07.09.2017

Die Belagerten von Mossul

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Die Belagerten von Mossul

Im Juli verkündete die irakische Regierung die Rückeroberung von Mossul. Die Großstadt, die der IS mehr als drei Jahre terrorisiert hat, ist ein Zentrum der Sunniten. Sie haben alles verloren – und stehen nun auch noch im Verdacht, mit den Dschihadisten kollaboriert zu haben.

von Patrick Cockburn

Altstadt von Mossul, 5. August 2017 MARIUS BOSCH/reuters
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Am 22. Mai dieses Jahres verließ der arbeitslose Taxifahrer Ahmed Mohsen sein Haus im Westen von Mossul, der zu diesem Zeitpunkt vom „Islamischen Staat“ (IS) kontrolliert wurde. Ahmed wollte den Tigris überqueren, um in den von irakischen Truppen eroberten Teil der Stadt zu gelangen. Er selbst, seine Mutter und weitere zehn zur Flucht Entschlossene schleppten Autoschläuche zum Tigris­ufer hinunter. Da die meisten von ihnen nicht schwimmen konnten, wollten sie auf diese Weise eine Art Floß zusammenbauen.

Die Belagerung von Mossul ging in den siebten Monat. Die Verzweiflung von Ahmed war ebenso groß wie sein quälender Hunger. Er und seine Mutter lebten von ein paar Portionen aufgekochten Weizens, von dem Ahmed chronische Magenschmerzen bekam. Seine Freunde glauben, es war der Hunger, der ihn am Ende dazu brachte, die gefährliche Überquerung zu wagen. „Selbst wenn ich im Fluss sterbe“, hatte er zu ihnen gesagt, „ist das besser, als auf dieser Seite hier zu leben.“

Die IS-Kämpfer nahmen Leute, die ihnen entkommen wollten, gezielt unter Beschuss. Ihre Kommandeure benutzten die Zivilbevölkerung als menschliche Schutzschilde. Damit wollten sie die irakischen Regierungstruppen und die US-Luftwaffe davon abhalten, ihre volle Feuerkraft einzusetzen. Ihre Strategie war seit Beginn der Belagerung von Ostmossul am 17. Oktober 2016 in gewisser Hinsicht erfolgreich gewesen. Die Iraker und ihre Verbündeten brauchten drei Monate, um diesen Teil der Stadt einzunehmen.

Als dann am 19. Februar 2017 der Angriff auf Westmossul begann, war es mit der Zurückhaltung der Iraker und der US-Luftwaffe vorbei. Angesichts des immer stärkeren Beschusses blieb für Ahmed und seine Gruppe nur noch eine mögliche Fluchtroute über den Tigris: zwischen der fünften und der sechsten Brücke, die beide durch Bomben der Koalition zerstört worden waren.

Ahmed hatte bereits beobachtet, wie drei Menschen beim Übersetzen von IS-Scharfschützen getötet worden waren. Ihn erwartete dasselbe Schicksal: Eine Kugel traf ihn in den Rücken. Seine Fluchtgruppe wurde unter Feuer genommen, noch ehe sie die Autoschläuche aufs Wasser setzen konnten. Von den zehn Personen schaffte es nur eine, ein guter Schwimmer, bis zum östlichen Tigrisufer.

Nach Berichten von Augenzeugen, die von ihren Häusern aus die Uferzone überblicken können, blieb Ahmeds Mutter drei Tage lang bei der Leiche ihres Sohns sitzen. Niemand wagte, ihr zu Hilfe zu kommen, alle hatten Angst, selbst erschossen zu werden. Am dritten Tag waren die Mutter und Ahmeds Leichnam nicht mehr zu sehen. Wahrscheinlich hatte man sie – wie Hunderte anderer Opfer – in den Fluss geworfen.

Von Ahmeds Existenz hatte ich auf indirektem Wege erfahren, nur zwei Monate vor seinem Tod. Der IS hatte Mossul im Juni 2014 eingenommen; seitdem war der Kontakt mit Menschen in seinem Herrschaftsbereich extrem erschwert, nicht nur für Journalisten. Die Bevölkerung sollte von der Außenwelt hermetisch abgeschnitten werden. Deshalb zerstörte der IS Mobiltelefonmasten und untersagte den Gebrauch von Handys. Wer beim Telefonieren erwischt wurde – was überhaupt nur an wenigen höher gelegenen Stellen der Stadt möglich war – wurde sofort hingerichtet.

Wir Journalisten konnten zwar Menschen interviewen, die aus dem IS-Gebiet geflohen waren, aber brauchbare Informationen waren damit kaum zu gewinnen. Flüchtlinge aus Mossul, die es auf von der irakischen Regierung oder den irakischen Kurden kontrolliertes Territorium geschafft hatten, waren auf die Gnade der örtlichen Militär- und Zivilbehörden angewiesen. Also taten sie gut daran, den IS zu verdammen, damit sie nicht den Eindruck erweckten, selbst Mitglieder oder Kollaborateure der Islamisten gewesen zu sein.

Die Einwohner von Mossul sind vorwiegend sunnitische Araber und stehen bei Schiiten, Kurden, Christen und Jesiden unter dem Generalverdacht, mit dem IS unter einer Decke zu stecken. Der Mitarbeiter einer Menschenrechtsorganisation, der in einem Lager für Binnenflüchtlinge südlich von Mossul arbeitet, erzählte mir, er habe nie zuvor so verängstigte Menschen gesehen wie jene vor dem IS geflüchteten jungen Männer, denen die Vernehmung durch irakische Geheimdienstler bevorstand. Die Iraker wollten herausfinden, ob die jungen Sunniten IS-Kämpfer waren. „Eines Tages sah ich, wie zwei Männer im Rekrutenalter zum Verhör in ein Zelt geführt wurden. Zwei Stunden später wurden die beiden blutüberströmt auf Tragbahren ins Camp-Hospital gebracht.“

Als der Angriff auf Westmossul intensiviert wurde, ging die Strategie des IS, die Menschen in seinem schrumpfenden Territorium zu isolieren, nicht mehr auf. Die irakische Regierung schaffte einen Handymast heran, der, montiert auf einem Lastwagen, an der Nabi-Yunus-Moschee1 aufgestellt wurde. Die Ruine dieses Gotteshauses, das der IS 2014 gesprengt hatte, steht auf dem höchsten Punkt des östlichen Tigrisufers.

Allmählich funktionierten die Telefone in West­mossul wieder. Und der IS war derart mit der Verteidigung gegen die irakische Armee ausgelastet, dass er keine Jagd mehr auf telefonierende Menschen machen konnte. Einer meiner Bekannten, der am Ostufer des Tigris wohnt, erzählte mir, dass er seitdem – wenn auch über eine schlechte Verbindung – wieder mit Verwandten und Freunden im IS-Territorium auf der anderen Seite sprechen konnte.

Als Ahmed Mohsen zusammen mit seiner Mutter in der Falle der Altstadt von Mossul saß, war er 31 Jahre alt. Sein Vater war tot, eine verheiratete Schwester wohnte in der Nähe, ein Bruder lebte als Flüchtling in Deutschland. Als ich ihn über einen vertrauenswürdigen Mittelsmann zur Situation in Mossul befragen konnte, gab er sehr detailliert Auskunft: „Täglich kommen Dutzende Zivilisten um, darunter auch Kinder. Gestern wurden zwei Kinder durch eine Mörsergranate der irakischen Armee getötet, die im Ostteil der Stadt abgeschossen wurde.“ Für die Behauptungen der Regierungen in Washington und Bagdad, dass in Mossul nur „intelligente Artillerie“ zum Einsatz komme, hatte er nur Spott übrig.

In Washington ging man anfangs davon aus, dass die Belagerung der Stadt nur zwei Monate dauern würde. Im März 2017 waren es aber schon fünf Monate, und da hatten die schwersten Kämpfe – in den Gassen der dicht bebauten Altstadt – noch gar nicht begonnen. Zu dem Zeitpunkt waren nach Angaben des US-Oberkommandos 774 Soldaten der irakischen Streitkräfte getötet und 4600 verwundet worden.

Die Polizei war schwer bewaffnet, aber schlecht ausgebildet

Daraufhin wurden die Einsatzregeln geändert. Jetzt konnten Kampfeinheiten, wenn sie ein Haus zerstören wollten, in dem sie einen IS-Scharfschützen vermuteten, jederzeit Luftangriffe oder Artilleriebeschuss anfordern. Für Letztere waren irakische Polizeieinheiten und militärische Eingreifkräfte zuständig, die allesamt schwer bewaffnet, aber unzureichend ausgebildet waren. Sie zielten mit ihren – nicht besonders präzisen – Kanonen und Raketen auf die dicht bewohnten Viertel, wo noch bis in die letzten Wochen der Belagerung rund 300 000 Menschen in Treppenhäusern und Kellern ausharrten.

Als dann die Altstadt erobert war, konnte man beim Anblick der Ruinenlandschaft genau feststellen, wo die Raketen und Granaten zum Beispiel Teile eines Gebäudes weggefegt und wo Fliegerbomben ganze Häuserblocks in Trümmerhaufen verwandelt hatten.

In einem Bericht von Amnesty International heißt es: „Irakische Truppen und die US-geführte Koalition setzten unpräzise Explosivwaffen ein und töteten damit tausende Zivilisten.“2 Bis Ende März dieses Jahres waren sehr viele Zivilisten in den vom IS gehaltenen Stadtteilen durch Artilleriegranaten, Raketen und Bomben umgekommen.

Und dann kam der Hunger hinzu, erzählte mir Ahmed: „Die Leute in unserem Viertel durchsuchen den Müll, um etwas zu essen für ihre Kinder zu finden.“ Zwar gab es noch offene Märkte, aber Gemüse und Obst waren nicht mehr zu bekommen. Ahmed und seine Familie hatten etwas Mehl und Reis gehortet, betrachteten diese Vorräte aber als unantastbare Notration für die Kinder der weiteren Verwandtschaft.

Die Luftangriffe der Koalition verließen sich auf – ebenso schlichte wie tödliche – aus der Luft erkennbare Anzeichen, um mutmaßliche IS-Gebäude zu identifizieren. Ahmed hatte einen Teil seines Hauses mit Stoffplanen überspannt, ein in Mossul verbreiteter Sonnenschutz, schließlich steigen die Temperaturen im Sommer oft auf 45 Grad und mehr. Fatalerweise benutzte der IS ähnliche Planen, um Gassen oder Innenhöfe so abzudecken, dass die gegnerischen Aufklärungsflugzeuge die Bewegungen seiner Kämpfer nicht erfassen konnten.

Die Koalition hatte zwar offiziell angekündigt, dass sie Häuser mit Stoffplanen als IS-Ziele angreifen würde, aber im Westen der Stadt hatte das kaum jemand mitbekommen. Am 28. März tauchte eine Drohne über Ahmeds Anwesen auf und warf eine Bombe ab. Sie traf eine Ecke des Gebäudes, direkt neben einem Wassertank.

Ahmed erzählte mir am Telefon, wie er durch eine einstürzende Mauer verletzt wurde: „Ich habe mich, halb gehend, halb kriechend, zu einer kleinen Behelfsklinik geschleppt, aber die konnten mein Bein nicht richtig versorgen.“ Die Ärzte erklärten ihm, er müsse operiert werden, aber sie hatten nicht die nötige Ausrüstung dafür und konnten ihn nur verbinden. All das erzählte Ahmed, während er vor Schmerzen wimmernd wieder zu Hause in seinem Bett lag.

Als ich die Geschichte von Ahmed erstmals für eine Zeitung aufschrieb, änderte ich seinen Namen und sein Alter und ließ alle Details weg, die ihn identifizierbar gemacht hätten, denn er hatte fürchterliche Angst vor dem IS. Damals hoffte ich, ihn nach dem Ende der Belagerung treffen zu können, obwohl ich seinen Schilderungen entnahm, dass er womöglich nicht überleben würde.

Mossul war schon lange zuvor ein gefährlicher Ort gewesen. Ich hatte erlebt, wie die Stadt 2003, nach der US-Invasion im Irak, von kurdischen Bodentruppen mit Unterstützung der US-Luftwaffe eingenommen worden war. Damals brach die öffentliche Ordnung innerhalb weniger Stunden zusammen. Plünderer räumten die Regierungsgebäude aus, und von den Minaretten riefen sunnitische Geistliche die Gläubigen zum Bau von Barrikaden auf.

In den folgenden elf Jahren konnten weder die US-Amerikaner noch die von Schiiten dominierte irakische Regierung Mossul ganz unter ihre Kontrolle bringen. Im Juni 2014 erfolgte dann der Überraschungsangriff des IS, der mit ein paar tausend Mann eine Garnison irakischer Regierungstruppen von mindestens 20 000 Soldaten überrannte.

Damals fuhr Ahmed, der aus einer armen Familie stammte, mit seinem Taxi die vierstündige Route zwischen Mossul und Bagdad hin und her. Seine Freunde beschreiben ihn als angenehmen und großzügigen Menschen, der gern mit seinen Fahrgästen plauderte und sein Auto, das sein ganzer Stolz war, sorgfältig pflegte. Zwar war es nicht sein Eigentum, aber er war immerhin Teilhaber und legte Geld zurück, um es ganz zu kaufen.

Als der IS Mossul überrannte, waren Reisen in Gebiete unter Kontrolle der irakischen Regierung noch nicht ganz unmöglich. Ahmed fuhr also weiter nach Bagdad. Nach ein paar Monaten wurde er vom IS verhaftet und beschuldigt, Mitgliedern der irakischen Polizei und Armee zur Flucht aus Mossul verholfen zu haben. Nach Aussage eines Freundes saß er drei Monate im Gefängnis und wurde gefoltert. Nach seiner Entlassung war er arbeitsunfähig, bald darauf sperrten sie ihn erneut für sechs Wochen ein. „Als Ahmed zum zweiten Mal freikam“, erzählte sein Freund, „verkaufte er den Anteil an seinem Taxi. Mit dem Geld konnte er weitere zwei Jahre IS-Herrschaft überleben. Aber seit Kurzem ist er pleite.“

Nachdem die Belagerung begonnen hatte, gingen Ahmed und seine Mutter davon aus, dass die IS-Herrschaft nicht mehr lange dauern und sich die Lage danach bessern würde. Sie hatten vor, in die Türkei zu reisen, wo sie Ahmeds Bruder treffen wollten. Der hat offenbar als Einziger aus der Familie überlebt. Er versucht eine Sterbeurkunde für Ahmed zu bekommen, mit der er in Deutschland seinen Anspruch auf Asyl begründen könnte und dann vielleicht auch eine Arbeitserlaubnis erhalten würde.

Ahmeds Schwester ist vermisst: Es ist davon auszugehen, dass sie bei einem Luftangriff umgekommen ist, obwohl ihre Leiche nicht gefunden wurde. Eine solche Ungewissheit herrscht in vielen Fällen: Die Zivilschutzeinheit in Westmossul bestand zeitweise nur aus 25 Mann, die nichts als einen Bulldozer und einen Gabelstapler hatten, um nach den tausenden von Leichen zu suchen, die unter den Ruinen verschüttet waren. Die Bergungstrupps bekommen von der Regierung in Bagdad ihren Lohn nicht ausbezahlt, weshalb sie nur tätig werden, wenn sie von Angehörigen der Verschütteten eindeutige Hinweise bekommen, wo sie jemanden finden könnten.

Ahmed gehörte zu den 5 bis 6 Millionen Sunniten, die im Irak stets in der Minderheit waren, aber schon unter osmanischer und britischer Herrschaft und auch nach der Unabhängigkeit unter dem Baath-Regime politisch dominierten. Nach 2003 wurden die Sunniten jedoch zum großen Verlierer in einem Bürgerkrieg, an dessen Ende die Schiiten die Kontrolle über den heutigen irakischen Staat erlangten. So sind die Sunniten in Bagdad seit 2007 in kleine Enklaven zurückgedrängt, die ein US-Diplomat einmal als „Inseln der Angst“ bezeichnet hat.

Die Erfolge des IS im Irak und in Syrien bescherten den Sunniten ein kurzes Comeback. Aber als die von der US-Luftwaffe unterstützte Gegenoffensive der irakischen Regierung Städte wie Ramadi, Falludscha, Baidschi und Tikrit zerstörte, wurde ein Großteil der sunnitischen Bevölkerung zu Flüchtlingen. „Wir sind die neuen Palästinenser“, sagte mir 2015 ein sunnitischer Journalist aus Ramadi. Zu der Zeit lebten in der Provinz Kirkuk eine halbe Million vertriebene sunnitische Araber, zu denen jetzt noch eine Million Menschen aus Mossul und Umgebung kommen.

Die meisten irakischen Sunniten beteuern, dass sie nie aufseiten des IS waren; hätten sie aber jede Kooperation verweigert, wären sie umgebracht worden – sie seien deshalb Opfer des IS wie alle anderen auch. Doch das wird ihnen nicht viel helfen. In den Augen der anderen Bevölkerungsgruppen im Irak und in Syrien gelten sie weiterhin als heimliche, wenn schon nicht offene IS-Kollaborateure. Der ethnisch und reli­giös programmierte Hass sitzt tief, insbesondere nachdem Verbrechen wie das Massaker von ­Tikrit bekannt wurden, bei dem der IS im Juni 2014 nach einem Angriff auf das Camp Speicher 1700 schi­i­tische Kadetten exekutiert hatte.3

Der Widerstand des IS war stärker als erwartet

Die Angst vor „Schläfern“ des IS ist allgegenwärtig. Der Kommandeur einer syrisch-kurdischen Einheit, die auf die nordsyrische Stadt Hasaka vorrückte, setzte mir auseinander, dass die größte militärische Bedrohung für seine Leute von den Bewohnern der sunnitisch-arabischen Dörfer ausgehe. Als wir an einer solchen Siedlung vorbeifuhren, winkten uns einige Männer nervös zu. Vermutlich durften sie danach nicht mehr lange in ihren Häusern bleiben. Im Irak vertreiben sunnitische Stammesführer die „Daesh-Familien“, also IS-Anhänger, aus ihrem Gebiet, um ihre Loyalität gegenüber Bagdad zu beweisen. Überall im Nordirak und in Syrien gibt es Säuberungen, deren Opfer sunnitische Gemeinschaften sind.

Dass die Schlacht um Mossul – wo der IS am 29. Juni 2014 sein Kalifat ausgerufen hatte – sehr blutig werden würde, war seit Langem klar. Dass es dann noch schlimmer kam als erwartet, lag an mehreren Fehleinschätzungen seitens der Koalition. Zum einen waren die eigenen Kräfte schwächer und der Widerstand des IS stärker, als man in Bagdad und Washington angenommen hatte. Der irakische Ministerpräsident Haider al-Abadi war überzeugt, dass die Bewohner von Mossul gegen den IS rebellieren würden, sobald sich ihnen die Chance böte. Deshalb wurde die Bevölkerung zu Beginn der Belagerung nicht aufgefordert, die Stadt zu verlassen.

Zum anderen verfügte der IS über einen gut organisierten Sicherheitsapparat, der alle Bewohner, die ein Zeichen des Aufbegehrens erkennen ließen, einfach umbrachte. Auch militärisch war der IS kompetenter als vermutet: Die Verteidiger von Mossul setzten auf eine Kombination aus Scharfschützen, Selbstmordattentätern, Granatwerfern, Minen und Sprengfallen. Zudem ­wechselten die Kämpfer ständig ihre Position, womit sie dem Gegner schwere Schläge beibrachten und ihre eigenen Verluste – trotz der weit überlegenen Feuerkraft ihrer Feinde – gering halten konnten.

Auf Regierungsseite trug die Antiterrordivi­sion die Hauptlast der Kämpfe um Ostmossul. Sie verfügte über knapp 10 000 bestens ausgebildete Soldaten und hatte dennoch eine Verlustquote von 40 bis 50 Prozent zu beklagen. Ausfälle dieser Größenordnung kann eine Truppe nicht lange durchstehen.

Nach der Einnahme des Ostens beschlossen die irakische Regierung und die US-geführte Koa­lition für die Eroberung der Stadtteile westlich des Tigris eine andere Strategie. Dabei fiel den irakischen Einheiten mit ihren Granatwerfern, ihrer Artillerie und ihren Raketenwerfern eine viel wichtigere Rolle zu. Sie feuerten ganze Batterien russischer Grad-Raketen in Richtung des IS-Territoriums.4 Auch Raketenköpfe eigener Produktion – 90 bis 140 Kilo schwer – gingen auf die Altstadt von Mossul nieder, die zu den am dichtesten besiedelten Flecken dieser Erde gehört.

Die Bevölkerung von Mossuls Westteil ist wesentlich größer als die des Ostens: nach UN-Schätzungen rund 750 000 Menschen gegenüber 450 000 am Ostufer. Und die Gebäude liegen dichter beieinander und sind leichter zu verteidigen. Viele Gassen in der Altstadt sind so eng, dass keine zwei Leute nebeneinander hergehen können.

Hinzu kam, dass der IS vor Beginn der Regierungsoffensive die Bewohner umliegender Dörfer gezwungen hatte, in die Stadt zu ziehen. Als das IS-Territorium immer weiter schrumpfte, wurden die Zivilisten mit vorgehaltener Waffe gezwungen, tiefer in die IS-Enklave zurückzuweichen. Wer versuchte, hinter die Linien der Regierungstruppen zu gelangen, wurde von Scharfschützen abgeknallt; die Metalltüren der Häuser schweißte man zu; wer auf der Flucht gefasst wurde, endete aufgehängt an einem Strommast. Wie Überlebende berichteten, mähten IS-Patrouillen einmal mindestens 75 fliehende Menschen nieder.

Die irakische Regierung verbreitet falsche Zahlen

Niemand weiß genau, wie viele Zivilisten insgesamt in Mossul getötet wurden. Über längere Zeiträume schlugen Serien von Granaten, Raketen und Bomben in Häuser ein, in denen bis zu 100 Menschen Schutz gesucht hatten. Wie mir der ehemalige irakische Außen- und Finanzminister Hoschjar Sebari erzählt hat, geht der kurdische Geheimdienst davon aus, dass in der Stadt „aufgrund der eingesetzten massiven Feuerkraft mehr als 40 000 Zivilisten getötet wurden“. Andere zweifeln diese Zahl an. Allerdings ist zu bedenken, wie lange die Belagerung gedauert hat (267 Tage: vom 17. Oktober 2016 bis zum 10. Juli 2017) und wie hoch die Zahl der Geschosse war, die in dieser Zeit auf einem winzigen Gebiet voller Menschen einschlugen.

Iraks Regierung verbreitet die absurde Behauptung, unter ihren Soldaten habe es mehr Tote gegeben als unter der Zivilbevölkerung. Allerdings weigert sie sich, die Zahl der gefallenen Armeeangehörigen offenzulegen, und hat alle Medienvertreter aus Westmossul verbannt. Der Nahostexperte Joel Wing spricht auf seiner Webseite „Musings on Iraq“ nach Auswertung von Medien- und anderen Berichten von 13 106 zivilen Todesopfern, meint aber, dass „die tatsächliche Zahl der Toten bei den Kämpfen um Mossul weit höher liegt“.5

Irakische Zivilschutzeinheiten bringen immer noch täglich zwischen 30 und 40 Leichen ins städtische Leichenschauhaus. Nach UN-Angaben wurden von den 54 Wohnbezirken in Westmossul 15 – mit insgesamt 32 000 Häusern – völlig zerstört; in 23 Vierteln steht nur noch die Hälfte aller Gebäude; selbst in den 16 nur „leicht beschädigten“ Bezirken liegen etwa 16 000 Häuser in Trümmern.

Die Menschen im vom IS gehaltenen Teil der Altstadt, mit denen ich Kontakt hatte, sind alle tot. Ahmed Mohsen wurde von einer Drohne verwundet und später von einem IS-Scharfschützen getötet; seine Mutter und seine Schwester gelten als vermisst und sind wahrscheinlich tot.

Ein weiterer Kontaktmann war der 38-jährige Rayan Mawloud, der eine Handelsfirma auf einem Markt von Mossul betrieb. Rayan hatte eine Frau und zwei Kinder und stammte aus einer vermögenden Familie; sein Vater unterhielt eine Lastwagenflotte für Gütertransporte von und nach Basra und Jordanien.

Als der Angriff auf Mossul begann, gab Rayan – wie einer seiner Freunde berichtet – seine ganzen Ersparnisse für Lebensmittel aus. Mit denen versorgte er nicht nur seine Verwandten, sondern auch viele Menschen, die er gar nicht kannte.

In der Annahme, dass seine Familie bei einem Fluchtversuch von IS-Schützen umgebracht würde, entschied sich Rayan – anders als Ahmed Mohsen – zu bleiben. Am 23. Juni wurde sein Haus bei einem Luftangriff getroffen, seine Frau und sein fünfjähriger Sohn starben in den Trümmern. Er blieb im noch bewohnbaren Teil des Gebäudes, das am 9. Juli von weiteren Bomben getroffen wurde. Rayan Mawloud wurde schwer verletzt, drei Tage später war er tot.

1 Die Nabi-Yunus-Moschee ist die bedeutendste im Ostteil von Mossul. Sie wurde an der Stelle einer Kirche errichtet, in der die Grabstätte des Propheten Jonas (arabisch: Yunus) gewesen sein soll.

2 Siehe den AI-Report vom 11. Juli 2017: „At any cost: The civilian catastrophe in West Mosul, Iraq“, www.amnesty.org/en/documents/mde14/6610/2017/en/.

3 Die Zahl wurde vom IS angegeben, Human Rights Watch geht von bis zu 770 Opfern aus.

4 Von diesen Raketen sind jeweils 40 auf Lastwagen montiert. Das Baath-Regime hatte diese Mehrfachraketenwerfer vom Typ BM-21 in den 1960er Jahren aus der Sowjetunion bezogen.

5 Etwa ein Fünftel der Toten gehen allerdings auf das Konto des IS (Exekutionen); siehe: musingsoniraq.blogspot.gr/2017/07/post-mosul-liberation-day-8-jul-18-2017.html.

Aus dem Englischen von Niels Kadritzke

Patrick Cockburn ist seit 1990 Auslandskorrespondent des Independent und Autor zahlreicher Bücher über den Nahen und Mittleren Osten. Auf Deutsch erschien zuletzt der Reportagenband „Chaos und Glaubenskrieg“, Wien (Promedia) 2017.

© London Review of Books, www.lrb.co.uk, für die deutsche Übersetzung Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 07.09.2017, von Patrick Cockburn