10.08.2017

Silicon Moskau

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Silicon Moskau

Im russischen Internet ist der Einfluss von Google, Facebook & Co vergleichsweise gering. Grund dafür ist eine Entwicklung, die bereits vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion begann. Heute nutzt der Kreml diese Sonderstellung, um seinen Souveränitätsanspruch auch im Cyberspace durchzusetzen.

von Kevin Limonier

Karolina Jabłońska, Hühnerdieb, 2014, 120 x 130 cm, Öl auf Leinwand
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Seit die ukrainische Regierung im Mai 2017 den Zugang zu mehreren russischen Internetdiensten, darunter die Suchmaschine Yandex und das soziale Netzwerk VKontakte, geschlossen hat, haben mehrere Millionen Menschen keinen Zugang mehr zu ihren gewohnten Websites. Kiew warf den in der Ukraine viel genutzten Angeboten vor, sie gäben Daten an die Nachrichtendienste des Kreml weiter – vor allem die von Soldaten, die gegen die Separatisten im Donbass kämpfen. Die Blockade zeigt, dass die Verantwortlichen in der Ukraine entschlossen sind, sich der digitalen Einflusssphäre zu entziehen, die Moskau fast im gesamten Gebiet der ehemaligen Sowjetunion aufrechterhält.

Tatsächlich verfügt Russland als einziges Land der Welt über ein umfassendes System von Plattformen und Diensten, die unabhängig vom Silicon Valley sind. Sie wurden von Russen gegründet und unterliegen dem russischen Recht. Während ein Großteil der Weltbevölkerung täglich Google, Amazon, Facebook und Apple nutzt, ohne auf überzeugende lokale Alternativen ausweichen zu können, haben die Russen und ihre Nachbarn also die Wahl zwischen den kalifornischen Giganten und dem, was üblicherweise als Runet bezeichnet wird: dem russischsprachigen Teil des Internets mit den dazugehörigen Diensten. Yandex ist doppelt so beliebt wie der Konkurrent Google, und VKontakte, das Pendant zu Facebook, ist mit Abstand die in Russland am häufigsten aufgerufene Website.1

Diese weltweit einzigartige Situa­tion – selbst in China gibt es nichts Vergleichbares – ist ein wichtiger Trumpf für Moskau. Seit 2013 durch Edward Snowden die Spionageaktivitäten der US-amerikanischen NSA (National Security Agency) ans Licht gekommen sind, fühlt sich Russland in seiner Haltung zu Fragen der Internet-Governance bestärkt.

Das postsowjetische Internet

Für die russische Außenpolitik ist in den internationalen Beziehungen die staatliche Souveränität wichtiger als alles andere – und diese Maxime gilt auch im Cyberspace. Russland tritt als eine Macht auf, die bereit ist, alle Hebel in Bewegung zu setzen, um Einmischungsversuche und Spionage, insbesondere vonseiten der USA, zu verhindern.

Die eigene Infrastruktur erlaubt es Moskau, strenge Gesetze zu erlassen wie das Gesetz, das seit 2015 ausländische Onlineplattformen verpflichtet, die Daten russischer Bürger auf russischem Boden zu speichern. Face­book und Twitter müssen seitdem Server in der Nähe von Moskau unterhalten – offiziell, um „amerikanische Lauschangriffe“ zu verhindern. Bei Verstößen drohen harte Strafen: Der Zugang zu dem beliebten beruflichen Netzwerk LinkedIn ist bis heute in Russland gesperrt, weil es sich nicht an die Gesetze gehalten hat. Russland ist eine souveräne Macht im Cyberspace. Die Europäische Union hingegen musste sich von französischen Parlamentariern schon einmal sagen lassen, sie sei eine „digitale Kolonie der Vereinigten Staaten“.2

Russland nutzt die Runet-Dienste, um Einfluss auf das „nahe Ausland“ auszuüben, wie Moskau die Länder der ehemaligen Sowjetunion nennt. Der Kreml hat damit Zugriff auf die Nutzerdaten von Plattformen, die im Lauf der Zeit regimefreundlichen Oligarchen in den Schoß gefallen sind. Diese Plattformen werden außerdem von russischsprachigen Minderheiten im Ausland viel genutzt, vor allem in den baltischen Staaten und in der Ukraine.

Wie ist diese „digitale Ausnahme“ zu erklären? Während China seine nationalen Plattformen vor allem geschaffen hat, um Kontrolle über die Informationen zu gewinnen, entstand das Runet nicht als Ersatz für ausländische Dienste, die das Regime blockiert hat. Das russischsprachige Internet ist Ergebnis einer kaum bekannten Geschichte, die lange vor dem Zerfall der Sowjetunion beginnt. Die UdSSR war der Nährboden, auf dem sich die technischen Strukturen, sozialen Praktiken und wirtschaftlichen Modelle entwickelten, die die Besonderheiten des heutigen Runet ausmachen und die russische Neigung zum Hacken und zur Cyberkriminalität fördern.

Entgegen einer verbreiteten Vorstellung hat das Sowjetregime zwar nicht immer verhindert, dass sich Teile seiner Informatikkapazitäten vernetzten. Doch die freie, offene und dezentralisierte Infrastruktur, im Westen seit den 1970er Jahren entstanden, konnte sich im Land des Samisdat (Selbstverlag, etwa von Untergrundzeitungen) einfach nicht entwickeln. Obwohl zahlreiche Wissenschaftler, Ingenieure und Architekten im Rahmen von Studienreisen ins Ausland fahren und dort westliche Kollegen treffen durften, blieb in sensiblen Bereichen wie der Informatik der Eiserne Vorhang undurchlässig.

Das hinderte die Sowjetunion jedoch nicht, schon früh ehrgeizige Informatikprojekte zu verfolgen und technische Großtaten zu vollbringen. 1968 wurde die erste digitale Animation der Geschichte auf einem russischen Computer programmiert. Sieben Jahre später, bei der ersten US-amerikanisch-sowjetischen Kooperation in der Weltraumfahrt, brauchten russische Rechner nur wenige Minuten, um die Flugbahn der Raumschiffe der Apollo-Sojus-Mission zu berechnen, während es bei der National Aeronautics and Space Administration (Nasa) eine halbe Stunde dauerte. Ende der 1980er Jahre besaß die UdSSR ihre eigene Top-Level-Domain (.su), und ein paar hundert privilegierte Leute hatten Zugang zum Unix-Betriebssystem, das Ende der 1960er Jahre in den USA entwickelt wurde und bei der Entstehung des Internets eine wichtige Rolle spielte.

Die kibernetika (Informatik) entwickelte sich fast ausschließlich im Schatten der sogenannten Sonderregime – Verwaltungsstrukturen oder Gebiete, die aufgrund ihrer strategischen Bedeutung Privilegien genossen. Unter Stalin verspottete die Sowjetpresse die Anfänge der Informatik im Westen noch als „bourgeoise Pseudowissenschaft“. Doch schon damals arbeiteten ganze Labors unter höchster Geheimhaltung an der Entwicklung der ersten eigenen Rechner. Hinter den Stacheldrahtzäunen rund um die Labors, die zugleich Strafanstalten waren, konstruierten Ingenieure – zumeist politische Gefangene – Maschinen, die, ähnlich wie in Alexander Solschenizyns Roman „Der erste Kreis der Hölle“3 beschrieben, zur automatischen Überwachung des Telefonnetzes dienen sollten.

Nach Stalins Tod im März 1953 und der Verurteilung seiner „Exzesse“ auf dem XX. Parteitag drei Jahre später brachen für die Informatik goldene Zeiten an. Die alten Kader der Akademie der Wissenschaften wurden nach und nach durch jüngere und liberalere Leute ersetzt. Die kibernetika war nicht länger ein Hirngespinst der westlichen Bourgeoisie, sondern ein wichtiges Faustpfand im technologischen Wettlauf mit dem Westen.

Ende der 1950er Jahre erfüllten die ersten in Serie gefertigten sowjetischen Rechner die Anforderungen in Bereichen wie Luftfahrt und Kernforschung, die immer mehr Rechenkapazität brauchten. Diese von dem Informatikpionier Sergei Lebedew ersonnenen „schnell arbeitenden Elek­tronen-Rechenmaschinen“ (BESM) waren ein großer Erfolg.

Nachdem Leonid Breschnew 1964 die Macht übernommen hatte, versuchte die KPdSU-Führung, Stalin zumindest teilweise zu rehabilitieren; auch die Informatik und die Computerforschung erlebte mit der Restalinisierung einen Rückschlag. Die Verantwortlichen trafen daraufhin eine sowohl für die Informatik als auch für die gesamte Wirtschaft folgenreiche Entscheidung: Man wollte mehr auf den Diebstahl westlicher Technologien setzen als auf die Entwicklung von Rechnern in den heimischen Labors.4

Nach und nach wurden die BESM durch Modelle ersetzt, die Ingenieure anhand von Plänen für IBM-360-Rechner bauten. Die sowjetischen Informatiker mochten diese Klone von US-Computern nicht. Aber die Rechner hatten immerhin den Vorteil, untereinander vollständig kompatibel zu sein und sich sehr leicht vernetzen zu lassen, und genau das wurde im Lauf der 1970er Jahre in den sowjetischen Labors und der sowjetischen Industrie üblich.

Die sowjetischen Netze hatten keinerlei Gemeinsamkeiten mit dem Arpanet, das die US-Amerikaner entwickelten und das als Vorläufer des Internets gilt. Sie bildeten eher eine automatisierte Infrastruktur zum Datenaustausch, die es erlaubte, Produk­tions­abläufe zu kontrollieren und Daten von Laborinstrumenten zu sammeln.

In den 1960er Jahren versuchte die Sowjetunion, ein „automatisches staatliches System für die Informationsübermittlung“ aufzubauen, das – ähnlich wie Arpanet – den wissenschaftlichen Austausch erleichtern sollte. Das Projekt wurde allerdings wieder aufgegeben. Erst 1983 stellte dann der erste Sowjetbürger quasi unfreiwillig eine Verbindung mit dem weltweiten Netz her, das noch nicht Internet hieß.

Ein elektronischer Tunnel unter dem Eisernen Vorhang

Dieser Pionier war der 35-jährige Biologe Anatoli Kliossow. Als sich 1983 die Ost-West-Spannungen wegen der im Zuge des Nato-Doppelbeschlusses geplanten Stationierung von Atomsprengköpfen zuspitzten, erhielt die sowjetische Akademie der Wissenschaften von allerhöchster Stelle die Anweisung, einen Forscher auszuwählen, der in der Lage wäre, an einer über Computer geführten Telekonferenz teilzunehmen.

In westlichen Wissenschaftskreisen waren solche Telekonferenzen bereits üblich, aber für die UdSSR stellten sie etwas vollkommen Neues dar. Die Wahl fiel auf Kliossow, der kurz zuvor zu einem Forschungsaufenthalt in den USA gewesen war und sich mit Datentechnik auskannte. Er wurde in einen Hochsicherheitstrakt des Instituts für Informatikforschung der UdSSR (­VNIIPAS) gebracht, wo sich eines der raren Modems in der Sowjetunion befand. Der Institutsdirektor erkannte, was für ein Vorteil es war, jemanden zu haben, der mit dem Computer umgehen konnte, und erteilte Kliossow unbegrenzten Zugang. Bei Telekonferenzen knüpfte der Biologe von da an Kontakte zu vielen Surfern der ersten Stunde, die staunten, dass sie im Internet einem Sowjetbürger begegneten.

Hinter den Sicherheitsschleusen und den Heerscharen von Spezialkräften, die Kliossow permanent überwachten, unterhielt er sich vollkommen frei mit seinen Gesprächspartnern aus dem Westen. Er erfuhr von Ereignissen, die in der Sowjetpresse totgeschwiegen wurden, und konnte Aufsätze in US-Zeitschriften unterbringen, die er als elektronische Post verschickte, ohne dass sie zuerst die Glawlit passierten, die Zensurbehörde, der alle Wissenschaftler ihre Arbeiten vorzulegen hatten.

Ironie der Geschichte: Während der Physiker und Bürgerrechtler Andrei Sacharow nach Gorki verbannt wurde und manche Sowjetbürger unter großen Gefahren Schriften von Dissidenten in den Westen schmuggelten, grub Kliossow fast unabsichtlich einen elektronischen Tunnel unter dem Eisernen Vorhang hindurch. Die Sicherheitskräfte bekamen nicht mit, was er machte. Er beendete seine Aktivitäten 1987, zwei Jahre nach dem Beginn von Perestroika (dem Umbau des Systems) und Glasnost (Transparenz), als das erste freie und offene Netz der Sowjetunion, der Vorläufer des Runet, allmählich Gestalt annahm.

Wie viele andere Informatikabenteuer konnte sich auch die sowjetische Spielart des Internet nur im Schatten von Staatsgeheimnissen und Sonderregimes entwickeln. Das erste Netz namens Demos, über das sich die Sowjetunion mit dem Rest der Welt verbinden konnte, entstand 1988 im Kurtschatow-Institut für Atomenergie (KIAE) in Moskau, einer Hochsicherheitsfestung, in der wichtige Teile der Atomforschung des Landes untergebracht waren. Ursprünglich war Demos als ein internes Netz für das Institut gedacht. Aber bald schon überwand es die streng bewachten Mauern des KIAE durch Verbindungen mit Nowosibirsk (in Sibirien), ­Dubna und Serpuchow, drei Zentren für Atomforschung und Kybernetik.

Im weiteren Verlauf profitierte das Netz von der Perestroika und einem Gesetz aus dem Jahr 1987, das die Gründung kleiner Privatunternehmen erlaubte. Ein Teil der Mannschaft, die mit Demos befasst war, verließ daraufhin das KIAE und gründete den ersten – und einzigen – Internetprovider der Sowjetunion. Er hieß Relkom (für „reliable electronic communications“, „verlässliche elektronische Kommunikation“) und hatte durchaus Erfolg: Im September 1990 wurde ihm die Zuständigkeit für die Vergabe der Domain­namen der UdSSR übertragen (.su), und Ende 1991 hatte er bereits mehrere tausend Nutzer im ganzen Land.

Verglichen mit den 6 Millionen, die zur selben Zeit den französischen Onlinedienst Minitel nutzten, mag diese Zahl lächerlich erscheinen. Wenn man aber bedenkt, mit welchen technischen Einschränkungen die so­wjetischen Informatiker damals kämpften und in welcher ökonomisch-politischen Si­tua­tion sich das ganze Land befand, war das beachtlich.

Relkom funktionierte mit einfachsten Mitteln: Zugriff auf Inhalte außerhalb der UdSSR hatten Nutzer nur über einen einzigen Rechner, der an einem einzigen Modem hing. Dieser Computer mit Namen Kremvax5 war über die persönliche Telefonleitung des Gründers von Demos, Alexei Soldatow, mit einem Server der Universität Helsinki verbunden. Die Führung des Kurtschatow-Instituts hatte Soldatow ein Privileg eingeräumt: Er verfügte über eine automatische internationale Telefonleitung, sodass er sich nicht von einem Telefonisten oder einer Telefonistin in einer Telefonzentrale verbinden lassen musste, sondern sich mit seinem System direkt einloggen konnte. Manche sprachen ironisch vom „Fenster nach Europa“ in Anspielung darauf, wie Peter der Große einst Sankt Petersburg genannt hatte.

Die Anlage war nach heutigen Maßstäben unvorstellbar langsam. Die Verbindung mit der Außenwelt lief für alle Relkom-Nutzer über einen einzigen Rechner, der an ein einziges Modem mit einer Übertragungsgeschwindigkeit von 9600 Bits pro Sekunde angeschlossen war – 56-mal weniger als der langsamste ADSL-Anschluss der heutigen Zeit. Trotz (oder wegen) der einfachen Ausstattung konnte dank Relkom die erste Internetcommunity des Landes entstehen.

Doktor Soldatow und der Putschversuch von 1991

Ein Personal Computer kostete damals bis zu einem durchschnittlichen Jahresgehalt.6 Deshalb gehörten zur ersten russischen Internetcommunity auch fast ausschließlich junge Ingenieure, die an ihren Arbeitsplätzen – oft Forschungsinstitute oder Labors von strategischem Interesse – Zugang zum Netz hatten. Diese paar Informatiker konnten sich ausgerechnet in von den Sicherheitsorganen kontrollierten Enklaven vollkommen frei auf Plattformen mit verheißungsvollen Adressen bewegen: talk.soviet.politics, talk.­soviet.culture und so weiter. Die Relkom-Nutzer führten leidenschaftliche Debatten über den Zerfall der Sowjetunion. Ihr Austausch ist noch heute in einem Winkel des Usenet zu finden, einem veralteten Protokoll, das mittlerweile zum Deep Web zählt.

Die kleine Relkom-Community beschränkte sich allerdings nicht auf das Diskutieren. In den Putschversuch im August 1991 griff sie aktiv ein. Damals wollte eine Gruppe von KPdSU-Funktionären und Militärangehörigen die Macht an sich reißen und die Reformen von Gorbatschow beenden. Der sowjetische Staatspräsident war zu dem Zeitpunkt auf der Krim unterwegs. Die Putschisten behaupteten, er sei plötzlich erkrankt, und stellten ihn unter Hausarrest. Boris Jelzin, damals Präsident der Russischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR), verschanzte sich im Weißen Haus in Moskau, dem Sitz des Obersten Sowjets der Teilrepublik.

Mit Unterstützung aus dem KGB behinderten die Putschisten die Verbreitung von Informationen, um die öffentliche Meinung im Westen und die Sowjetbevölkerung über die Vorgänge im Dunkeln zu lassen. Sie kappten die internationalen Telefonverbindungen, Radio und Fernsehen brachten Opern in Endlosschleife, nur kurz unterbrochen durch lakonische Informationsbulletins, die die Drahtzieher des Putsches verfasst hatten. Die Agenten des KGB vergaßen jedoch, die automatische Verbindung von Alexei Soldatow zu kappen – wahrscheinlich konnten sie sich nicht vorstellen, dass ausgerechnet über eine Leitung des Instituts für Atomforschung subversive Informationen fließen würden.

Damit war Relkom einer der wenigen Kanäle, über die in Echtzeit Informationen ausgetauscht und Diskussionen geführt werden konnten. Zahlreiche westliche Journalisten und Wissenschaftler, die wegen der Situation in Moskau alarmiert waren, meldeten sich bei sowjetischen Foren. Die russischen Nutzer berichteten ihnen, was sie von ihren Fenstern aus beobachteten. Sie verbreiteten sogar von Jelzin verfasste Kommuniqués in den Provinzen und im Ausland, während das Weiße Haus von Spezialtruppen abgeriegelt wurde, die bereit waren zu stürmen.

Während der drei Tage, die der Putsch dauerte, wurde das überlastete Netz zum Schauplatz der ersten digitalen Rebellion in der Geschichte. Die sowjetischen Relkom-Nutzer waren sich der Gefahren vollkommen bewusst. Einer schrieb an einen westlichen Journalisten: „Wir haben so viele Informationen übermittelt, dass es reichen würde, uns für den Rest unseres Lebens ins Gefängnis zu sperren.“7

Die Erfahrung mit Relkom hat viele spätere Entwicklungen geprägt, insbesondere den Aufbau der Infrastruktur des Runet. Die Kremvax-Anlage, über die sich Nutzer mit ausländischen Servern verbinden konnten, wurde in einem Vorort von Moskau in einem Gebäude des Instituts für Atomforschung, bekannt unter der Bezeichnung M9, untergebracht. Anfangs bestand sie lediglich aus dem berühmten Rechner und seinem Modem, die beide in einer Ecke des Gebäudes Platz fanden.

Nach dem Zerfall der Sowjet­union nahm die Anzahl der Computer rasch zu. Die Server füllten bald den ganzen Raum, dann die ganze Etage und schließlich das ganze Gebäude. Heute ist M9 das Nervenzentrum des russischsprachigen Web: Praktisch alle von Russland und Zentralasien ausgehenden Verbindungen laufen durch dieses extrem gesicherte Gebäude.

Relkom war auch zu verdanken, dass eine erste ­Generation von Internet­unternehmern entstand. Der Gründer und Chef von Yandex, Arkadi Wolosch, entdeckte das Netz im August 1991 für sich, als er ungeduldig auf Nachrichten von seinen Verwandten wartete. Um die Informationsblockade zu umgehen, nutzte er zum ersten Mal die Kommunikation per Computer – auf der er später sein Wirtschaftsimperium aufbaute.

Im Jahr 1993 – das Volumen der über das Internet verbreiteten Nachrichten nahm immer weiter zu – gründete Arkadi Wolosch Yandex (Abkürzung von „Yet Another Index“). Der Dienst zur Indexierung von Inhalten wurde populär, zulasten westlicher Lösungen, die sich auf dem russischen Markt nicht durchsetzten. Zur gleichen Zeit erlebte der Westen die „erste Internetrevolution“. Suchmaschinen wie ­Lycos und Yahoo eroberten das World Wide Web, aber in Russland konnten sie nicht Fuß fassen.

Das hatte mehrere Gründe. Den Nachfolgestaaten der Sowjetunion und insbesondere Russland haftete noch die jahrzehntelange Abschottungspolitik und Informationskontrolle an. Die wenigen Verbindungskabel nach Europa und in die Vereinigten Staaten waren qualitativ schlecht, was die Verbreitung der im Westen beheimateten Dienste erschwerte. In vielen Bereichen sahen sich die Russen daher gezwungen, eigene Lösungen zu entwickeln. Vor diesem Hintergrund entstanden neben Yandex auch noch viele andere weniger bekannte Websites.

Die digitale Infrastruktur entwickelte sich im Verlauf der 1990er Jahre kaum weiter, auch weil ausländische Investoren zögerten, sich in Russland zu engagieren. Das rechtliche Umfeld war unsicher, die wirtschaftliche Lage instabil. Die Giganten des Silicon ­Valley machten einen Bogen um Russland und überließen das Feld lokalen Ini­tia­ti­ven. Daher teilte sich der Markt für Internetzugänge schnell zwischen ein paar nationalen Telekommunikationsgiganten und einer Vielzahl regionaler, sogar kommunaler Strukturen auf. Noch heute gibt es mehr als 13 000 Internetanbieter in Russland. Viele Städte haben nicht nur ihre eigenen lokalen Unternehmen, sondern auch eine Art kommunales Intranet mit Websites und Inhalten, die nur vor Ort aufgerufen werden können.

Trotz aller Schwierigkeiten und der veralteten digitalen Infrastruktur hat der Internetboom Ende der 1990er Jahre auch Russland erfasst. Aber der russische Boom fand an den Rändern des World Wide Web statt, was bestimmte kulturelle und technische Besonder­heiten des russischen Internets erklärt. Der zweifelhafte Ruf der Russen bei Onlinespielen stammt aus dieser Zeit: Weil sie wegen der eingeschränkten Bandbreite auf ihren eigenen ­Servern spielen mussten, entwickelten sie eine eigene Netiquette, die sie bis heute von anderen Spielern unterscheidet.

Transsibirisches Kabel von London nach Hongkong

Bei dieser Entwicklung spielt auch die Wissenschaftskultur eine Rolle. Während des Kalten Kriegs war der militärisch-industrielle Komplex mit seinen vielen Beschäftigten, Ingenieuren und Managern besonders einflussreich, und technische Ausbildungen standen hoch im Kurs. Das führte dazu, dass sich große Teile der Bevölkerung rasch Computerkenntnisse aneigneten. Zu Sowjetzeiten boten „technische Institute“ in der Provinz kurze Ausbildungen an, die großen Zulauf hatten und viele Bürger mit den damaligen Betriebssystemen vertraut machten.

Ende der 1990er Jahre gerieten große Teile der russischen Bevölkerung – die sich allgemein relativ gut mit Informatik auskannte – in eine wirtschaftliche Notlage. Das war der Nährboden für eine weitere digitale Besonderheit: die Cyberkriminalität. Für viele Amateure wie auch professionelle Informatiker, die nicht nach Europa oder in die Vereinigten Staaten auswandern wollten, bot der Kreditkartenbetrug eine schier unwiderstehliche Möglichkeit, an Geld zu kommen. Rund um derartige Machenschaften entstanden und entwickelten sich mafiöse Gruppierungen. 60 Prozent der Anfang der 2000er Jahre weltweit begangenen Fälle von Cyberkriminalität wurden dem Russian Business Network angelastet.8 Zahlreiche Hacker, die in Cyberattacken in den Vereinigten Staaten (insbesondere in die Angriffe auf Demokraten während des Wahlkampfs 2016) und in Europa verwickelt waren, stammen mutmaßlich aus diesen Kreisen.

Anfang der 2000er Jahre begann für das Runet eine neue Ära. Die Einnahmen aus Erdöl- und Gaslieferungen sorgten für ein investitionsfreundliches Klima und leiteten eine lange Wachstumsperiode ein. Russland trat auf Augenhöhe in die zweite Internet­revolution (Web 2.0) ein, die zu einer explosionsartigen Vermehrung sozialer Netzwerke und zum Erfolg algorith­mischer Suchmaschinen wie Google führte.

Das Problem, dass Kabel fehlten, die Russland mit dem Rest der Welt verbanden, wurde 2005 durch ein neues Glasfaserkabel gelöst, das als Rückgrat für die Entwicklung des russischen Netzes dient. Dieses Kabel namens TEA (Trans-Europa-Asien) folgt dem Streckenverlauf der Transsibirischen und Transmandschurischen Eisenbahn und verbindet London mit Hongkong. Russland hat damit seinen Platz an der digitalen Peripherie verlassen und ist ins Zentrum des Datenverkehrs zwischen Europa und Asien gerückt.

Die westliche Konkurrenz hat bei den Diensten, die in den späten 1990er und frühen 2000er Jahren entstanden, kein Monopol errungen. Ganz im Gegenteil. VKontakte hat über 400 Millionen russischsprachige Nutzer, die Zahl der Facebook-Konten in Russland lag 2016 bei rund 21 Millionen. Und auch Yandex hat in Russland gegenüber Google die Nase vorn: Während die Algorithmen der Suchmaschine von Arkadi Wolosch von vornherein für die russische Sprache konzipiert waren, konnte Google lange Zeit die verschiedenen Fälle im Russischen nicht unterscheiden.

Nach einer Phase der Öffnung und intensiven Kooperation mit westlichen Unternehmen während der Amtszeit von Präsidenten Dmitri Medwedew (2008–2012) sind die Beziehungen zum Westen inzwischen wieder angespannter. Die Außenpolitik des Kremls setzt auf die Besonderheiten des Runet, das zu einer digitalen Projektionsfläche für russisches Machtstreben geworden ist. Auf diesem Gebiet hat Russland einiges zu bieten.

1 Daten des Onlinedienstes Alexa.

2 Catherine Morin-Desailly, „L’Union européenne, colonie du monde numérique?“, Senatsbericht Nr. 443, Paris, 20. März 2013.

3 Alexander Solschenizyn war von der Ausbildung her Physiker und arbeitete als solcher fast ein Jahr im Spezial­gefängnis Nr. 16. Heute ist dort ein wichtiges ­staatliches ­Unternehmen für ­Cybersicherheit untergebracht.

4 Vgl. die Enthüllungen von Wladimir Wetrow – alias Fare­well für seine Führungsoffiziere beim französischen Geheimdienst Direction de la surveillance du territoire (DST) – über die Funktionsweise der militärisch-industriellen Kommission in den 1980er Jahren.

5 Dieser Begriff bezieht sich auf eine Episode aus dem Jahr 1984, als ein niederländischer Spaßvogel den Internetusern vorgaukelte, Generalsekretär Konstantin Tschernenko surfe höchstselbst auf einem myste­riö­sen Computer namens Kremvax (das Suffix „-vax“ wurde damals häufig für Server verwendet, und „Krem“ stand für den Kreml).

6 Nach Statistiken von Goskomstat. Die schwindelerregenden Preise für Computer hingen zum Teil mit dem Embargo zusammen, dass die Vereinigten Staaten nach der Invasion Afghanistans (1979) für elektronische Produkte verhängt hatten.

7 Archivdatenbank, Talk.soviet.politics, 20. August 1991.

8 Siehe Peter Warren, „Hunt for Russia’s Web criminals“, The Guardian, London, 15. November 2007.

Aus dem Französischen von Ursel Schäfer

Kevin Limonier ist Dozent am Institut français de géopolitique, Universität Paris VIII.

Le Monde diplomatique vom 10.08.2017, von Kevin Limonier