16.09.2005

Wenn der Mufti weiblich ist

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Wenn der Mufti weiblich ist

Ägypten hat eine neue islamische Frauenbewegung von Wendy Kristianasen

In Kairo stehen die Zeichen auf Wandel. Seit Beginn des Jahres demonstrierten Menschen aus ganz unterschiedlichen Lagern für einen politischen Wechsel. Linke wie Islamisten wollten keine fünfte Amtszeit für Husni Mubarak, der seit einem Vierteljahrhundert an der Macht ist. „Kefaya!“ (Genug!) lautete der Schlachtruf der Demonstranten. Kefaya nennt sich auch die Egyptian Popular Movement of Change (EPMC). Für das Präsidentenamt beworben hatte sich u. a. die bekannte Feministin, Psychiaterin und preisgekrönte Schriftstellerin Nawal El Saadawi. Es war eher eine symbolische Kandidatur – Zeichen für die Aufbruchstimmung in einem Land, in dem Frauen 53 Prozent der Bevölkerung ausmachen, aber nur 2,5 Prozent der politischen Ämter bekleiden.

Die ägyptische Frauenbewegung – ursprünglich weitgehend säkular orientiert – zählte einmal zur Avantgarde in der arabischen Welt. In Hala Galals neuem Film „Dardasha nisa’iyya“ („Frauenklatsch“) werden vier Frauengenerationen aus einer Familie interviewt. Die Urgroßmütter – unverschleiert und modern gekleidet – erinnern sich noch an die Anfänge der feministischen Bewegung unter Huda Schaarawi in den 1920er-Jahren.

Im modernen Kairo tragen mindestens 80 Prozent der Frauen heute den Schleier. Auch Frauen, die entschieden säkular eingestellt sind, hinterfragen nicht die Rolle der Religion in der Gesellschaft. Dr. Huda Sophi, Wirtschaftswissenschaftlerin und Expertin für Geschlechterpolitik am National Council for Women (NCW), ist meine einzige unverschleierte Interviewpartnerin. „Am bedenklichsten finde ich die Stereotypisierung von Frauen“, meint sie, „denn die liegt in unserer traditionellen Kultur begründet. Das ist das eigentliche Problem – und nicht der Hidschab oder der Islam. Und deswegen bemühen wir uns heute auch, die wirkliche Essenz des Islam herauszuarbeiten und sie von der späteren Überlieferung zu trennen.“

Omaima Abu Bakr ist Mitbegründerin des Women and Memory Forum (Kairo), eines nichtstaatlichen Forschungszentrums, das sich auf Geschlechterfragen spezialisiert hat. Sie möchte zwischen säkular und islamistisch eingestellten Frauen vermitteln.

Die größten Veränderungen vollziehen sich heute unter den islamistischen Frauen, die seit einiger Zeit mit einem fortschrittlicheren Islam in Berührung kommen. Die 35-jährige Dalia Salaheldin arbeitet als Journalistin für Islamonline (IOL)1 , die erste arabisch-englische Website, die 1999 in Kairo gegründet wurde. Noch als Studentin begann sie sich – gegen den Willen ihrer Eltern – zu verschleiern. Heute berichtet sie ganz begeistert von ihrer Arbeit: „IOL versucht, den wirklichen Islam darzulegen, der schon seit Jahren verzerrt dargestellt wird. Ich glaube, dass die Überlieferung die Religion verdunkelt hat. Und daran sind die Muslime letztlich selbst schuld.“

Samar Dowidar, ebenfalls 35, ist bei IOL für den Bereich Gesellschaft zuständig. Wöchentlich bekommt sie 600 ratsuchende Briefe. In jedem dritten Schreiben geht es um „heiße“ Themen wie Drogen, Ehebruch, Homosexualität oder Masturbation. Eine Auswahl der Fragen wird mit den Antworten veröffentlicht. Auch das gehört zu dem neuen, offenen Islam. Die 27-jährige Dalia Yusef bezeichnet sich selbst als muslimische Aktivistin. Durch die Arbeit bei IOL habe sie ihren Horizont erweitern können. Die frühere Frauenbewegung, meint sie im Rückblick, „war sehr weltlich ausgerichtet, und die Islamisten waren reaktionär und defensiv. Ich glaube aber, dass wir von den Islamisten heute viel offener geworden sind. Heute können wir zugeben, dass es durchaus Probleme gibt, und wir suchen nach Wegen, um sie zu lösen. So gehen wir Schritt für Schritt aufeinander zu – vor allem für die jüngere Generation ist das wichtig.“

Die Begründer von IOL haben also auch dazu beigetragen, den „neuen Islam“ in Ägypten zu verbreiten – über Internet, Satellitenfernsehen und Videoclips. In den Medien treten so charismatische Prediger auf wie Amr Khaled und versprechen ein gutes Leben – eine Mischung aus materiellem Wohlstand und Gotteslohn. Dieser eklektische Islam soll vor allem eines bewirken: positives Denken. Und für die Frauen bedeutet das in erster Linie ein neues Selbstvertrauen und den Mut zu gesellschaftlichem Engagement.

Das gilt vor allem für den religiösen Bereich. Hier sind derzeit weibliche Predigerinnen besonders gefragt, die seit 1999 an der Al-Azhar-Universität in Kairo ausgebildet werden. Das Ministerium für Religiöse Angelegenheiten erklärte im April 2005, man werde 52 Frauen aus etwa 800 Bewerberinnen aussuchen und sie zu Imamen ernennen. Diese weiblichen Imame halten Gebetsstunden nur für Frauen ab. Eine der bekanntesten Predigerinnen ist Shirin Sathy: Zu ihren Mittwochsgebeten in der Sidiqi-Moschee im schicken Vorort Heliopolis kommen an die 400 Gläubige.

Die Moschee ist stets überfüllt, die Atmosphäre sehr entspannt. Frauen aus dem Mittelstand, jeden Alters, mit oder ohne Schleier, plauschen miteinander, lesen ihre SMS-Nachrichten oder konzentrieren sich auf ihr Gebet. Irgendwann erscheint Sathy, in schwarzer Robe und mit riesigem weißem Kheima auf dem Kopf, und donnert ihre Botschaft über die Verstärkeranlage in die Menge, die ihren unmittelbar ans Gefühl appellierenden Worten wie verzückt lauscht.

Magda Amer, 54, die ebenfalls in der Sidiqi-Moschee predigt, ist eine schöne Frau. In ihrer Jugend lebte sie nicht besonders streng nach den religiösen Vorschriften. Heute ist sie Dozentin für Frauenrechte und islamische Jurisprudenz (fiqh). Außerdem bietet sie Kurse in Immunologie an, und vor drei Jahren hat sie Ägyptens ersten Bioladen in Heliopolis eröffnet. Dort verkauft sie in Ägypten angebauten braunen Reis, Getreide, Gerste, Sesam etc. Der Laden gehört zu einer Waqf2 , der Profit geht direkt an die Moschee.

Aber die Frauen der Kairoer Mittelschicht treffen sich nicht nur in den Moscheen; immer häufiger drehen sich die Gespräche auch im privaten Kreis um den islamischen Glauben. Die Einladungen werden mündlich weitergegeben, denn die privaten Zirkel sind nicht offiziell autorisiert. Der erste dieser „islamischen Salons“ oder halaqats (Kreise) wurde in den 1990ern von Suzie Mazhar ins Leben gerufen. Da es noch keine weiblichen Imame gab, wurden die Predigten noch von Männern gehalten, die jedoch hinter einem Paravent verborgen blieben.

Die reiche und fromme Suzie Mazhar rekrutierte für ihren Kreis etliche Schauspielerinnen und Tänzerinnen, die als die „reumütigen Künstlerinnen“ bekannt waren. Zu ihnen gehörte auch die attraktive Shams al-Baroudi („die Verführerin“ genannt), die damals wie viele andere die Schauspielerei von einem auf den anderen Tag aufgab, einen neddaq (Gesichtsschleier) anlegte und ein Islamstudium aufnahm.

Weibliche Muftis (arabisch muftiyya) sind ebenfalls im Kommen. Oft sind es Absolventinnen der Al-Azhar-Universität, die den Koran, die Hadith und die Sunna gründlich studiert haben. Sie praktizieren den Idschtihad3 und sprechen Fatwas aus, um den Menschen zu helfen, ihre Alltagsprobleme in Übereinstimmung mit der Scharia zu lösen. In den letzten vier Jahren gab es Kampagnen, um den weiblichen Muftis einen offiziell anerkannten Status zu geben (worüber immer noch allein Präsident Mubarak entscheidet). Immerhin wurden an der Al-Azhar-Universität bereits einige Frauen zu Dekanen der Fakultät für Islamwissenschaften ernannt. Und im Fernsehen wie in der staatlichen Tageszeitung al-Ahram werden Fatwas von weiblichen Muftis verbreitet. Auch Islamonline hat seine eigenen muftiyyas, zu denen etwa Suad Saleh gehört, die zugleich Dekanin an der Universität al-Azhar ist.

Die Fatwa-Abteilung von IOL antwortet zum Beispiel darauf, ob Männer das Recht haben, eine islamische Kleiderordnung durchzusetzen: „Allah bestimmt, dass muslimische Frauen den Hidschab tragen müssen und ihren rechten Glauben an Allah damit zum Ausdruck bringen. Doch kein Mann sollte seine Frau zu etwas zwingen. Männer sollten geduldig sein und an die Gefühle ihrer Frauen appellieren.“ Über andere Themen, wie Oralsex, heißt es: „Jeder Akt, der ein verheiratetes Paar befriedigt, ist prinzipiell erlaubt. Nur Analsex und der Verkehr während der Menstruation sind verboten. Dafür sind aber eben selbst Cunnilingus und Fellatio erlaubt.“

Auch in anderen Bereichen drängen Frauen im Namen des Islam auf Veränderungen. Heba Qutb ist eine engagierte verschleierte Muslimin und stolz auf ihre beiden Doktortitel, von denen sie einen an der Maimonides-Universität in Florida gemacht hat. Ihre staatlich anerkannte sexualtherapeutische Klinik in Mohandesin läuft gut. Sie behandelt vornehmlich Männer, deren Ehefrauen bei den Untersuchungen dabei sind. Heba Qutb hat eine Studie über Sexualität im Islam verfasst. Sie versteht sich als Pionierin: „Ich betrachte es als eine Herausforderung, dem Islam ein anderes Image zu geben. Gerade mein Studium islamischer Quellentexte hat dazu beigetragen, Neues über das Thema Sexualität herauszufinden. Denn der Islam hat die sexuellen Beziehungen zwischen Ehepartnern schon verstanden, als der Rest der Welt sich noch nicht dafür interessierte.“

Die Mitarbeiter von Islamonline haben sich jedenfalls fest vorgenommen, die Tradition zu überdenken. Dagegen spricht man in den islamischen Salons und in den Moscheen immer noch die alte Sprache – auch wenn Frauen hier das Wort ergreifen. Doch wer weiß, was sich durch den neuen Islam noch ändern wird?

Fußnoten: 1 www.islamonline.com. 2 Waqf sind Stiftungen, die wohltätige Einrichtungen (Moscheen, Schulen, Sufi-Konvente, Krankenhäuser u. a.) finanzieren. 3 Das Wort steht für das selbstständige Studium religiöser Quellen.

Aus dem Englischen von Elisabeth Wellershaus Wendy Kristianasen ist Journalistin in London und betreut die englische Ausgabe von Le Monde diplomatique.

Le Monde diplomatique vom 16.09.2005, von Wendy Kristianasen