10.08.2017

Hunger als Kriegswaffe

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Hunger als Kriegswaffe

von Alex de Waal

Nach Appellen von Hilfsorganisationen dauerte es noch Monate, bis die UN Teile des Südsudan zur Hungerregion erklärten SAMIR BOL/ap
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Das englische Verb „to ­starve“ bedeutet nicht „verhungern“, sondern „aushungern“, ist also etwas, was Menschen einander antun. Wie Folter oder Mord. Massenhaftes, passives Verhungern, etwa als Folge von Dürre, ist höchst selten geworden; die heutigen Hungerkatastrophen gehen durchweg auf politische Entscheidungen zurück.

In den letzten 50 Jahren sind Hungersnöte seltener und weniger tödlich geworden. Noch letztes Jahr war ich mir fast sicher, dass es künftig keine mehr geben werde. Aber jetzt haben wir das Jahr 2017, in dem wir vier Hunger­krisen gleichzeitig erleben. Am 11. März warnte der UN-Nothilfe-Koordinator Stephen O’Brien nach einer Reise durch Jemen, Südsudan, Somalia und Nigeria, die Welt steuere auf „die größte humanitäre Krise seit Gründung der Vereinten Nationen“ zu. O’Brien sieht einen „kritischen Punkt“ erreicht, weil der 70 Jahre währende Trend einer abnehmenden Zahl von Hungertoten zu Ende ist und sich sogar wieder umgekehrt hat.

Über die Ursachen der vier – bereits eingetretenen oder drohenden – Hungersnöte, die er auf seiner Reise ausgemacht hat, macht sich O’Brien keine Illusionen. Der Hauptfaktor ist in allen vier Fällen ein Krieg, der Farmen, Viehherden und Märkte zerstört hat, sowie insbesondere die Entscheidung des Militärs, humanitäre Hilfslieferungen zu blockieren. In Nigeria haben Dörfer, die in den Krieg zwischen Boko Haram und der Armee geraten sind, ihre Besitztümer, Einkommensquellen und Nahrungsmittel verloren. In den Gegenden, aus denen das nigerianische Militär im letzten Jahr Boko Haram vertrieben hat, sind die Menschen zu Tausenden verhungert.

Während sich der Kampf gegen die Terrormiliz hinzieht, wachsen die Sorgen der Experten, die das Informationssystem Integrated Food Security Phase Classification (IPC) mit Daten versorgen. Sie befürchten, dass sie in der „Hungersaison 2017“ (die ungefähr von Juni bis Oktober dauert) wieder ganze Volksgruppen auf der IPC-Skala von Stufe 4 („humanitärer Notstand“) auf Stufe 5 („Hungersnot“) heraufsetzen müssen. Letztes Jahr haben die UNO und die Hilfsorganisationen das Ausmaß der Krise in Nigeria nicht wahrgenommen. Dieses Jahr kommen die Warnungen vielleicht noch rechtzeitig.

Im Südsudan kämpfen Regierungssoldaten und Rebellen nicht so sehr gegeneinander als vielmehr gegen die Zivilbevölkerung. Aus dieser Krisenregion meldeten Hilfsorganisationen im Sommer 2016 so schwere Versorgungslücken und so hohe Zahlen von Hungertoten, dass die UN-Kriterien für die Ausrufung einer Hungersnot erfüllt waren. Vor diesem Schritt scheuten die UN aber zurück, weil sie die paranoide Regierung des Südsudan nicht vor den Kopf stoßen wollten, die interna­tio­nale Hilfsagenturen verfolgt (mehrere von ihren Mitarbeitern wurden bereits ausgeraubt, vergewaltigt und ermordet). Im Februar dieses Jahres erklärten Helfer, die noch die Hungerepidemien der 1980er Jahre im Süden des Sudan erlebt haben, die Lage für mindestens so schlimm wie damals. Kurz darauf erklärten die UN Teile des Südsudan offiziell zu Hungerregionen.

Doch die größte Katastrophe droht derzeit im Jemen. Hier erwecken die Fotos von hungernden Menschen in ausgetrockneten Landschaften einen falschen Eindruck, denn mit dem Wetter hat diese Katastrophe nichts zu tun. In Jemen droht mehr als 7 Millionen Menschen der Hungertod. Es ist dort weit wahrscheinlicher, an Hunger oder Cholera zu sterben, als durch Militäraktionen.

Die von Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten angeführte Militärintervention hat die Wirtschaft des Jemen stranguliert. Vor dem Krieg hat das Land 80 Prozent seiner Nahrungsmittel importiert, vor allem über den Hafen al-Hudaida am Roten Meer. Der UN-Sicherheitsrat hat auf Betreiben der Saudis und mit Unterstützung der USA und Großbritanniens ein Embargo gegen Jemen verhängt, dessen Kontrollen den – vom Embargo ausgenommenen – Nahrungs­mittel­import verzögern.

Mörderische Blockade des Jemen

Seit saudische Flugzeuge die Container­docks von al-Hudaida bombardiert haben, müssen zudem alle Schiffe auf die alte umständliche Weise entladen werden. Straßen, Brücken und Markthallen wurden beschädigt oder zerstört, der Handel ist fast völlig zum Erliegen gekommen. Umgekehrt blockieren die Huthi-Rebellen die Zufahrtsstraßen zu der im Hochland gelegenen Stadt Taiz. Nahrungsmittel sind hier die stärkste Kriegswaffe – und Unterernährung die häufigste Todesursache.

Während die UN und die humanitären Organisationen die Kriegsverbrechen im Südsudan eindeutig verurteilen, sind sie in ihren Stellungnahmen zu Jemen deutlich zurückhaltender, als wollten sie Entscheidungen des Sicherheitsrats nicht offen kritisieren. Obwohl die Hungersnot sich weiter verschlimmert, verschärfen die britische und die US-Kriegsmarine ihre Blockade, und im UN-Sicherheitsrat wird lediglich darüber diskutiert, wie sich das Embargo noch effektiver gestalten ließe. Damit machen sich alle mitschuldig an der Hungersnot.

Einzig im Süden Somalias ist die bedrohliche Lage zum Teil auf die Dürre zurückzuführen. Aber auch hier ist für die Hungersnot vor allem der Krieg zwischen einer Koalition nordostafrikanischer Armeen und der Al-­Shabaab-Miliz verantwortlich. Bis 2016 war Somalia das einzige Land, das die UN seit der Jahrtausendwende offiziell zur Hungerregion erklärt haben. Das geschah im Juli 2011. Experten zufolge war es eine vermeidbare Katastrophe – als Resultat eines „kollektiven Versagens“, bei dem auch die Unfähigkeit der somalischen Behörden und Korruption eine große Rolle spielen.1

Ein weiterer Faktor war die Einschränkung humanitärer Hilfsaktionen durch die Vereinigten Staaten, die auf den USA Patriot Act von 2001 zurückgehen. Das Gesetz kriminalisierte die Unterstützung von Gruppen, die auf der US-Terrorliste stehen. Das bedeutete, dass jede in einer Hungerregion engagierte Hilfsorganisation mit einer Klage vor einem US-Gericht rechnen musste. Wenn zum Beispiel al-Shabaab einen Lkw des Roten Kreuzes entführt, wäre das IRK dafür verantwortlich. Schon die Androhung strafrechtlicher Verfolgung stellt eine Rufschädigung dar, die keine Organisation riskieren wollte.

Im US-Außenministerium und bei USAID suchte man Wege, um diese Vorschrift im Fall Somalia zu umgehen; das Justizministerium blieb jedoch hart. Erst nachdem die UN Somalia offiziell zur Hungerregion erklärten, begann ein Umdenken, und erst nach weiteren neun Monaten legte das Justizministerium einen Lösungsvorschlag vor. In der Zwischenzeit schickten die USA keine Nahrungsmittel nach Somalia. Etwa 260 000 Menschen starben, vor allem Kinder. Die meisten von ihnen hätten überlebt, wenn die Obama-Regierung begriffen hätte, dass ein Festhalten am Patriot Act zu einer Hungerkatastrophe führen musste.2

Noch fatalere Folgen hatten wahrscheinlich die Maßnahmen zur Kontrolle der Geldströme. Das Nationaleinkommen Somalias besteht zu rund 30 Prozent aus Rücküberweisungen der Diaspora. Diese Gelder werden mangels eines normalen Banksystems über Firmen transferiert, die nach dem Hawala-Prinzip arbeiten.3 Die Besitzer dieser Firmen sind an Profit und nicht an Ideologie interessiert. Aber seit 2001 werden sie von den Agenturen, die den Antiterrorkrieg führen, als potenzielle Terrorkomplizen angesehen.

Im November 2011 wurde die größte dieser Firmen namens al-Barakaat von den US-Behörden – zu Unrecht – beschuldigt, Geldtransfers für Terroristen abgewickelt zu haben, woraufhin ihr Überweisungsgeschäft verboten wurde. Nach weiteren willkürlichen Beschränkungen waren die US-Banken nicht mehr bereit, mit diesen Firmen zu kooperieren.

Die diesjährige Hungersnot in Somalia ist auch durch Dürren und Miss­ernten verursacht. Im benachbarten Äthiopien hingegen führte die viel längere Dürreperiode von 2016 nicht zu einer Hungerkatastrophe, weil die Regierung sehr schnell reagierte. Auf dem Höhepunkt der Krise wurden fast 18 Millionen Menschen von der Regierung und der UN-Nahrungsmittelhilfe versorgt; das sind mehr Menschen als die von Hunger bedrohte Bevölkerung aller vier aktuellen Krisenländer. Auch hier zeigte sich: Menschen müssen nicht verhungern, nur weil der Regen ausbleibt.

Die World Peace Foundation (WPF) hat dokumentarisch alle 61 Fälle erfasst, in denen seit 1870 mehr als 100 000 Menschen einer Hungersnot oder einer gezielten Strategie des Aushungerns zum Opfer fielen. Die globale Gesamtzahl der Toten liegt bei mindestens 105 Millionen, davon entfielen zwei Drittel auf Asien, etwa 20 Prozent auf Europa und die UdSSR und weniger als 10 Prozent auf Afrika.

Die Hungerkatastrophen mit den höchsten Opferzahlen gingen auf politische Entscheidungen zurück. Dazu zählen die Hungersnöte zwischen 1880 und 1900 in den USA, die Hungersnöte während des Ersten Weltkriegs im Nahen Osten (darunter der gewollte Hungertod von 1 Million Armeniern), die Hungersnot im russischen Bürgerkrieg (1918–1922), Stalins „Holodomor“ (Tö­tung durch Hunger) in der Ukraine (1932–1934), der „Hungerplan“ des NS-Regimes in der Sowjetunion, die Hungersnöte des Chinesischen Bürgerkriegs (1927–1949), die von Japan angeordneten Hungersnöte im Zweiten Weltkrieg. Und natürlich die größte Hungerkatastrophe überhaupt, die im Zuge von Maos „Großem Sprung nach vorn“ (1958–1962) mindestens 25 Mil­lio­nen Todesopfer forderte.

Vernichtungsplan aus dem NS-Ernährungsministerium

Offenbar haben diese politischen Hungerkatastrophen in unserem kollektiven Gedächtnis keinen Platz, und selbst in der Genozidforschung findet das gezielte Aushungern kaum Beachtung. Das verblüfft schon deshalb, weil sich Raphael Lemkin, der den Begriff Genozid geprägt hat, ausführlich mit Ernährungs- und Hungerpolitik befasst hat. Lemkin forschte über die physische Entkräftung als Instrument des Genozids am Beispiel der nationalsozialistischen „Rassendiskriminierung mittels Ernährung“.4 Nach den Richtlinien der Nazis für die Zuteilung von Kohlehydraten im besetzten Europa standen „den Deutschen“ 100 Prozent zu, den Polen nur 77 Prozent, den Griechen 38 Prozent und den Juden 27 Prozent.

Tatsächlich war Hunger für die Nazis das wirksamste Instrument ihrer Massenmorde. Das „Unternehmen Barbarossa“ basierte auf der Idee, die fruchtbaren Böden der Ukraine und Südrusslands als „Lebensraum“ für das deutsche Volk zu erobern. Schließlich war es strategisch enorm wichtig, die Wehrmacht mit Nahrungsmitteln zu versorgen.

Am 2. Mai 1941, sechs Wochen vor dem Beginn des Angriffskriegs gegen die Sowjetunion, fand eine Konferenz von Staatssekretären statt, über die es eine „Aktennotiz“ gibt. Darin heißt es: „1.) Der Krieg ist nur weiter zu führen, wenn die gesamte Wehrmacht im 3. Kriegsjahr aus Russland ernährt wird. 2.) Hierbei werden zweifellos zig Millionen Menschen verhungern, wenn von uns das für uns Notwendige aus dem Lande herausgeholt wird.“

Diese Überlegungen gehen auf Herbert Backe zurück. Der Staatssekretär im Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft arbeitete einen radikalen Plan aus, der den Hungertod der gesamten städtischen Bevölkerung im europäischen Teil der Sowjetunion – also von 30 Millionen „überflüssigen Essern“ – einkalkulierte.5

Als ersten Schritt sah der Backe-Plan den Hungertod von sowjetischen Kriegsgefangenen vor, die in riesigen Lagern unter freiem Himmel zusammengepfercht waren. Von ihnen starben 1,3 Millionen in den ersten vier Monaten nach der deutschen Invasion, bis zum Ende des Krieges stieg die Zahl auf mindestens 2,5 Millionen.

Die weiteren Phasen umzusetzen, erwies sich jedoch als unmöglich. Die Invasoren verfügten nicht über den Verwaltungsapparat, der zehn Jahre zuvor den unter Stalin organisierten Holodomor ermöglicht hatte. Zwar gab es im belagerten Leningrad 1 Million Hungertote, und Hunderttausende starben in Städten wie Kiew und Charkow, wo die Nazis die Lebensmittelversorgung drastisch reduzierten. Aber die Bauern, die seit 1917 in zwei Hungerperioden schlaue Überlebenskünste entwickelt hatten, ließen sich nicht so leicht umbringen. Und weil die deutschen Soldaten auf deren Ernte angewiesen waren, durften sie weiter produzieren.

Insgesamt wurde der Hungerplan nur zu einem Drittel „erfüllt“. Aber mit 10 Millionen Toten handelt es sich um ein Verbrechen, das zahlenmäßig mit der „Endlösung der Judenfrage“ vergleichbar ist. Im Übrigen gehörte der gewollte Hungertod auch zum Ins­tru­men­tarium des Holocaust: Im Warschauer Getto verhungerten 80 000 Juden. Und im Vernichtungslager ­Auschwitz sind nach Aussagen des Lagerkommandanten Höss von Mai 1940 bis Dezember 1943 – neben den direkt ermordeten Opfern – 500 000 Menschen verhungert oder an hungerbedingten Krankheiten gestorben.

Backe sollte beim Nürnberger Wilhelmstraßen-Prozess6 zu den Angeklagten gehören, beging aber vorher Selbstmord. Sein Vorgänger als Ernährungs- und Landwirtschaftsminister, der „Blut und Boden“-Ideologe Walther Darré, wurde wegen „Plünderung“ und Mitgliedschaft in einer verbrecherischen Organisation zu sieben Jahren Haft verurteilt, aber schon bald entlassen. In dem Prozess wurde das Backe-Protokoll zwar als Beweismittel angeführt, aber der Hungerplan spielte keine Rolle. Die Alliierten zeigten kein besonderes Interesse, erzwungene Hungersnöte oder Wirtschaftskriege als Verbrechen zu definieren.

Tatsächlich enthielt das damals gültige Kriegsvölkerrecht kein Verbot, eine Stadt oder Region in Verfolgung militärischer Ziele auszuhungern. Deshalb konnte in Nürnberg Feldmarschall von Leeb, der Kommandeur der Belagerung von Leningrad, nicht wegen der Hungerblockade verurteilt werden. Damals hatte die britische Kriegsmarine bereits jahrzehntelange Erfahrungen mit Seeblockaden.

1909 hatte das Oberhaus die Ratifizierung der „Londoner Seerechtsdeklaration“ verweigert. Die britischen Lords empfanden die Gründung eines internationalen Gerichts, das über die Rechtmäßigkeit des Abfangens von Schiffen auf hoher See zu befinden hätte, als unvereinbar mit der britischen Souveränität. Großbritannien organisierte dann im Ersten Weltkrieg eine Blockade gegen Deutschland, wo bis Kriegsende etwa 750 000 Menschen an Hunger starben. Das Embargo blieb nach Kriegsende im November 1918 weitere acht Monate in Kraft, um die Deutschen zur Unterschrift unter den Versailler Vertrag zu zwingen.

Eine Lücke im Völkerrecht

1942 widersetzte sich Churchill der Forderung, die Seeblockade gegen das von den Deutschen besetzte Griechenland aufzuheben, die am Ende nur leicht abgemildert wurde. Aus Protest gründeten britische Bürger daraufhin das Oxford Committee for Famine Relief, das unter dem Namen Oxfam bis heute eine der wichtigsten Menschenrechts-NGOs ist. Und 1943 entschied das Kabinett in London, dass die Ernährung der britischen Bevölkerung wichtiger sei als der Kampf gegen die Hungersnot in Bengalen – mit der Folge, dass in Britisch-Indien 3 Millionen Menschen starben. Ein weiteres Beispiel ist der Abwurf von Seeminen durch die US-Luftwaffe, womit 1945 die japanischen Häfen blockiert wurden. Die Opera­tion lief unter dem Codenamen „Starvation“.

Im Statut für den Internationalen Militärgerichtshof von Nürnberg war Genozid als Straftatbestand nicht enthalten, wohl aber „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“. Nach Artikel 6 fielen darunter auch Anklagepunkte wie „Ausrottung“ oder „unmenschliche Handlungen“, die im Fall einer gezielten Hungerstrategie zweifellos erfüllt sind. Wäre Aushungern in der Charta explizit genannt worden, hätte das für die Alliierten in Anbetracht ihrer eigenen Seeblockaden unangenehme Folgen gehabt.

Die Verfolgung von „Hungerstrategien“ wirft tatsächlich enorme rechtliche Probleme auf. So hat der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) gegen den serbischen General Galić, der die Belagerung von Sarajevo organisiert hat, keine Anklage wegen Aushungerns erhoben. Begründung: Zwar habe die Bevölkerung Hunger gelitten, aber kein Bewohner der Stadt sei an Hunger gestorben. Im Fall Äthiopien gelang es nicht, Anklage gegen das 1991 gestürzte Militärregime zu erheben, das Teile der eigenen Bevölkerung ausgehungert hatte, weil der Sonderankläger der neuen Regierung sich auf einen solchen Präzedenzfall nicht einlassen wollte.

Die beste Chance, Aushungern als eigenständiges Delikt zu verfolgen, bot sich in Kambodscha, wo sich seit 2006 ein Sondertribunal mit den Verbrechen des Pol-Pot-Regimes befasst. Unter den Roten Khmer sind zwischen 1975 und 1979 mehr als 1 Million Kambodschaner verhungert. Aber wie schon bei den Nürnberger Prozessen wurde das Verbrechen des Aushungerns wieder im Rahmen anderer Anklagepunkte abgehandelt.

1977 wurde die Genfer Konvention von 1949 durch ein Zusatzprotokoll ergänzt, das auf Drängen des Internationalen Roten Kreuzes folgende Bestimmung enthält: „Das Aushungern von Zivilpersonen als Mittel der Kriegsführung ist verboten“ (Artikel 54, Absatz 1). Dieses Prinzip des humanitären Völkerrechts ist in seiner Anwendung aber stark eingegrenzt. Erstens gilt es nur für internationale Konflikte und nicht für Bürgerkriege. Zweitens sind „Abweichungen“ erlaubt, „wenn eine zwingende militärische Notwendigkeit dies erfordert“. Die Verpflichtung, Hilfslieferungen zuzulassen, gilt demnach nicht, wenn eine Blockade von einer Kriegspartei als „militärische Notwendigkeit“ dargestellt wird.7

Bei den Verhandlungen über das Statut des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) schlug Kuba 1998 vor, Blockaden zu verbieten. Der Vorschlag wurde abgelehnt; just zu dieser Zeit setzten die USA und ihre Verbündeten umfassende Wirtschaftssanktionen gegen den Irak durch.

Gleichzeitig stieg die Zahl internationaler Hilfsoperationen als Reak­tion auf Hungerkatastrophen seit den 1980er Jahren stark an. Dabei hatten die Mitarbeiter humanitärer Organisationen eine klare Priorität: Sie wollten Nahrungsmittel zu den hungernden Menschen bringen. Hätten sie auch noch die Verbrechen, die zu der Hungersnot geführt hatten, dokumentieren sollen, wäre das für sie eine Ablenkung, wenn nicht gar ein Hindernis gewesen.

Diesen Zielkonflikt konnte ich 1988 zu Beginn des Bürgerkriegs im Sudan beobachten. Damals starben tausende Südsudanesen in Lagern für Binnenflüchtlinge, die von regierungstreuen Milizen kontrolliert wurden. Am höchsten war die Sterberate in der kleinen Stadt Abyei. Auf meine Forderung, die für die Hungerblockade verantwortlichen Armeeoffiziere vor Gericht zu stellen, erklärte ein NGO-Mitarbeiter: „Ich würde mich mit dem Teufel zusammensetzen, um Nahrungsmittel nach Abyei zu kriegen.“

Ein Jahr später nahm der damalige Unicef-Exekutivdirektor James Grant eine Einladung zum Abendessen mit General Fadlallah Burma Nasir an, der die Aktionen der sudanesischen Milizen koordinierte. Im Anschluss konnte Grant eine Leben rettende Vereinbarung verkünden. Mit der „Operation Lifeline Sudan“ schaffte es eine UN-Organisation zum ersten Mal, die Fronten in einem Bürgerkrieg zu durchbrechen.

Der Sudankonflikt bietet ein weiteres Beispiel für den – zeitweiligen – Erfolg „apolitischer“ humanitärer Hilfe. 2001 wurde Andrew Natsios von Präsident George W. Bush an die Spitze der staatlichen Hilfsorganisation USAID berufen. Seine wichtigste Aktion war die Autorisierung humanitärer Hilfe für die sudanesische Provinz Darfur im September 2003. Dafür wurde er von der kurz darauf gegründeten Save Darfur Coalition scharf attackiert, die auch seine Weigerung kritisierte, die damalige Hungerkatastrophe als Genozid zu bezeichnen. Dabei hat Natsios in Darfur mehr Menschenleben gerettet als alle seine Kritiker zusammen.

Dieselbe Bush-Regierung hat andererseits jedoch mit ihrem Antiterrorkrieg und der Invasion im Irak bewiesen, dass es zu Hungerkatastrophen kommen kann, wenn ein Staat sich über die Ansprüche eines progressiven Internationalismus hinwegsetzt. Alle geschilderten aktuellen Hungersnöte sind auch eine Folge der Bush-Cheney-Doktrin, die die nationale Sicherheit der USA und den Kampf gegen den Terror für wichtiger erachtet als alles andere. Nach dieser Doktrin nutzen humanitäre Hilfsprogramme letztlich immer den Aufständischen oder helfen ihnen, ihre Herrschaft über die unterworfene Bevölkerung zu legitimieren.

Die Folgen sehen wir derzeit in Nigeria beim Kampf gegen Boko Haram und im Jemen. Auch Somalia leidet immer noch unter den Folgen der Hungersnot von 2011, die auf das Dogma des Antiterrorkriegs zurückgeht, das humanitäre Hilfe verbietet – bis es zu spät ist.

Die in Washington und London herrschenden Vorbehalte gegen humanitäre Aktionen, die in einer langen Tradition von Wirtschaftskriegen und Handelsblockaden wurzeln, sind nicht nur moralisch verwerflich, sondern auch ausgesprochen dumm. Wenn mangels internationaler Hilfe die Hungrigen nicht ernährt und die Kranken nicht behandelt werden, kommt das nur den Extremisten zugute. Und die gravierendste Folge von Hungersnöten war noch stets die Emigration. Das erleben heute die Golfstaaten, die das Ziel von Millionen Jemeniten sind.

Während die Verfechter humanitärer Operationen ihre moralischen Werte zunehmend bedroht sehen, sind ihr Wissen und ihre Fähigkeiten heute stärker gefragt denn je. Deshalb sollten sie die Initiative ergreifen und fordern, dass Aushungern in die Liste der Verbrechen gegen die Menschlichkeit aufgenommen wird.

1 Siehe Daniel Maxwell und Nisar Majid, „Famin in Somalia: Competing Imperatives, Collective Failures, 2011–12“, London (Hurst) 2016.

2 Die vage „humanitäre“ Klausel im Patriot Act ist bis heute in Kraft. Damit unterliegen Hilfsaktionen für Hungernde nach wie vor einem „Sicherheitscheck“.

3 Zum Hawala-System siehe: „Das Geld wird schneller“, Le Monde diplomatique, Januar 2009.

4 Siehe Lemkins Hauptwerk „Axis Rule in Occupied Europe“, Washington (Carnegie Endowment for International Peace) 1944.

5 Wigbert Benz, „Der Hungerplan im ‚Unternehmen Barbarossa‘ 1941“, Berlin (WGB) 2011.

6 Der „Ministries Trial“ gegen Minister und Spitzenbürokraten des NS-Regimes (November 1947 bis April 1949) war der umfangreichste und längste der Nürnberger „Nachfolgeprozesse“. Er wurde als Wilhelmstraßen-Prozess bezeichnet, weil die meisten deutschen Ministerien in dieser Straße angesiedelt waren.

7 Zitiert nach der offiziellen deutschsprachigen Fassung der Schweizer Regierung: www.admin.ch/opc/de/­classified-compilation/19770112/index.html.

Aus dem Englischen von Niels Kadritzke

Alex de Waal ist geschäftsführender Direktor der World Peace Foundation.

© London Review of Books, www.lrb.com; für die deutsche Übersetzung Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 10.08.2017, von Alex de Waal