanlagen. Dabei steigen die Temperatur an den meisten Tagen auf 45 Grad. Früher schliefen die Menschen in dieser Jahreszeit auf den Dächern ihrer Häuser, der nächtlichen Kühle wegen. Aber das ist jetzt gefährlich geworden, denn von einem der über die Stadt geisternden US-Hubschrauber aus könnte die Gestalt eines Schlafenden für einen lauernden Heckenschützen gehalten werden.

Der Hass zwischen sunnitischen und schiitischen Arabern ist in den vergangenen Monaten größer geworden. Früher haben die Iraker immer behauptet, die religiösen Rivalitäten seien von Saddam gefördert und verstärkt worden. Tatsächlich jedoch war die irakische Politik schon immer durch die Spannungen zwischen Sunniten, Schiiten und Kurden geprägt. Alle Exilparteien, die sich nach dem Fall von Saddam wieder etabliert haben, basieren auf religiösen oder ethnischen Gemeinsamkeiten. Dabei waren die Sunniten gegen die US-amerikanische Invasion, während die Kurden sie unterstützt haben und die Schiiten, die 60 Prozent der Bevölkerung ausmachen, die Hoffnung hegten, dass sie mit amerikanischer Hilfe wenigstens einen Teil der Macht an sich bringen könnten.

Die Rekruten der Armee und der Polizei, die zu Opfern der Selbstmordattentäter werden, sind zumeist Schiiten. Die irakische al-Qaida, eine schattenhafte, von Abu Mussab al-Sarkawi geführte Gruppe, bezeichnet die Schiiten als Abtrünnige. Und fast täglich kommt es zu Massakern an schiitischen Irakern der unteren Klassen. Doch jetzt beginnen die Schiiten zurückzuschlagen. In letzter Zeit werden auf den Müllplätzen von Bagdad immer wieder die Leichen von Sunniten gefunden. Ein irakischer Beamter berichtet, führende Vertreter der schiitischen Gemeinschaft hätten ihm gesagt, „dass sie mehr als tausend Sunniten getötet haben“. Zumindest nominell gehörten die Killer häufig zu den paramilitärischen Formationen der Regierung, etwa zu den Kommandoeinheiten der Polizei. Diese Kommandos operieren offenbar zunehmend unter der Kontrolle von schiitischen Führern, die wahrscheinlich der Badr-Brigade angehören. Diese Miliz ist der bewaffnete Arm des Obersten Rats für die Islamische Revolution im Irak (Sciri) und mit ihren knapp 70 000 Kämpfern die personalstärkste im ganzen Lande.

Die polizeilichen Kommandoeinheiten, die sich Macho-Namen wie Wolfsbrigade und Löwenbrigade zugelegt haben, sehen aus und handeln zweifellos wie eine Miliz. Sie fahren in Kleintransportern herum, feuern in die Luft, um die Straßen vor sich frei zu machen, und verbreiten Angst und Schrecken in den sunnitischen Vierteln. Zum Beispiel haben sie einmal neun sunnitische Iraker festgenommen, die einen Freund mit einer Schusswunde im Bein in ein Krankenhaus bringen wollten. (Die Leute des Kommandos gaben an, sie hätten die Sunniten für Aufständische gehalten, obwohl verwundete Widerstandskämpfer sich gewöhnlich nicht ins Krankenhaus begeben.) Die Festgenommenen wurden im hinteren Teil eines Polizeifahrzeugs eingeschlossen, das mit abgeschalteter Klimaanlage in der Sonne abgestellt war. Alle neun erstickten. Der Al-Qaida-Mann Sarkawi hat bereits angekündigt, er werde eine besondere Truppe namens Omar-Brigade aufstellen, die speziell die Badr-Milizen attackieren soll.

Anders als die Todesschwadronen in Lateinamerika bemühen sich die irakischen Kommandos nur selten, die Verantwortung für ihre Morde zu verbergen. Sie fahren in voller Uniform, auffällig gelb-grün gescheckten Kampfanzügen, vor den Häusern sunnitischer Amtsträger des Hussein-Regimes vor, um Verhaftungen vorzunehmen. Die Festgenommenen werden ein paar Tage später im Leichenschauhaus abgeliefert, manchmal mit schrecklichen Folterspuren wie herausgerissenen Augen oder gebrochenen Gliedern.

In den sunnitischen Vierteln geht die Angst um, vor allem unter den hunderttausenden von Irakern, die dem alten Regime gedient haben. Die Badr- Brigaden hatten im irakisch-iranischen Krieg von 1980 bis 1988 auf iranischer Seite gekämpft; auch deshalb werden sie häufig als Arm des iranischen Geheimdienstes angesehen, der mit ihrer Hilfe alte Rechnungen begleichen wolle. Insbesondere die Piloten der irakischen Luftwaffe glauben, dass sie ganz oben auf der Todesliste stehen, weil die Schiiten sie verdächtigen, vor zwanzig Jahren iranische Städte bombardiert zu haben. Das muss gar nicht stimmen, doch die Angst vor den Todesschwadronen ist sicher ein Faktor, der die Sunniten insgesamt dazu bringt, mit den Aufständischen zu sympathisieren. Diese betrachtet man als bewaffnete sunnitische Glaubensbrüder, die Schutz gewähren können.

Fast zweieinhalb Jahre nach Beginn der US-Invasion bleibt der irakische Staat ein extrem schwaches Gebilde. Eines Tages, Mitte Juni, marschierten bewaffnete Widerstandskräfte um fünf Uhr morgens in Dohra, einem großen Stadtviertel im Süden von Bagdad, ein und übernahmen die Kontrolle. Die örtlichen Polizeikräfte verschwanden. Die Aufständischen zogen erst wieder ab, als über ihnen die Hubschrauber der US-Armee einschwebten. Die irakische Armee und die Polizei sind häufig schlechter bewaffnet als die Aufständischen – obwohl für ihre Ausbildung und Ausrüstung sehr viel Geld ausgegeben wurde. Ein höherer Regierungsvertreter sagte mir: „Unter der Interimsregierung von Ajad Allawi haben das Verteidigungs- und das Innenministerium 5,2 Milliarden Dollar rausgeschmissen. Aber wir wissen nicht, was mit dem Geld gemacht wurde.“ Und er fügte besorgt hinzu, dass er beim Innenministerium für die Leibwächter des Präsidenten 50 Pistolen angefordert habe. Da hieß es, sie hätten keine.

Besonders ein Skandal ist derzeit in aller Munde. Er betrifft 24 Militärhubschrauber, die das Verteidigungsministerium im Rahmen eines 300-Millionen-Dollar-Geschäfts mit einer polnischen Ingenieurfirma gekauft hat. Das Geld wurde vorab gezahlt. Doch dann entdeckte ein irakisches Inspektionsteam in Polen, dass die Hubschrauber 28 Jahre alte sowjetische Modelle waren, die man, laut dem Hersteller, schon drei Jahre zuvor hätte ausmustern müssen. Jetzt versuchen die Iraker, ihr Geld zurückzubekommen. Und das Verteidigungsministerium überprüft insgesamt vierzig fragwürdige Verträge über alle möglichen Rüstungsgüter, von Maschinengewehren bis zu gepanzerten Fahrzeugen. Bei einer Lieferung von MP5-Maschinenpistolen zum Beispiel hatte man 3 500 Dollar pro Stück bezahlt – als sie ankamen, stellten sie sich als nachgebaute ägyptische Waffen heraus, die 200 Dollar kosten.

Waffengeschäfte sind im Nahen Osten, wie in den meisten anderen Ländern der Welt, ein korruptes Gewerbe. Doch in der Regel bekommt man am Ende wenigstens einsatzfähiges, wenn auch überteuertes Gerät. Im Irak hat die Korruption andere Dimensionen: Oft ist das Geld komplett verschwunden, ohne dass je ein Gegenwert geliefert wird. Seit zwei Jahren gleicht die irakische Verwaltung weniger einer Regierung als einer Gang.1 Die Korruption ist nicht auf die Verteidigungsausgaben beschränkt. Einen typischen Fall schildert Laith Kubba, ein wichtiger Mitarbeiter von Ministerpräsident Ibrahim al-Dschaafari. Da gibt es einen Kontrakt über den Bau eines Kraftwerks über eine Summe von 500 Millionen Dollar: „Aber die Details des Vertrags passten auf ein einziges Blatt Papier. Ein Ausschuss des Ministeriums weigerte sich, einen solchen Vertrag abzuzeichnen, worauf der Minister die Mitglieder feuerte und einen neuen Ausschuss ernannte, der die Sache dann unterschrieb.“ Und Transportminister Salam al-Maliki sagt: „Aus meinem Ministerium wurde alles gestohlen – außer dem Namen.“ Städtische Linienbusse wurden verkauft, wegen der Ersatzteile, und neue Lastwagen verschwanden einfach. Sogar die Bettwäsche für die Polizisten, die das Ministerium bewachen, wurde gestohlen.

Die Plünderung von Bagdad, die in den Tagen nach dem Fall des Saddam- Regimes begann, hat im Grunde nie aufgehört. Ein Regierungsvertreter warnte mich, über Korruptionsfälle zu recherchieren; im Irak, so sagte er, sei von ein paar wenigen Leuten mehr Geld gestohlen worden, „als ein kolumbianischer Drogenboss im Jahr machen kann“.

Ein paar irakische Beamte wurden vom Dienst suspendiert, es wurden auch ein paar Haftbefehle erlassen. Einige der dubioseren Waffengeschäfte wurden von dem früheren Vizeverteidigungsminister Siad Tarek Cattan ausgehandelt. Er hatte 27 Jahre im europäischen Exil gelebt und wurde nach seiner Rückkehr vom US-Beauftragten Paul Bremer rasch auf seinen hohen Posten befördert. Doch im Juni wurde er entlassen, und am 7. Juli erging ein Haftbefehl gegen ihn. Derzeit lebt er in Irbil im kurdischen Teil des Irak. Er beteuert seine Unschuld mit dem Argument, während seiner Amtszeit habe das Verteidigungsministerium der Aufsicht von US-Generälen unterstanden. Ohne deren Kenntnis hätte er die ihm vorgeworfenen Betrügereien also nicht begehen können: „Ohne Entscheidungen der Generäle konnten wir im Ministerium gar nichts tun“, wird Cattan zitiert. „Ohne ihre Erlaubnis konnten wir nicht einen einzigen Soldaten vom Osten in den Westen Bagdads bewegen.“

Niemand weiß, wie viele Soldaten und Polizisten tatsächlich zum Dienst erscheinen. Wie mir der altgediente kurdische Politiker Mahmud Othman erzählt hat, wurde vor kurzem eine Armeeeinheit nach Kirkuk entsandt, die eigentlich 2 200 Mann stark sein sollte. Als die Kurden sie zählten, waren es gerade 300. Kein Mensch konnte sagen, was mit den restlichen 1 900 passiert war. Othman schließt daraus: „Sie sagen, dass die Armee und die Polizei zusammen 150 000 Mann umfassen. Aber ich glaube, die wirkliche Zahl liegt bei 40 000.“ Die Übrigen erscheinen nur, um den Sold abzuholen. Oder sie haben nie existiert. Ein realistisches Bild über die Stärke der Armee ist aber wichtig, weil die USA und Großbritannien ihre Truppenpräsenz reduzieren wollen. Die Briten wollen von ihren 8 500 Soldaten, die im Süden stationiert sind, im Laufe der nächsten Monate 3 000 abziehen. In Städten wie Basra und Amarah bedeutet dies, dass die Macht an die lokalen schiitischen Milizen übergeben wird, also an die Badr-Brigade und an die Mehdi-Armee.

Die irakische Regierung ist quasi im Belagerungszustand. Von den Parteien der Kurden und des schiitischen Sciri (Oberster Rat der Islamischen Revolution im Irak), aus denen sich die Regierung von Ibrahim al-Dschaafari zusammensetzt, verfügt keine über eine starke Massenbasis. Die Mitglieder der Regierung residieren in der berühmten Grünen Zone und damit vom übrigen Bagdad so isoliert, als lebten sie in einem anderen Land.

Wer nach al-Kadassia vordringen will, zu dem festungsartigen Gebäudekomplex, in dem die Minister wohnen, lässt sich auf ein gefährliches Unternehmen ein. Die Probleme beginnen sogar schon vor dem ersten Checkpoint an der äußeren Ringmauer. Als wir uns näherten, gestikulierte ein irakischer Polizist, der neben einem US-Soldaten stand, wild zu uns herüber. Wir sollten 50 Meter vor dem Checkpoint aussteigen und unsere Ausweise in die Höhe halten – sonst würden die Soldaten das Feuer auf uns eröffnen.

Die Mitglieder der Regierung, von denen viele mehrere Jahrzehnte im Exil verbracht haben, verstehen nicht, wie zutiefst unbeliebt die amerikanische Besatzung ist. Arabische Iraker, und das gilt für Schiiten wie Sunniten, machen die USA für alles verantwortlich, was seit dem Fall Saddams schief gegangen ist. In Bagdad antwortete jeder, den ich auf der Straße fragte, die US-Soldaten sollten das Land verlassen. „Ich bin sicher, dass die meisten Probleme in der Stadt von diesen Soldaten herstammen“, sagt Bassem Mechi Khalid, der als Fahrer arbeitet. „Sie sperren einfach die Straßen, oder sie fahren auf Einbahnstraßen in die verbotene Richtung. Und wenn sie angegriffen werden, schießen sie einfach wild um sich. Sie richten mehr Schaden an, als sie Gutes tun.“

Mahmud Othman ist überzeugt, dass die US-Truppen in zwei Phasen abziehen sollten, zunächst aus den Städten, dann aus dem ganzen Land. Nach seiner Ansicht lautet die beste politische Rechtfertigung der Guerillas, dass sie gegen eine ausländische Besatzungsmacht kämpfen. Nähme man ihnen diese Rechtfertigung weg, könnte der Irak seinen Frieden zurückfinden. Doch man sollte zugleich, sagt Othman, mit der Widerstandsbewegung Gespräche führen. Womöglich hat er Recht. Doch die Regierung ist immer noch völlig von den 135 000 US-Soldaten abhängig. Die paar Regierungsbataillone, die schon kampfbereit sind, rekrutieren sich aus den kurdischen oder schiitischen Milizen, entsprechend verhasst sind sie in den sunnitischen Gebieten. Wenn der Hass zwischen den Religionsgemeinschaften noch weiter zunimmt, könnte es in bestimmten Bezirken von Bagdad demnächst so weit kommen, dass die Bewohner in den Straßen Barrikaden gegen sunnitische Selbstmordattentäter oder schiitische Todesschwadronen errichten.

Die Chancen, dass ein irakischer Einheitsstaat aus diesem Konflikt hervorgeht, sind deshalb im Schwinden begriffen. Die Kurden, die nach fünfzig Jahren Kampf endlich die Oberhand haben, werden das Ölzentrum Kirkuk nicht aufgeben und auch nicht auf eine Autonomieregelung verzichten, die ihrem Ziel der Unabhängigkeit ziemlich nahe kommt. Die Schiiten wollen so viel Macht, wie sie kriegen können. Und die Sunniten haben mit ihrem bewaffneten Widerstand bewiesen, dass sie den Irak beliebig lange destabilisieren können. Aber die Aufständischen werden nicht in der Lage sein, den Widerstand über die sunnitische Gemeinschaft hinaus zu verbreitern, weil die Selbstmordattentäter schiitische Moscheen angreifen und Kinder, die in den Straßen der schiitischen Wohnviertel spielen. Die Bindungskraft des irakischen Nationalismus ist im Schwinden begriffen.

Es ist unwahrscheinlich, dass im Irak Frieden einkehrt, solange die US-Truppen im Lande bleiben. Ihre Anwesenheit schürt den Krieg. In Washington und in London lässt die Regierung das eine oder andere Gerücht über eine Truppenreduzierung durchsickern. Im Al-Raschid-Hotel am Rande der Grünen Zone trafen sich in letzter Zeit wiederholt US-Vertreter mit früheren Führern der Baath-Partei, die sie noch vor zwei Jahren verhaften wollten – sehr zum Missvergnügen der irakischen Regierung. Die Amerikaner haben keinen langfristigen Plan für den Irak. Sie haben nur ein Hauptziel, und das lautet: die Handlungen des Weißen Hauses gegenüber der einheimischen Öffentlichkeit als Erfolg präsentieren zu können. Ein irakischer Regierungsvertreter klagt, die Amerikaner machten eine Politik von einem Tag auf den anderen: „Sie machen einen Fehler, und dann versuchen sie, ihn zu korrigieren, indem sie einen noch größeren Fehler machen.“ Die politische Strategie der USA im Irak war immer Stückwerk, weil sie stets durch die innenpolitischen Bedürfnisse des Weißen Hauses bestimmt war. Doch im dritten Jahr des Krieges wird es immer schwerer, das Ausmaß des amerikanischen Scheiterns zu verbergen.

Fußnote: 1 Siehe dazu die ausführliche Analyse von Ed Harriman in: London Review of Books, 7. Juli 2005.

Aus dem Englischen von Niels Kadritzke © Le Monde diplomatique, Berlin Dieser Artikel erschien zuerst in der London Review of Books, Vol. 27, Number 15 vom 4. August 2005 (www.lrb.co.uk). Patrick Cockburn berichtet seit 1978 aus dem Irak. Im Mai erschienen seine Kindheitserinnerungen, „The Broken Boy“, London (Vintage Books) 2005.

Le Monde diplomatique vom 16.09.2005, von Patrick Cockburn