Grenzgänger in Nogales
Geschichten aus einer Stadt zwischen Arizona und Mexiko
von Maxime Robin
Von Sierra Vista sind es nur ein paar Kilometer bis zur Grenze. Staubstraßen führen einen Hügel hinauf zur Ranch von Glenn Spencer. Der alte Mann ist wie jeden Morgen um drei Uhr aufgestanden, um den Funkverkehr der U.S. Border Patrol abzuhören.
Unter Zuwanderungsgegnern ist Spencer eine Legende. Der Gründer der Gruppe American Border Patrol ist Blogautor und tagtäglich in den sozialen Netzen präsent. Spencer hält sich zugute, als einer der Ersten die Idee entwickelt zu haben, dass die Mexikaner auf eine Reconquista aus sind: die Rückgewinnung der Gebiete, die sie im 19. Jahrhundert an die USA abtreten mussten. „Alt-Right“-Anhänger sind fasziniert von der Vorstellung, die Zuwanderung der Latinos sei die Vergeltung Mexikos für die militärischen Niederlagen, die damals zur Annexion mexikanischen Territoriums durch die USA geführt haben.
Die Wahl von Donald Trump hat Spencer begrüßt, gemeinsam mit 48 Prozent der Wähler Arizonas. In seinen 80 Lebensjahren hat er die verrücktesten Initiativen zur Bekämpfung der Einwanderung erlebt. Nach 9/11 waren in seiner Gegend uniformierte Banden aufgetaucht, die im Namen einer „bewaffneten Selbstjustiz“ die Wüste nach Einwanderern und Drogendealern durchkämmten. Ihre Anführer sind heute tot, im Gefängnis oder einfach verschwunden. „Das musste schiefgehen“, sagt Spencer, „stellen Sie sich diese Typen vor, wie sie in Liegestühlen oben auf einem Berg sitzen, das Bier in der einen, die AK-47 in der anderen Hand. Total ineffizient. Sie sind vor Langeweile gestorben.“
Spencers Methoden sind zeitgemäßer. Der ausgebildete Seismologe, der bei Chevron und Texaco beschäftigt war, hat auf seinem Grundstück seismische Detektoren vergraben und träumt davon, dass solche Geräte auch entlang der 3145 Kilometer langen Grenze zu Mexiko installiert werden. Nach 14 Jahren Arbeit und unter Mithilfe einiger eifriger Bastler sind die Detektoren in der Lage, „zwischen einem Kojoten, einem Fahrzeug und einer Kuh zu unterscheiden“, erläutert Spencer stolz. Früher habe er nach Erdöl gesucht – „heute spüre ich Menschen auf“.
Bei Sonnenaufgang veranstaltet Spencer eine Vorführung. Ein Assistent entfernt sich von der Ranch, um die Rolle des Illegalen zu spielen. Die im Abstand von 23 Metern aufgestellten Sonden orten seine Schritte und übermitteln die Bewegung an einen Kontrollbildschirm. Eine Drohne fliegt los und filmt den Eindringling mit einer Gesichtserkennungssoftware. Die Drohne gibt auch Anweisungen wie: Achtung! Oder: Hau ab! Über eine Mauer aus Beton kann Spencer nur lachen. Sein System von Sonden und Drohnen sei viel besser, um zu ermitteln, „wer über die Grenze kommt und wie viele“. Und es sei auch besser für die Umwelt: „Die Tiere können sich frei bewegen.“
Am 6. März hat das Ministerium für innere Sicherheit (Department of Homeland Security, DHS) den Bau der angekündigten Mauer zu Mexiko öffentlich ausgeschrieben. Auch Spencer hat sein Angebot an die Trump-Regierung geschickt, wie mehr als 400 Unternehmen von Start-ups bis zu den Giganten der Rüstungsindustrie.
Trump will eine Mauer bauen, die mal zehn, mal 15, mal sogar 24 Meter hoch sein soll. Anfang Juni hatte er eine ganz neue Idee, als er einen mit Sonnenkollektoren bestückten Ökozaun vorschlug. Wie immer die Anlage einmal ausfällt, sichtbar oder unsichtbar, Laser oder Beton, bezahlt würde sie vom Steuerzahler – auch wenn der US-Präsident steif und fest behauptet: „Mexiko wird zahlen.“
Die Regierung hatte angekündigt, noch vor dem Sommer über die Ausschreibung des Projekts zu entscheiden und die Gelder dafür bereitzustellen. Aber nichts läuft wie geplant. Der Kongress lässt sich Zeit, demokratische Bundesstaaten drohen mit einem Boykott der beteiligten Unternehmen, und der mexikanische Nachbar hat im April ein juristisches Hindernis ausgegraben: Ein Vertrag von 1970 verbietet die Errichtung von Gebäuden, die das freie Zirkulieren unterirdischer Wasserläufe zwischen beiden Ländern behindern. Im Mai hat Trump den Kongress aufgefordert, 1,5 Milliarden Dollar freizugeben, um den vorhandenen Zaun zunächst um 120 Kilometer zu verlängern. Das bringt ihn der Erfüllung seines großen Wahlversprechens allerdings nur ein winziges Stück näher.
Trumps Glanzleistung besteht darin, dass er den Wählern vorgemacht hat, die Grenze sei vor seiner Amtszeit ein einziges Sieb gewesen. In Wahrheit wird er eine längst militarisierte und abgesicherte Grenzlinie bestenfalls noch etwas ausbauen. Denn die Mauer ist schon da, sie trennt aneinandergrenzende Städte und blockiert stark frequentierte Übergänge. Zu ihrem Bau haben alle US-Präsidenten die Steine geliefert.
Die Grenzstadt Nogales/Arizona mitten in der Wüste, hundert Kilometer südlich von Tucson, wird durch eine Reihe von sechs Meter hohen rostigen Pfeilern geteilt. Durch die Lücken kann man durchsehen, Verliebte können sich die Hände reichen, aber nicht umarmen. Vom letzten McDonald’s auf US-Seite aus genießt man einen Panoramablick auf die mexikanischen Elendsviertel am Hügel gegenüber, an dessen Fuß der „Port of Entry“ von Nogales liegt, ein großer Umschlagplatz für Waren und Menschen.
Der mexikanische Teil von Nogales/Sorona ist lebendiger, und schmutziger. Hinter dem Zoll beginnen die Stände mit Pharmaprodukten (Viagra, Cialis und so weiter) und Zahnarztpraxen. Die Behandlung kostet in Mexiko nur ein Viertel; die US-Rentner kommen sogar aus Alaska, um sich eine Zahnprothese anfertigen zu lassen.
Salvador wollte in die kalifornischen Weinberge
Die Stadt kämpft ständig um ihre Existenz. Seit 9/11 wurde die Grenze immer mehr abgeriegelt, zum Leidwesen der Touristen. „Wir haben dafür gekämpft, dass die Berliner Mauer fällt, und hier haben sie dieses Ding hingebaut“, sinniert Jesús. Der Vietnamveteran mit doppelter Staatsangehörigkeit lebt in Arizona und fährt am Wochenende für ein paar Biere nach Nogales. In früheren Zeiten konnte er die Grenze mit einem großen Schritt über einen Viehzaun passieren, um in den Kupferbergwerken in Wyoming die Hacke zu schwingen. Eine schwere Arbeit. Jesús hatte Eistropfen im Bart, wenn er aus dem Schacht kam. Für ihn ist die Mauer nur angeberisches Getue, denn „die Leute werden immer einen Weg finden, sie zu überwinden, ob obendrüber oder drunter weg“. Dazu deutet er in Richtung Grenze, wo Holzkreuze an verstorbene Migranten erinnern. Auf einer Wand prangt ein Graffito – „pinche migra“.
Mit „verfluchte Migra“ ist die gefürchtete U.S. Border Patrol gemeint, die aufs Modernste ausgerüstet ist. Seit 2001 haben die USA mehr als 100 Milliarden Dollar für die Abschottung der Grenze zu Mexiko ausgegeben. Das ist mehr als das Budget des FBI, der Drogenbekämpfungsbehörde DEA und der Geheimdienste zusammen. In den Städten entlang der Grenze, in Tijuana, Nogales, Agua Prieta und Juárez, gibt es ein flächendeckendes Netz von Infrarotkameras, kreisen Drohnen in so großer Höhe, dass sie mit bloßem Auge nicht zu sehen sind, patrouillieren grün uniformierte Polizisten in dicken Geländewagen den Zaun entlang.
Von der Interstate 19 sieht man die Überwachungstürme der israelischen Firma Elbit Systems, die sich an der israelisch-palästinensischen Grenze bewährt haben. Von oben suchen Rundumkameras die Wüste ab. Den 148-Millionen-Dollar-Deal hat Barack Obama 2014 gebilligt. „Wahrscheinlich wäre es billiger, den Migranten Geld dafür zu geben, dass sie nicht kommen“, hatte damals eine Journalistin gespottet.1
Während Obamas Präsidentschaft schossen die Ausweisungen in die Höhe (3 Millionen zwischen 2009 und 2016, mehr als unter Obamas Vorgängern). Die Zahl, die dem Friedensnobelpreisträger den Spitznamen „Chefausweiser“ eingebracht hat, ist allerdings mit Vorsicht zu genießen. Seit 2005 wird jede Rückführung registriert, zuvor wurden Festnahmen in Grenznähe oft informell gehandhabt und tauchten in den Statistiken gar nicht auf.2
Seit der Krise 2008 überqueren mehr Mexikaner die Grenze in Richtung Mexiko als in Richtung USA. Vor allem Rentner kehren nach Jahren harter Arbeit in die Heimat zurück, dagegen sind die Einreisen in die USA stark rückläufig: Zwischen 2009 und 2014 sind 870 000 Mexikaner in die USA ausgewandert, zwischen 1995 und 2000 waren es 2,9 Millionen. Einer Umfrage zufolge waren 2015 ein Drittel der Mexikaner der Meinung, die Lebensqualität sei in beiden Ländern gleich (2007 waren es lediglich 23 Prozent).3 Die Wahl von Donald Trump hat den Migrationsstrom offenbar weiter verlangsamt. Im Januar und Februar 2017 sank die Anzahl der Festnahmen von Einwanderern durch die Border Patrol um 40 Prozent.4 Früher war sie zu Jahresbeginn eher gestiegen.
Wenn illegale Ausländer von der Streife in Tucson aufgegriffen werden, bringt man sie mit Bussen nach Nogales. Wenn sie dann nach mehr oder weniger langer Haft wieder freigelassen werden, landen sie im Comedor, einem einfachen, von Ordensschwestern geführten Lokal. Auf dem Weg kommen sie am Gemeindefriedhof vorbei, wo sie manchmal auch die Nacht verbringen. Die Ausgewiesenen erkennt man an ihrem hellblauen Poloshirt und dem durchsichtigen Plastiksack, den sie am Ende ihrer Haft bekommen haben. Darin befinden sich all ihre Besitztümer, manchmal auch Geld. Als Erstes versuchen sie, sich neue Kleidung zu beschaffen, weil sie sonst für die Banditen von Nogales leichte Beute wären.
Vor der Essensausgabe sitzen etwa 30 verloren dreinblickende Menschen an sechs großen Tischen. Schwester Alicia tröstet, berät, empfängt die Neuankömmlinge mit einem Lächeln, einer heißen Schokolade. Manche sind nach dem Marsch durch die Wüste gestrandet, andere lebten seit Jahren in den USA und wurden wegen eines kaputten Blinkers am Auto verhaftet.
Ein Handy wandert herum, alle wollen ihre Familien anrufen. Jede gewählte Nummer wird gleich wieder gelöscht – jemand könnte eine Entführung vortäuschen und von den Familien Geld erpressen. Keiner der Ausgewiesenen stammt aus Nogales. Die Einwanderer kommen aus dem ländlichen Süden – Chiapas, Guerrero, Oaxaca –, wo man mit seiner Arbeit kaum den Mais für die Hühner bezahlen kann. Manche sprechen kein Spanisch, sondern ein Idiom der Indigenen. „Das Elend und die Gewalt der Kartelle sind die Hauptursachen für die Flucht“, erklärt Joanna Williams von der Kino Border Initiative, einer binationalen NGO, die den Comedor finanziert.
Bevor sie sich auf das Frühstück stürzen, falten alle die Hände und flüstern mit geschlossenen Augen ein Gebet. Schwester Marivel füllt für jeden einen Fragebogen aus: „Wurden Sie bestohlen, vergewaltigt, entführt, geschlagen? Von Ihrem Führer? Von der mexikanischen Polizei? Von der Migra? Von der Mafia? Zutreffendes bitte ankreuzen.“
Salvador erzählt, wie die Sache schiefging, noch bevor er die Wüste erreicht hatte. Sein Führer setzte ihn irgendwo ab und behauptete, er sei schon auf der anderen Seite. Salvador gab ihm die 3000 Dollar, die ihm seine Neffen geliehen hatten, die in Kalifornien Wein ernten. Das Geld verschwand mit der Staubwolke des Geländewagens. Salvador würde am liebsten unter den Tisch kriechen. Seit 25 Tagen schläft er auf dem Asphalt des Busbahnhofs von Nogales, er isst und wäscht sich im Comedor. Er hat genug. Er wird zurück nach Michoacán trampen, wo die Monarchfalter zum Überwintern hinfliegen. Ein illegaler Arbeiter weniger für die Weinlese in Kalifornien.
Ein anderer Migrant hat ein irres Leuchten im Blick. Uriel spricht den Slang der Grenze, wo Immigranten pollos, Hühner, sind, die vom pollero geführt werden, der oft jung ist und kaum reicher als sie selbst. Darüber kommt in der Hierarchie der coyote, er verfügt über einen Geländewagen und hat ein Smartphone am Ohr, mit Standleitung zum Kartell. Die Bosse selbst sind weit weg. Sie lassen ihre Handlanger arbeiten und machen la plata, die Kohle.
Die Militarisierung der Grenze hat einen Markt geschaffen, der so lukrativ ist wie der Drogenhandel. Wer heute Schlepper werden oder über die Grenze gelangen will – ob allein oder als Gruppe –, muss die Kartelle bezahlen. Andernfalls unterschreibt er sein eigenes Todesurteil. Manche Kartelle verbinden den Rauschgift- mit dem Menschenschmuggel, indem sie Migranten zwingen, 25 Kilo Drogen über die Grenze zu schleppen.
Uriel hat die Wüste fünfmal durchquert, um in Kalifornien auf dem Bau zu arbeiten. Jedes Mal hat er den coyotes 2000 Dollar in den Rachen geworfen. Der Veteran der mexikanischen Armee erzählt uns, wie er in der Wüste überlebt, etwa indem er Löcher gräbt und einen Plastiksack ausbreitet, um den Morgentau zu sammeln. Während er spricht, fahren seine behaarten Hände über den Tisch, als wollten sie Pokerjetons herumschieben. Ein Führer, vier pollos, darunter zwei Frauen, und er. „Die pollos wollten ständig Wasser, klagten über dies und jenes. Waschlappen.“ Uriel erzählt nicht, wie er erwischt wurde. Die Gruppe hat ihn zu sehr aufgehalten. Das nächste Mal geht er allein.
Der Anwalt Jim Calle verteidigt die Todesschüsse der Border Patrol
Washington hat mit Hubschraubern, Mauern, Polizeistreifen und Hunden alle Grenzabschnitte gesichert. Nicht aber die Wüste, die hielt man für abschreckend genug. Aber die Migranten versuchen auch da ihr Glück, laufen einfach immer weiter, manche bis in den Tod. Zwischen 1999 und 2017 wurden in der Umgebung von Tucson mehr als 3000 Leichen von Einwanderern gefunden, die an Durst und Kälte gestorben oder auf der Flucht vor der Grenzpolizei in die Schluchten der Sierrita Mountains gestürzt waren.
Jean Kreyche leitet eine Streife der Hilfsorganisation Samariter, die aus der presbyterianischen Kirche von South Tucson hervorgegangen ist. Dreimal in der Woche geht Kreyche mit ein paar Freiwilligen los, um Wasservorräte aufzufüllen und Survival-Kits zu deponieren. Das Durchschnittsalter der drei Rentnerinnen ist 67 Jahre. In der monotonen Landschaft fegen heiße Windstöße durch das Gebüsch; die Samariterinnen orientieren sich an den Bussarden, die in geringer Höhe kreisen. Um eine Leiche zu finden, muss man eher im Himmel als auf dem Boden suchen. Im Gebirge stellen sie Wasserkanister an den Wegen ab.
Die Immigranten ändern bei ihrem Versteckspiel mit der Migra ständig ihre Routen, aber sie hinterlassen Spuren: fettiges Papier, Jeans, Pullover, Red-Bull-Dosen, Verpackungen von Aufputschmitteln. Die Frauen sehen nach den Verfallsdaten, um zu sehen, ob kürzlich jemand hier war. An einem Kaktus hängt eine Kindersocke.
Bei jedem Rundgang aktualisieren die Samariterinnen eine elektronische Karte, auf der die Toten durch rote Punkte mit GPS-Angaben vermerkt sind. Wenn die Border Patrol sie findet, sind sie manchmal nackt, von Kakteen zerkratzt, die sie im Durstdelirium essen wollten, oder mit gestreckten Armen und Beinen, als wollten sie im Sand schwimmen. Manche sind 50 Meter vor einer Tankstelle zusammengebrochen.
Viele Migranten wissen nichts von der Feindseligkeit der Wüste. Sie werden von den Führern schlecht vorbereitet und machen fatale Fehler: keine Kopfbedeckung, schwarze Kleidung, zu wenig Wasser, keine Decke für die Nacht. Ein verstauchter Fuß bedeutet die Trennung von der Gruppe, wahrscheinlich den Tod.
Viele Leichen werden nie gefunden. Die Border Patrol sucht vor allem nach den Lebenden. In der Wüste verwesen die Körper schnell, und die Kojoten verschleppen die Knochen. Schätzungen besagen, dass seit 2001 beim Versuch, über die Grenze in die USA zu gelangen, mehr als 6000 Menschen gestorben sind. „Aber niemand weiß, wie viele es tatsächlich sind“, sagt Maryada Vallet von der Hilfsorganisation No More Deaths. Für sie steht aber eines fest: „Die Wüste wird ganz bewusst als tödliche Waffe benutzt.“
Alle Toten aus der Wüste landen im Gerichtsmedizinischen Institut in Tucson, einem Backsteinbau. Der Gerichtsmediziner Greg Hess kann sich vor Arbeit kaum retten. 2010 musste er die vielen Toten in Kühllastern unterbringen. Am 1. April 2017 hatten sich hier 40 Tote angesammelt, 38 von ihnen waren nur noch Skelette. In solchen Fällen kann die Identifizierung Monate oder sogar Jahre dauern. Sie kommt nur in Gang, wenn sich Angehörige beim Konsulat oder bei humanitären Organisationen melden und eine DNA-Probe schicken. Bleibt der Tote ein Unbekannter, werden seine sterblichen Überreste in einer Urne auf dem städtischen Friedhof beigesetzt.
Dabei ist Tucson auf die illegalen Arbeiter angewiesen. So gesehen sind alle US-Städte längst zu Grenzstädten geworden. Mit Duldung der Behörden beschäftigen kleine Betriebe und Großunternehmen illegale Einwanderer als billige und zuverlässige Arbeitskräfte: in der Gastronomie, in den Hotels oder auf den Feldern, aber auch als Kochpersonal in Schulkantinen und Krankenhäusern.
In Tucson versammeln sie sich in aller Frühe vor bestimmten Kirchen, wo die Arbeitssuchenden einen gewissen Schutz vor der Polizei genießen, solange sie keine Straftaten begehen. Hier warten sie auf Kleinunternehmer, die Leute für einen Tagesjob auf Baustellen oder in der Gartenpflege suchen. „Sie machen weit mehr als Teller waschen“, erklärt Kelzi Bartholomaei, eine US-Amerikanerin mit mexikanischen Wurzeln, die lange Zeit eine Kneipe betrieb und jetzt eine Metzgerei hat. „Man findet sie in Altersheimen, bei der häuslichen Pflege, in allen Industriezweigen. Ich sage es nicht gern, aber ich sehne mich nach den Bush-Jahren zurück. Er und Präsident Vincente Fox waren dicke Freunde. Damals habe ich meinen US-Pass bekommen. Heute, unter Trump, finden meine Lieferanten, Landwirte aus Iowa, niemanden mehr, der auf ihren Feldern arbeitet. Die Ernte verschimmelt auf dem Halm. Es ist eine Katastrophe.“
An den Grenzübergängen werden die Warteschlangen immer länger. Seit der letzten Präsidentschaftswahl filzen die Zollbeamten intensiver. Die Kirchen fürchten, ihren Sonderstatus zu verlieren. Lisa McDaniel-Hutching, Pastorin in einem Dorf zwischen Tucson und Mexiko, berichtet von Razzien überall im Land. Sie vermisst eine Debatte über die tieferen Ursachen der Arbeitsmigration. „Es ist doch offensichtlich, dass die Freihandelsverträge die mexikanischen Bauern in die Armut gestürzt haben. Die USA haben diese Situation ja selbst geschaffen.“
In der Umgebung von Tucson patrouillieren 4200 Polizisten der Border Patrol, die als besonders brutal verschrien ist. Die Grenzpolizisten, darunter viele Latinos, fühlen sich verkannt. Neuerdings hat ihnen Präsident Trump 5000 zusätzliche Stellen versprochen.
Im Gegensatz zur Führung der Border Patrol ist die Gewerkschaft, der National Border Patrol Council, durchaus auskunftsfreudig. Der NBPC hat als einzige US-Gewerkschaft den Wahlkampf von Donald Trump offen unterstützt. In Tucson sind 80 Prozent der Polizisten organisiert. Und ihr Chef Art del Cueto ist zugleich Vizepräsident des NBPC. Der Trump-Fan pflegt sein Macho- und Heavy-Metal-Image und verbreitet seit drei Jahren über ein Podcast namens „The Green Line“ eine Art Stammtischdiskussion zwischen Polizisten, in der ein konservativer Rockerton vorherrscht. Die Sendung wurde durch ein Interview mit dem Kandidaten Trump bekannt,6 in dem dieser den Grenzern seine „hundertprozentige Unterstützung“ zusicherte. Finanziert wird der Podcast von der rechtsradikalen Meinungswebsite Breitbart News, deren Leiter bis vor einem Jahr der Trump-Berater Steve Bannon war.
Anwalt Jim Calle vertritt die Border Patrol in allen juristischen Angelegenheiten, bis hin zu Ermittlungen wegen Korruptionsfällen und Tötung von Einwanderern. Die Grenzschützer seien seit der Wahl von Trump in Hochstimmung, berichtet Calle. Nachdem der Deckel vom Topf genommen sei, könne endlich die Diskussion über die Einwanderung beginnen.
Calle hat die Veränderungen der letzten 20 Jahre beobachtet. „Als ich 1988 anfing, kamen alle Einwanderer wegen der Arbeit. Manchmal hundert auf einmal! Das war unorganisiert, privat. Heute kontrollieren die Kartelle alles. Die Leute kommen zu sechst oder acht. Wenn man als Polizist an einem Tag zwei illegale Migranten erwischt, ist das ein Glücksfall. Die Schmuggler transportieren die Drogen über Tunnel oder mit Katapulten. Die Kartelle benutzen auch Minderjährige, die wie Äffchen über die Mauer klettern, sobald die Grenzwächter ihnen den Rücken zukehren. Beobachten Sie mal eine Stunde die Mauer von Nogales, dann wissen Sie, was läuft.“
Der Korpsgeist sorgt allerdings auch dafür, dass die Border Patrol sich nicht in die Karten gucken lässt. Dabei wird sie grausamer Methoden beschuldigt und der Verantwortung für den Tod von mindestens 45 Menschen im Zeitraum 2005 bis 2014.7 Bei den wenigen strafrechtlich verfolgten Fällen von Totschlag wurde kein einziger Polizist aus dem Bezirk Tucson verurteilt.
Der 16-jährige José Antonio Rodríguez Elena wurde ermordet, als er in Nogales auf dem Weg nach Hause war. Ein Polizist hatte ihn von US-Territorium aus beschossen, er wurde von zehn Kugeln getroffen, davon acht in den Rücken. Zuerst behauptete er, der Junge hätte ihn mit Steinen beworfen und er habe sich verteidigt, was Zeugen bestreiten. Es gibt eine Videoaufzeichnung des Mordes, aber die Border Patrol hat sie dem Gericht vorenthalten. In Calles Büro füllen die 14 dicken Ordner zu dem Fall ein ganzes Regalfach.
Calle betont die Einzigartigkeit der Border Patrol als einer „paramilitärischen Einheit mit dem Auftrag, Grenzverletzern aktiv entgegenzutreten“. Diese Leute würden ihre gefährliche Aufgabe geradezu beispielhaft erfüllen. Bei jedem Zwischenfall würden die Polizisten durch eine interne Kommission systematisch befragt, betont der Anwalt. Er verweist auf Schätzungen, wonach jeder zwanzigste oder sogar jeder zehnte Einwanderer ein Schmuggler sei. „Hier gibt es Ausgewiesene aus El Salvador, die es immer wieder versuchen, oder auch Gangster. Sie können rennen und kämpfen, und sie behaupten gern, dass die Border Patrol ihnen Gewalt angetan habe.“ Meistens steht dann die Aussage eines illegalen Einwanderers gegen die eines Polizisten.
Ein Bericht an die Homeland Security aus dem Jahr 2016 empfahl 39 Maßnahmen, um die „verfassungswidrige Anwendung von Gewalt“, aber auch „ein endemisches Korruptionsrisiko“ innerhalb der Einsatzkräfte zu reduzieren.8 Die Border Patrol sei von Kartellen unterwandert, die bereits Dutzende von Polizisten umgedreht haben. Das von hochrangigen Armeeangehörigen und DEA-Beamten verfasste Dokument beschreibt eine Einheit, die Schuldige in ihren Reihen nicht bestraft. In der Ära Trump steht ein Reformversuch nicht mehr auf der Tagesordnung. Im Gegenteil, das Weiße Haus hat versprochen „die Polizisten von allen Einschränkungen zu befreien“.
2 Siehe Jeremy Harding, „Eine Mauer ist eine Mauer“, Le Monde diplomatique, Juni 2017.
6 „Episode 77: Donald J. Trump“, www.spreaker.com.
7 „Why border cops’ failures are your problem, too“, The Arizona Republic, Phoenix, 8. Mai 2014.
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz
Maxime Robin ist Journalist.