Fette Fische
Die Umerziehung der Zuchtlachse
von Manfred Kriener
Es war ein schwarzes Jahr für den Lieblingsfisch der Deutschen. Der Zuchtlachs aus der Aquakultur erlebte 2016 eine der schwersten Krisen der letzten Jahre. Norwegen, weltweit die Nummer eins in der Lachsproduktion, kämpfte gegen einen massiven Befall von Seeläusen, und Chile, der zweitgrößte Lachslieferant, wurde von einer Algenpest überrascht. In Norwegen sollen nach Angaben des staatlichen Veterinäramts 53 Millionen Lachse verendet sein.
Für Chile meldete die Welternährungsorganisation FAO 27 Millionen toter Fische, das entsprach 20 Prozent der Bestände. Die Exporte der beiden Länder gingen deutlich zurück, der Preis stieg „in Regionen, wo es wirklich schmerzt“, so Matthias Keller vom Fischinformationszentrum Hamburg.
Die Meldungen rückten einen Industriezweig in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, der zuletzt vor allem mit jährlichen Wachstumsraten von mehr als 6 Prozent aufgefallen war. Die Aquakultur ist einer der am schnellsten wachsenden Zweige der Lebensmittelproduktion, und der Lachs ist einer ihrer Vorzeigefische. Allein Norwegen hat im vergangenen Jahr 1,2 Millionen Tonnen Lachs geliefert.
Die rasante Ausbreitung der Netzkäfige hat den einstigen Luxusfisch „demokratisiert“ und zur Massenware gemacht. In den Netzgehegen, die zwischen 25 und 50 Meter tief sind und 30 bis 50 Meter Durchmesser haben, wachsen die Lachse in mehr als zwei Jahren zur Schlachtreife heran.
Die Produktion schien zumindest in Europa weitgehend in ruhigen Bahnen zu verlaufen. Gern verwiesen vor allem norwegische Lachsfarmen auf den Rückgang des Antibiotikaverbrauchs. 1987 hatte der Einsatz der antibakteriellen Arzneien in norwegischen Lachsfarmen mit der unglaublichen Menge von 50 Tonnen seinen Höhepunkt erreicht. Dann kam eine Wende. In den 1990er Jahren ging der Verbrauch trotz massiv wachsender Lachsbestände stark zurück und fiel bald auf weniger als eine Tonne. Ursache sind die Impfungen der fingergroßen Jungfische gegen Infektionskrankheiten. In rasender Geschwindigkeit wird ein Fischlein nach dem anderen maschinell per Spritze geimpft.
Die beachtlichen Erfolge bei der Eindämmung des Antibiotikamissbrauchs verdecken jedoch andere Probleme der industriellen Lachszucht, vor allem den immer schwierigeren Kampf gegen Lachsläuse. Die Parasiten sind gegen die eingesetzten Insektizide teilweise resistent geworden.
Eine weitere, weitgehend unbekannte Kalamität sind die häufigen Fluchten von hunderttausenden, in Extremfällen sogar von Millionen Lachsen, die vor allem bei Stürmen aus den Netzgehegen entweichen und sich unter die Wildpopulation der Lachse mischen, wobei sie deren Genpool mit ihrem degenerierten Erbgut gefährden.
Auch das Futter der Lachse ist nach wie vor ein Kritikpunkt. Um Lachse zu mästen, wird noch immer sehr viel Fisch verfüttert – schließlich sind sie von Natur aus Raubfische. Seit einigen Jahren wird nun verstärkt versucht, den Lachs zum Veganer umzuerziehen. Sein Futter enthält heute neben Fischmehl und Fischöl große Mengen an Pflanzenöl, Soja, Getreide und Hülsenfrüchten.
Die größte Herausforderung aber ist und bleibt die Fischlaus. Die zwischen 8 und 12 Millimeter großen Parasiten heften sich an die Haut der Lachse und fressen schlimmstenfalls regelrechte Löcher in den Fischkörper. Durch die hohe Fischdichte in den Netzgehegen können sich die Läuse bestens vermehren. In Extremfällen sind einzelne Zuchtlachse von Dutzenden Läusen befallen.
Zur Bekämpfung des Schädlings kommen mehrere Methoden infrage. Die sanfteste ist der Einsatz kleiner Putzerfische, die die Läuse abfressen. Dies scheint bei massivem Befall aber nicht auszureichen. Zudem wurden die Putzerfische zuletzt knapp, wie die Aquakulturbranche klagt. Sie sollen künftig in größerer Menge produziert werden.
Der Einsatz von Insektiziden schien damit in vielen Fischfarmen unvermeidlich. Als Fisch-Entlausungsmittel dienen unter anderem die aus dem Obstbau bekannte Chemikalie Emamectinbenzoat oder das in der Forstwirtschaft gegen Raupen und Stechmücken eingesetzte Diflubenzuron. Bei der Anwendung wird meist eine große Plane rund um die Netzgehege gezogen, um das Insektizid in das abgeschirmte „Bassin“ zu schütten. Ein solches Chemikalienbad muss bei manchen Lachsfarmen mehrmals im Jahr wiederholt werden. Auch das Bleich- und Desinfektionsmittel Wasserstoffperoxid soll die Läuse abtöten. Der Verbrauch von Wasserstoffperoxid hat sich in schottischen Lachsfarmen zwischen 2011 und 2015 verfünfzehnfacht, berichtet ein BBC-Report. Auf jede Tonne verkauften Lachses kämen inzwischen 42 Liter des Bleichmittels.1
Schottland hat unter den Lachs produzierenden Ländern Europas den stärksten Läusebefall, hier ist jede zweite Lachsfarm betroffen. Mit den höheren Wassertemperaturen durch die Klimaveränderung hat sich das Problem verschärft. Sehr warmes Wasser wiederum ist tödlich für die Läuse, weshalb den Lachsen in manchen Farmen gezielte Warmbäder verabreicht werden.
2016 kam es in Loch Greshornish vor der schottischen Insel Skye zu einem Unfall, bei dem fast 100 000 Lachse regelrecht gekocht wurden, wie es in den Unfallberichten hieß. Bei der automatisch gesteuerten Läusebekämpfung im sogenannten Thermolicer werden die Lachse angesaugt und durch Rohre in ein Warmwasserbad gepumpt. 25 bis 30 Sekunden lang sollen sie in dem auf bis zu 34 Grad erhitzten Wasser bleiben und so von den Läusen befreit werden. Ist die Temperatur zu hoch oder die Verweildauer zu lang, wirkt sich das Bad allerdings nicht nur für die Läuse, sondern auch für die Lachse tödlich aus.
Für Fischfarmen sind die Läuse aus zahlreichen Gründen ein Problem: Die Bekämpfung ist aufwendig und teuer, die befallenen Lachse wachsen langsamer, die Fischkörper verlieren ihre Makellosigkeit, und der Läusebefall sorgt für schlechte Publicity, zumal Chemikalienreste von der Entlausung im Fischfleisch zurückbleiben können, was die Verbraucher verunsichert.
Die Läuseepidemie gefährdet aber auch die Wildlachse, die normalerweise nur selten von den Parasiten befallen werden. Doch mit der wachsenden Zahl an Aquakulturanlagen hat sich das geändert. „Es gibt jetzt überzeugende Beweise, dass Lachsfarmen die wichtigste Quelle für die Ausbreitung der Seelaus-Tierseuche auf junge Wildlachse in Europa und Nordamerika sind“2 , heißt es dazu in einer Untersuchung von Professor Mark J. Costello von der Universität in Auckland, Neuseeland.
Für die Ausbreitung der Läuse und anderer Krankheiten sorgen auch die vielen Hunderttausend Zuchtlachse, die jedes Jahr aus den Netzkäfigen entweichen. Am 21. April 2007 kam es zum bis heute größten Ausbruch von Zuchtfischen in der Geschichte der Aquakultur. An dem Tag registrierten Seismografen ein Erdbeben der Stärke 6,2 vor der Küste von Chile. Auf den Aysén-Fjord im Süden des Landes, einem Zentrum der Lachsindustrie, rollte eine 14 Meter hohe Flutwelle zu. Obwohl sie keine bewohnten Gebiete traf, waren die Folgen verheerend. Zehn Menschen, die in der Bucht auf Booten unterwegs waren, starben. Und aus den zerstörten Netzkäfigen der Lachsindustrie entkamen 5 Millionen Fische.
Auch ohne Erdbeben und Flutwellen entkommen Jahr für Jahr hunderttausende Fische. Mal beschädigt ein unglücklich manövrierendes Schiff die Netzkäfige; mal reißt ein großer Raubfisch oder eine Robbe ein Loch hinein; mal zerrt die raue See eine Anlage aus der Verankerung. Beim Lachs sind die Verluste durch eine Reihe von Forschungsberichten gut belegt.
Allein der Marktführer Norwegen meldete während eines 14-jährigen Beobachtungszeitraums durchschnittlich 450 000 entkommene Fische pro Jahr. Das zumindest sind die offiziellen Zahlen, die auf Schadensmeldungen der Betreiber zurückgehen. Über die Dunkelziffer darf spekuliert werden. Norwegische Wissenschaftler schätzen, dass maximal ein Drittel der entkommenen Lachse den Aufsichtsbehörden vorschriftsmäßig gemeldet werden.3 Vertuschte Ausbrüche kommen gelegentlich ans Licht, wenn in Wildfängen plötzlich lauter Zuchtfische zappeln. Die Identifizierung ist relativ einfach. Die massiger wirkenden, größeren Zuchtfische unterscheiden sich in ihrem Aussehen von den wilden Lachsen, sie besitzen bestimmte genetische Marker und auch die Impfung hinterlässt Spuren, die sie als Käfiginsassen ausweisen.
Davon betroffen sind auch Angler: Weil Wildlachse selten geworden sind, hängen immer öfter Zuchtlachse am Haken, wenn die Tiere in der Laichsaison die Flüsse hinaufziehen und die Angler ihre Köder auswerfen. Norwegische Wissenschaftler haben 20 Flüsse entlang der norwegischen Küste systematisch nach entwichenen Farmlachsen untersucht. Fast alle Gewässer wiesen einen erheblichen Bestand an Zuchtfischen auf. In den Flüssen Loneelva, Vosso und Opo war jeder dritte gefangene Fisch ein Flüchtling aus der Aquakultur.
Das Einsickern entwichener Zuchtlachse verändert den Genpool der Wildlachse, der sich über Jahrhunderte an die lokalen Ökosysteme angepasst hat. Farmlachse sind ganz auf Wachstum getrimmt, sie sind aggressiver und größer, weniger fit, haben eine geringere Fruchtbarkeit und – Lachse können bis zu zehn Jahre alt werden – eine kürzere Lebenserwartung. Und sie bringen auch ihre Krankheiten mit. Die Vermischung mit der vitaleren Wildpopulation wird deshalb durchweg negativ beurteilt. Das schnelle Wachstum und die Aggressivität sichern ihnen in der Konkurrenz mit dem Wildlachs in bestimmten Lebensphasen deutliche Vorteile. Da die Bestände der Wildlachse ohnehin zurückgehen, ist die Unterwanderung durch die weniger überlebenstüchtigen Zuchtlachse ein gravierendes Problem.
Die aus Kreuzungen zwischen Farm- und Wildlachs entstehenden Fische haben ebenfalls eine reduzierte Lebenserwartung, sie sind schlechter an die Ökosysteme angepasst und unterscheiden sich in Form, Größe und Verhalten, in Stresstoleranz und Widerstandskraft deutlich von echten Wildlachsen. Überlebensrate und Fortpflanzungserfolg entwichener Zuchtlachse sind deutlich reduziert.4 Manchmal lassen sich entwischte Fische auch wieder einfangen: Da sie auf regelmäßige Fütterung programmiert sind, schwimmen sie freiwillig zu den Netzgehegen zurück. Ihr Futter bekommen Zuchtlachse in Form von Pellets, die Gase enthalten und deshalb besonders leicht sind, damit sie im Wasser langsamer absinken. So haben die Fische mehr Zeit zum Fressen, die Futterverluste halten sich in Grenzen, ebenso die Futterreste, die sich mit den Fäkalien am Meeresboden sammeln.
Noch Anfang der 1990er Jahre bestand das Futter der Lachse überwiegend aus Fischmehl und Fischöl. Vor allem die großen Anchovisschwärme vor der Küste Perus lieferten den Futtermittelfirmen riesige Mengen proteinreiches Fischmehl, das in geringen Teilen bis heute auch in der Schweine- und Hühnermast eingesetzt wird. In den letzten zehn Jahren schwankte die Fischmehlproduktion zwischen 4,7 und 5,9 Millionen Tonnen. Eine Steigerung ist angesichts der überfischten Weltmeere kaum möglich. Aus einem Kilogramm gefangenem Futterfisch holt die Industrie 225 Gramm Fischmehl und, je nach Fettgehalt der Fische, 50 bis 100 Gramm Fischöl heraus.
Um den Verbrauch von Wildfischen für die schnell wachsende Aquakultur zu reduzieren, wird inzwischen fast ein Drittel des verfütterten Fischmehls aus Fischabfällen gewonnen. Diese fallen zum Beispiel bei der Fischverarbeitung an, wenn Filets geschnitten werden. Innereien, Köpfe und Schwänze werden dann zu Fischmehl verarbeitet. Weil die Innereien aber auch die Entgiftungsorgane der Tiere enthalten, ist aus Abfällen gewonnenes Fischmehl stärker mit Schadstoffen belastet als aus ganzen Wildfischen hergestelltes Mehl.
Um den Fischverbrauch der Aquakultur zu reduzieren, bekommen inzwischen insbesondere die Zuchtlachse anstelle von Fischmehl und Fischöl zunehmend pflanzliche Rohstoffe zu fressen. So wird der Raubfisch zum Veganer. Das sogenannte Fi-Fo-Verhältnis („Fish in – Fish out“-Ratio, Fi-Fo) gibt an, wie viel Input an verfüttertem Wildfisch nötig ist, um ein Kilogramm Zuchtfisch zu erzeugen. Beim norwegischen Zuchtlachs ist dieses Verhältnis von 7,2 im Jahr 1990 auf 1,7 im Jahr 2013 gesunken, wie eine 2015 erschienene Studie von Trine Ytrestøyl und anderen vorrechnet.5
2013 waren also 1,7 Kilogramm zu Fischmehl verarbeiteter Wildfang nötig, um ein Kilogramm Lachs zu produzieren. Beim Fischöl sank die Fi-Fo-Marke im selben Zeitraum von 4,4 auf 1,0. Damit wird in der Summe von Fischöl und Fischmehl trotz aller Anstrengungen immer noch mehr Fisch verbraucht als erzeugt.
Die Umerziehung des Lachses zum Veganer geht allerdings weiter, zumal der Fischmehlpreis sich gegenüber den 1990er Jahren verdoppelt und verdreifacht hat. Damals schwankte er zwischen 350 und 750 Dollar pro Tonne. Zwischen 2010 und 2014 erreichte er mehrmals die 2000-Dollar-Marke, um zuletzt wieder auf rund 1200 Dollar zu fallen.
Wichtigster Bestandteil des Lachsfutters ist heute Soja. Die oben zitierte Studie von Ytrestøyl beziffert den Sojaanteil am Lachsfutter auf bereits 21,3 Prozent. Rapsöl kommt auf 18,3 Prozent, dazu kleinere Anteile Weizen, Sonnenblumen, Bohnen und Erbsen. Der Fischmehlanteil ist auf 19,5 Prozent gesunken, Fischöl macht noch 11,2 Prozent des Lachsfutters aus.
Carsten Schulz, Leiter der Gesellschaft für Marine Aquakultur, berichtete auf einer Tagung in Loccum von Experimenten mit Rapsschrot als Fischfutter. Der Rapsanbau für die Agrodieselproduktion liefert große Abfallmengen an Rapsschrot, aus denen Proteine gewonnen werden. Raubfische wie der Lachs vertragen dieses Pflanzenfutter allerdings denkbar schlecht, sie reagieren mit Durchfällen. Deshalb müssen die pflanzlichen Rohstoffe von Fasern, Kohlehydraten und anderen schwer verdaulichen Bestandteilen befreit werden. Dazu werden die Proteine isoliert und mit Aminosäuren angereichert. Die Low-Carb-Diät ist aufwändig und teuer. Und selbst nach der fischgerechten Aufarbeitung werden die pflanzlichen Futterpellets nur ungern gefressen. Da muss dann ein Zusatz von Miesmuscheln als Geschmacksträger helfen. Die derart aromatisierte Kost fressen die Fische dann ohne zu mucken.
Ein unerwünschter Nebeneffekt der pflanzlichen Kost betrifft die als besonders gesund geltenden Omega-3-Fettsäuren. Ernährungsberater rühmen fette Fische wie den Lachs gerade wegen seiner speziellen Fettsäuren. Doch je vegetarischer der sich ernährt, desto weniger Omega-3-Fettsäuren setzt er an. Statt eines Lachsfilets könnte man also auch eine Gemüsepfanne mit einem Schuss Olivenöl servieren.
Manfred Kriener ist Umweltjournalist in Berlin.
© Le Monde diplomatique, Berlin