16.09.2005

Endliche Macht

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Endliche Macht

von Alain Gresh

Am 2. Juni fand in Wladiwostok ein Treffen der Außenminister Chinas, Russlands und Indiens statt. Dabei paraphierten Peking und Moskau ein Abkommen zur Beilegung ihres bilateralen Grenzkonflikts, während Indien seine Absicht bekräftigte, 1 Milliarde Dollar in das russische Erdöl- und Erdgasprojekt Sachalin I zu stecken. Alle drei Länder verwahrten sich dagegen, dass in den internationalen Beziehungen zweierlei Maß gelten soll – eine deutliche Kritik an der Politik der Bush-Administration.

Betrachten wir drei weitere Ereignisse: Die chinesische Führungselite reiste in den letzten Jahren immer häufiger nach Afrika und Lateinamerika; zwischen den USA, Europa und China gibt es latente und offene Handelskonflikte; Südkorea räumt Nordkorea, anders als Washington, das Recht auf zivile Nutzung von Atomenergie ein. Zusammengenommen machen diese Fakten die Umrisse einer Weltgeopolitik sichtbar, die sich nicht eindimensional auf den unaufhaltsame Durchmarsch der neoliberalen Globalisierung reduzieren lässt.

Diese Fakten zeigen, dass Nationalismen, traditionelle Werte und geschichtlich verankerte Ambitionen keineswegs abgestorben sind. Und dass allenthalben die Kräfte zunehmen, die sich der neuen Weltordnung nicht fügen wollen. Von einem unwiderstehlichen „Superimperialismus“, der jegliche Konkurrenz und alle Rivalitäten beseitigt, kann keine Rede sein. Als Gegenpol zu den USA erstarkt in Peking und São Paulo, in Seoul und New Delhi ein wirtschaftlich und politisch motivierter Patriotismus. Im September 2003 brachten in Cancún zwanzig Länder des Südens unter Führung von Indien, Brasilien und Südafrika die Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation zum Scheitern, weil ihre Forderungen kein Gehör fanden.

Das „Ende der Geschichte“ kündigt laut Francis Fukuyama nicht nur den Triumph der Globalisierung an, sondern auch den Sieg des neoliberalen Modells, verkörpert durch die USA. Doch diese können schon lange nicht mehr die „Herzen und Köpfe“ erobern. Die Ideen der Französischen Revolution strahlten 1789 nicht nur auf weite Teile Europas aus. Die Russische Revolution stellte für den Westen ideologisch wie militärisch lange Zeit eine Herausforderung dar. Die USA jedoch waren in der Welt noch nie so unbeliebt wie auf dem Höhepunkt ihrer militärischen Macht. „Sogar China ist besser angesehen“, titelte die International Herald Tribune am 24. Juni 2005.

Kein Land kann in den nächsten zehn Jahren erwarten, mit den USA rivalisieren zu können. Und doch hat sich die gigantische Militärmacht USA im Irak in eine Sackgasse manövriert. Und die Skandale um Guantánamo und Abu Ghraib, Folterpraktiken und der Abbau der Grundrechte unterminieren die Prätentionen der Vereinigten Staaten – und mitunter auch Europas – und damit ihren Monopolanspruch auf allgemein verbindliche Werte. Ihren Anspruch also, über Gut und Böse zu befinden, zu definieren, welches Regime zu dulden ist und welches nicht, zu entscheiden, in welchem Fall Sanktionen fällig sind und in welchem nicht.

Doch die Versuche, eine verkürzte Sicht auf die Welt, auf Recht und Moral durchzusetzen, werden nicht widerstandslos hingenommen. Die Erfolge von arabischen Satellitensendern wie al-Dschasira oder dem neuen Fernsehkanal TeleSur in Lateinamerika bezeugen im Bereich der Medien einen Trend zur Gehorsamsverweigerung, der auch in Bereichen von Politik, Wirtschaft und Kultur um sich greift. Wobei nicht bestritten werden soll, dass diese ablehnende Haltung mitunter ins Fahrwasser des religiösen und nationalen Extremismus gerät und damit die Idee von einem „Kampf der Kulturen“ nährt.

Zu Beginn des 18. Jahrhunderts hatte sich Europa gegenüber den anderen Mächten als Hegemonialmacht etabliert. Es war das Resultat einer einzigartigen historischen Konstellation, die dem alten Kontinent auch das militärische Übergewicht verschaffte. Das wiederum machte es möglich, den Rest europäischer Kolonialherrschaft zu unterwerfen. Diese Vorherrschaft legitimierte man mit der angeblichen Überlegenheit jahrtausendealter Werte und Ideen, die man als Erbe der griechischen Philosophie ausgab. Das ließ alle anderen Kulturen als „barbarisch“ und „minderwertig“ erscheinen. An solche Vorurteile aus alten Zeiten scheinen die USA, und zuweilen auch die Europäer, heute wieder anzuknüpfen. Doch sie sollten nicht vergessen, dass auch die „fortgeschrittensten“ und „höchstentwickelten“ Kolonialreiche am Ende untergingen.

Le Monde diplomatique vom 16.09.2005, von Alain Gresh