16.09.2005

Verboten, aber geduldet

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Verboten, aber geduldet

Ein Porträt der Islamisten in Ägypten von Hussam Tammam

Dass am 7. September 2005 in Ägypten zu den Präsidentschaftswahlen ernsthafte Gegenkandidaten antraten, war etwas Neues. Viele Beobachter waren überzeugt, dass vor allem die ägyptische Muslimbruderschaft (al-Ichwan al-Muslimun) nun die Gunst der Stunde nutzen werde, um sich neue Freiräume zu verschaffen. Doch stattdessen erlebt die Organisation eine ungeahnte Krise.

Anfang der 1970er-Jahre sahen die Führer der Muslimbrüder nach ihrer Entlassung aus den Gefängnissen kaum Chancen im streng kontrollierten ägyptischen Mehrparteiensystem. Damals wollten sie ein islamisches Staatswesen errichten. Ihr Argwohn gegen das Regime und ihre eigene Konfliktstrategie besagten aber, dass dies auf politischem Wege nicht zu erreichen sei. Andere, vor allem klandestine Organisationsformen erschienen ihnen aussichtsreicher. Präsident Anwar al-Sadat (1970–1981) dachte nicht daran, die seit 1954 verbotene Bruderschaft wieder zuzulassen, war allerdings bereit, al-Ichwan zu tolerieren.

Die Aufgabe, die neuen Strukturen der Bruderschaft aufzubauen, fiel einer Generation zu, die schon vor der 1952 erfolgten Machtergreifung der „Freien Offiziere“ unter Gamal Abdel-Nasser im Untergrund, beim bewaffneten Arm der Muslimbrüder, Erfahrungen gesammelt hatte. Ende der 1970er-Jahre war die Bruderschaft zur wichtigsten religiösen Bewegung in Ägypten geworden, die konkurrierende Organisationen aufgesogen hatte. Auch die Führung der radikaleren, an den Universitäten sehr starken Gama’a Islamija beteiligte sich am Neuaufbau der Bewegung.

Solche Erfolge bestätigten die Muslimbruderschaft in ihrer Strategie. Der Status ihrer Organisation – „verboten, aber geduldet“ – bot etliche Vorteile: Sie mussten die rechtlichen Vorschriften (Offenlegung von Programm und Struktur) nicht beachten, die für legale Organisationen galten. Auch als 1981 Husni Mubarak die Staatsführung übernahm, waren die Muslimbrüder die einzige Oppositionsgruppe, deren Führung beim Amtsantritt im Präsidentenpalast nicht erwünscht war. Damit sanken auch die Hoffnungen einer neuen Generation von al-Ichwan, die eine Rückkehr in die Legalität anstrebte.

Obwohl die Bruderschaft nicht als Partei zugelassen wurde, gelang es ihr Anfang der 1980er-Jahre, ihre Organisation im politischen Leben zu verankern: Um Muslimbrüder auf Wahllisten unterzubringen, schloss sie informelle Bündnisse mit den legalen Parteien al-Wafd (1984) sowie al-Amal und al-Ahrar (1987). Dem Bestreben in den eigenen Reihen, eine Partei zu gründen, wusste die Exekutive des Wächterrats, des obersten Gremiums der Organisation, auszuweichen. Abu al-Ila Madi, der die neue Gruppierung al-Wasat („das Zentrum“) gegründet hatte, musste die Bruderschaft verlassen. Trotz unzähliger Eingaben bei den Behörden ist al-Wasat bis heute nicht als Partei anerkannt.1

Ihr Zukunftsprojekt eines – nie genauer definierten – islamischen Staatswesens stellten die Muslimbrüder also vorerst zurück. Zunächst ging es darum, Strukturen zu schaffen, denen staatliche Gesetze nichts anhaben konnten. Es gelang ihnen, Mitglieder in Institutionen des Staates und der Zivilgesellschaft einzuschleusen, also in die Verwaltung oder auch die Gewerkschaften. Doch im Kern des Staatsapparats konnten sie nicht Fuß fassen – schon gar nicht in Polizei und Militär, wo schon der Versuch zu riskant erschien.

Einige brillante Köpfe konzipierten in den 1970er- und 1980er-Jahren das Projekt tamkin (wörtl. „möglich machen“) im Sinne einer Modernisierung und Neugestaltung der Organisation. Dazu hörte auch ein geheimer Stufenplan zur Infiltrierung des Staatsapparats – bis hin zur friedlichen Machtübernahme. Als die Pläne 1992 der Polizei in die Hände fielen, erkannte die Staatsführung, welche Gegenmacht die Bruderschaft aufgebaut hatte: eine Art Parallelstaat ohne die Schwächen des überalterten und korrupten Regimes.

„Wirtschaftsliberalisierung gegen Alleinherrschaft“

Damals zählten die Muslimbrüder 100 000 bis 150 000 aktive Mitglieder, die Beiträge zahlten und sich in kleinen Zellen (usar) organisierten. Hinzu kam eine unbekannte Zahl von Sympathisanten, die im Übrigen von der Führung als großes Geheimnis behandelt wurde.

Seit dem Amtsantritt von Präsident Mubarak wird Ägypten nach der Formel „Wirtschaftliche Liberalisierung gegen politische Alleinherrschaft“ regiert. Bis zur Verfassungsreform kam so das politische Leben fast zum Erliegen – auch das Experiment mit einem Mehrparteiensystem in den 1970er-Jahren konnte niemanden täuschen. Demnach waren die Muslimbrüder gut beraten, ihre Aktivitäten auf Bereiche jenseits der offiziellen Politik zu konzentrieren.

Doch unter dem innen- und außenpolitischen Druck hat man die erstarrte Inszenierung auf der politischen Bühne aufgefrischt. Mit der Zulassung konkurrierender Kandidaten zur Präsidentschaftswahl (ermöglicht durch die Änderung von Verfassungsartikel 76) gab das Regime erstmals nach. Alle Augen richteten sich nach dieser Entscheidung auf die Muslimbrüder: Würden sie die große Chance nutzen können?

Die Frage war schnell beantwortet. Als die Bewegung „Kefaya“ („Genug!“) sich mit einer Demonstration gegen den Präsidenten (am 12. Dezember 2004) an die Spitze der Mubarak-Gegner setzte, mochte die Bruderschaft zunächst nicht mitziehen. Sie brauchte mehr als drei Monate, um die neue Lage zu bewerten. Erst am 27. März zeigte sie endlich Flagge mit einer eigenen Kundgebung. Ihre Führung war sich zu vornehm, um mit einem „Grüppchen“ wie der Kefaya (das weniger Mitglieder zählt als eine Sektion von al-Ichwan) zu konkurrieren, war sich aber auch sicher, die Führung der Anti-Mubarak-Bewegung übernehmen zu können.

Doch dann wurden am 6. Mai 2005 Issam al-Aryan, der Sprecher der Muslimbruderschaft, und weitere Mitglieder der Führung verhaftet. Heute sitzen mehr als 2 000 ihrer Mitglieder im Gefängnis; die Unterstützung dieser Häftlinge und ihrer Familien ist eine erhebliche Belastung. Zugleich mobilisierte man immer weniger Anhänger zu den Demonstrationen, offenbar aus taktischen Erwägungen, die man über das strategische Projekt stellt, das ägyptische Volk in die Freiheit zu führen.

Dieses Einknicken erklärt sich nicht nur aus den staatlichen Unterdrückungsmaßnahmen. Der Bruderschaft wie ihren Gegnern scheint entgangen zu sein, welche drastischen Veränderungen die Welt des Islam seit den 1970er-Jahren erfahren hat. In ihren Anfängen konnten die Muslimbrüder als Repräsentanten einer islamistischen Ideologie auftreten, deren zentrale Forderung ein islamischer Staat war. Mit diesem Programm war alles abgedeckt: die Hoffnung der armen Schichten auf Befreiung aus sozialer Unterdrückung und ebenso das Streben der Mittelschichten und des Bürgertums nach mehr Aufstiegschancen und einer moralischen Erneuerung.

Seither hat sich vieles verändert – auch die Rolle der Muslimbrüder. Ihr Eintritt in die Tagespolitik war zugleich eine Abkehr von der alten Vision eines islamischen Staatswesens mit ihren mythischen Wunschvorstellungen wie der Wiedererrichtung des Kalifats. Heute unterscheidet sich das Programm der Muslimbruderschaft kaum noch von dem anderer Bewegungen, vor allem im Lager der liberalen Kräfte.

Sie bekennen sich ohne Vorbehalt und ohne islamische Sonderwünsche zur parlamentarischen Demokratie. Nicht einmal am Prinzip der Schura, der Ratsversammlung, wollen sie festhalten: Sie akzeptieren den demokratischen Machtwechsel durch allgemeine Wahlen, selbst wenn dies die Vorschriften des islamischen Rechts, der Scharia, verletzt. Und ihr Eintreten für das Gleichheitsprinzip und die Bürgerrechte geht so weit, dass sie auch (christlichen) Kopten den Zugang zu allen Ämtern und die Zulassung eigener Parteien zusichern – sogar kommunistische Parteien wollen sie tolerieren.2 Nicht alle Anhänger der Bruderschaft teilen diese Positionen, die von einer Gruppe junger Funktionäre um Abd al-Munim Abu al-Futuh vertreten werden. Doch innerhalb der Organisation gibt es gegen diesen Kurs kaum ernsthafte Einwände.

Zugleich spüren auch die Muslimbrüder die Folgen eines radikalen wirtschaftlichen Wandels, den man in Ägypten intifah („Öffnung“) nennt. Die Organisation, in der traditionell alle Bevölkerungsschichten vertreten waren, hat diesen neoliberalen Kurs gebilligt. Sie hat sogar geduldet, dass die Machthaber die Landreform von 1997 teilweise rückgängig machten. Da diese Strategie vor allem zu Lasten der Armen geht, verlor sie einen Teil ihrer Anhängerschaft. Heute rekrutiert sie ihre Gefolgsleute vor allem aus den Mittelschichten, die zum Islam zurückgefunden haben. Immer mehr Aktivisten und Funktionäre stammen aus diesem kleinbürgerlichen Lager. Längst spielen Geschäftsleute eine dominierende Rolle, und man nähert sich insgesamt den Positionen der wirtschaftsliberalen Rechten. Die Verlierer im Prozess des ökonomischen Wandels haben kaum noch etwas zu sagen, oder sie mussten die Bruderschaft verlassen. Und ihre Anliegen wurden weitgehend fallen gelassen.

Nach offiziellen Angaben leben 17 Prozent der Ägypter unterhalb der Armutsgrenze (die Opposition spricht von 40 Prozent), aber ein ehemaliges Führungsmitglied der Muslimbrüder erklärt: „Kein Mitglied der Bruderschaft hungert.“ Dass die Armen sich von ihr nicht länger vertreten fühlen, zeigte sich auch daran, dass sie den Demonstrationen im Frühjahr 2005 fernblieben. Manche glauben allerdings, dass die Muslimbrüder von sich aus beschlossen hatten, die Mobilisierung zu stoppen und inoffizielle Verhandlungen mit dem Regime zu beginnen.

Angesichts dessen konnte sich die Gama’a Islamija als Vorkämpferin für die Rechte der Ärmsten profilieren: Sie führte seit den 1980er-Jahren einen bewaffneten Kampf gegen die Machthaber, und inzwischen hat sie sich auch wieder von den Muslimbrüdern losgesagt. Adel Hussein, ein muslimischer Politiker und Intellektueller, der nach vielen Jahren in marxistischen Kreisen in Fragen des Klassenkampfs beschlagen ist, erkannte diesen Trend. Er versuchte die islamistischen Aktivisten aus den Vorstädten und Armenvierteln für seine Partei al-Amal („Arbeit“) zu gewinnen – allerdings nur, wenn sie den bewaffneten Kampf aufgeben, womit aber die Gama’a Islamija nicht einverstanden war. Aber dann vereitelte das Verbot der al-Amal durch die Staatsführung ohnehin den Versuch, den Armen eine politische Vertretung zu geben. Heute sitzen 20 000 bis 30 000 mutmaßliche Gama’a-Anhänger in den Gefängnissen.

Aber auch in ihrer neuen Rolle als Vertretung des frommen Bürgertums hat die Muslimbruderschaft starke Konkurrenz. Es gibt neue erfolgreiche Prediger, wie Amr Chalid3 , die politisch nicht einzuordnen sind. Und auch junge gläubige Muslime mit politischer Überzeugung finden jederzeit Gruppierungen, die weniger strenge und riskante Orientierungen bieten als die Bruderschaft.

Die Muslimbrüder haben ihren Status als alleinige Vertretung des politischen Islam verloren. Zwar demonstrieren sie nach außen hin Geschlossenheit, doch sind sie längst zu einem heterogenen Verbund geworden, in dem sich Studenten der Al-Azhar-Universität neben radikalen Salafisten finden, ehemalige Dschihadisten neben Politprofis mit wechselvoller Karriere, aber auch neben Arbeitern und Bauern, die der Führung naiv und blind folgen.

Zu den Versammlungen kommen immer weniger Aktivisten (schätzungsweise nur noch 40 Prozent), die Rekrutierung neuer Anhänger stagniert, das Durchschnittsalter der Mitglieder steigt, und die Disziplin lässt zu wünschen übrig. Auch die Motive, sich der Bruderschaft anzuschließen, haben sich gewandelt: Heute tritt man ein, um sich Kontakte und ein paar Vorteile zu verschaffen, oder auch, weil man Geschäfte machen will. Bei solch unterschiedlichen Motiven ist es für die Führung nicht einfach, den künftigen Kurs zu bestimmen. Nicht einmal über die Haltung zu den Wahlen am 7. September bestand Einigkeit: Nach langem Zögern hat die Bruderschaft ihre Anhänger zur Teilnahme aufgerufen, ohne jedoch eine Wahlempfehlung auszusprechen.

Für die Muslimbruderschaft beginnt eine neue Ära. Die alten Pläne hat man aufgegeben, ein neues Ziel zu formulieren scheint unmöglich. Einst war die Organisation ein ernst zu nehmender Gegner der Mächtigen mit starkem Rückhalt in der Bevölkerung. Doch dieser Ruhm ist verblasst. Die Zukunft des ägyptischen Regimes liegt im Ungewissen, doch dasselbe gilt auch für die Muslimbrüder.

Fußnoten: 1 Siehe Wendy Kristianasen, „Die Muslimbrüder orientieren sich neu“, Le Monde diplomatique, April 2000. 2 Mohamed Mehdi Akef, der Führer der Muslimbruderschaft, hat sich für die Gründung einer koptischen Partei ausgesprochen. 3 Siehe Hussam Tammam und Patrick Haenni, „Ganz entspannt shoppen im Al-Salam-Center“, Le Monde diplomatique, September 2003.

Aus dem Französischen von Edgar Peinelt Hussam Tammam ist Journalist und Wissenschaftler und lebt in Kairo.

Le Monde diplomatique vom 16.09.2005, von Hussam Tammam