09.11.2012

Das geheime Kalabrien

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Das geheime Kalabrien

Wo die ’Ndrangheta das Sagen hat und Mutige in Geisterdörfer ziehen von Serge Quadruppani

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Die Braut im weißen Kleid geht am Arm von Vater und Bruder voran, gefolgt von ihren schwarz gekleideten Angehörigen. Das junge Mädchen geht mit festem Schritt, als hätte nicht die Familie mit ihrem Hunger und der Hoffnung auf bessere Tage diese Ehe vermittelt, als ginge sie aus freien Stücken ihrem Schicksal als Gattin eines alten, aber reichen Mannes entgegen.

Nichts regt sich in der brütenden Hitze des Aspromonte-Bergmassivs. Der Hochzeitszug nähert sich der Brücke, unter der ein Fluss dreihundert Meter tief hinabstürzt. Plötzlich löst sich die Braut von Vater und Bruder, geht voraus, als hätte sie es eilig, den Gatten zu erreichen, der sie im nächsten Dorf erwartet. Sie dreht sich um und lächelt ihnen noch einmal zu.

Dann ist sie mit einem Satz auf der Brüstung, springt hinunter, wirbelt kurz herum, ihre Schleier wehen im Wind, Flügel und Leichentuch in einem. Ihr Blick richtet sich auf die Berge, gleitet über die fast senkrechten Hänge, die Terrassen mit Olivenhainen und Kastanienwäldern, über Wasserfälle und weiße Erde, bizarr geformte Felsen, den Gipfel, der das Profil von Zeus nachzeichnet, und jenen anderen, wo er die Faust zu recken scheint, über byzantinische Kapellen, wilde Kuhherden und die Rotten schwarzer Wildschweine, über Marmorsteinbrüche und Täler, in denen Flüchtlinge Zuflucht suchen. Die Berge Kalabriens begleiten sie in ihrem Sturz, sie ist frei.

Der Geländewagen fährt über den Ponte della promessa, dann auf scheinbar endlosen holprigen Straßen anderthalb Stunden hinauf nach Africo Vecchio. Wer in Begleitung eines Einheimischen durch diese abgelegene Gegend im tiefsten Süden der italienischen Halbinsel fährt, hört wahre Geschichten und noch wahrere Legenden, die den Geist der Region und der Menschen atmen. Über Jahrtausende, lange vor den Griechen und Römern, haben die Böden und die Menschen, die sie bearbeiteten, einander geprägt.

Kein Wunder, dass in diesen Felslabyrinthen, dieser atemberaubenden Landschaft, die die Grenzen zwischen oben und unten verschwimmen lassen, ein Tarantellafestival stattfindet – der furiose Volkstanz passt gut hierher. Es kommt einem auch ganz natürlich vor, dass es hier besonders viele Visionäre gab, von Joachim von Fiore (1132–1202), der den Anbruch eines dritten Zeitalters der Menschheit im Zeichen der Freiheit ankündigte, bis zu Tommaso Campanella, dem Dominikaner, der 1602 die sozialutopische Schrift „Der Sonnenstaat“ verfasste.

Bis 1860 war Africo ein blühendes Dorf. Auf den Terrassen wuchsen Weizen, Wein und Oliven, unten am Flussufer fraßen Seidenraupen die Maulbeerblätter, das Wasser trieb Webstühle und Ölmühlen an. Dann kamen die Piemonteser und erzwangen mit ihren Schwertern die Einheit Italiens. Sie gingen so grausam vor, dass sich die Bevölkerung in ganz Süditalien auflehnte. Die Niederschlagung der angeblichen „Briganten“ forderte zehntausende Tote. Den Grund und Boden bekamen ein paar Barone zugesprochen, die der Monarchie ergeben waren, während das Volk in tiefem Elend versank, aus dem es sich erst gut hundert Jahre später wieder halbwegs befreien konnte. Ähnlich verlief es überall in Süditalien, in Kampanien, Sizilien oder in Carlo Levis1 Eboli.

Dass Africo Vecchio – von manchen auch als „Africo Vero“, „wahres Africo“ bezeichnet – einmal bessere Tage gesehen hat, merkt man sofort, wenn man sich die Ruinen anschaut. Das von ausladenden Feigenbäumen, riesigen Eichen, deren Wurzeln die Hauswände sprengen, Brombeerranken, Rizinussträuchern und Kakteen überwucherte Geisterdorf lässt immer noch äußere Anzeichen von Wohlstand erkennen: große Terrassen, ausladende Fenstersimse, Türen mit geheimnisvollen Schnitzereien, von denen eine, die ein Freimaurersymbol abbildet, das Überbleibsel einer Strafexpedition der Franzosen sein soll.

Unser Führer ist der aus Africo stammende Schriftsteller Gioacchino Criaco. Er erzählt uns von Marschall Joachim Murat, den Napoleon 1805 zum König von Neapel machte. Weil sich die Bevölkerung der Provinz, die damals zum Königreich Neapel gehörte, der Eroberung widersetzte, überfielen die Soldaten Africo, wo sie nur Frauen, Kinder und Alte antrafen, und richteten ein Massaker an. Inzwischen hatten die in den Wäldern versteckten Männer die umliegenden Dörfer zu Hilfe gerufen. Gemeinsam fielen sie über die französischen Eindringlinge her.

Als wir durch die Ruine der Carabinieri-Kaserne stiefeln, schildert Criaco, wie dort in den 1930er Jahren Schäfer gefoltert wurden. Sie sollten Verbrechen gestehen, die sie nicht begangen hatten. Daraufhin griff das ganze Dorf die Kaserne mit Gewehren und Granaten an, riss den Carabinieri die Uniformen vom Leib und jagte sie nackt hinaus in die Wildnis.

Wie viele Dörfer in der Gegend trägt Africo den Namen eines Windes. In den Bergen, von denen man an manchen Stellen sowohl das Tyrrhenische als auch das Ionische Meer sehen kann, steht die Luft bei der fast schon nordafrikanischen Hitze zum Glück nur selten still.

Auch die Erde bewegt sich häufig. Wegen angeblicher Einsturzgefahr versetzte der italienische Staat Africo Vecchio den Todesstoß. In den 1950er Jahren siedelte man die verbliebene Bevölkerung an die Küste um, wo Africo Nuovo errichtet wurde, ein Haufen nie ganz fertiggestellter Häuser in der hässlichen Stillosigkeit, die damals rings ums Mittelmeer herrschte und auch heute noch weit verbreitet ist.

Oben im alten Dorf renovieren Criaco und seine Freunde Häuser, bestellen Gemüsegärten und züchten schwarze Schweine, braune Rinder und Ziegen mit langem zottigen Fell und archaischen Hörnern. Zäune gibt es hier nicht. Die Tiere, die vermutlich keiner EU-Norm entsprechen, trotten durch die Macchia. An dem Ort, wo Murats Männer nach ihrem Massaker Halt machten und ihrerseits umgebracht wurden, haben unsere Freunde ein Haus instand gesetzt und zur Wanderhütte umgebaut. Bei einem herrlichen Abendessen erzählen sie vom ewigen Aufbegehren des Mezzogiorno.

Der Gesellschafts- und Generationenkonflikt der 68er Bewegung, der fast ein Jahrzehnt lang die westliche Welt erschütterte, hat in dieser Region ganz eigene Formen angenommen. Während die jungen Männer aus der Gegend, die zum Arbeiten in den Norden aufgebrochen waren, mit anderen Arbeitsmigranten aus Süditalien in den großen Fabriken die Proteste anheizten, griffen die Daheimgebliebenen teils zu radikaleren Mitteln. So kam es zu den schweren Unruhen, die als „Moti di Reggio“ in die Geschichtsbücher eingingen und deren Auslöser die umstrittene Verlagerung der Regionalhauptstadt von Reggio Calabria nach Catanzaro war. Mithilfe der Unterwanderung durch die Neofaschisten des Movimento Sociale Italiano (MSI), unter denen auch Geheimdienstmitarbeiter waren, wurde die Rebellion nach mehreren Monaten niedergeschlagen.

Danach, erzählt Criaco, wurden alle Anführer der kalabresischen Mafia, der berüchtigten ’Ndrangheta, entweder von den Ordnungskräften oder von angeblichen Konkurrenten ermordet – und allesamt durch Geheimdienstleute ersetzt. Seither sei die ’Ndrangheta die fünfte Kolonne der staatlichen Sicherheitskräfte, verwalte im Auftrag des Staates die Schattenwirtschaft und unterdrücke das Aufbegehren des rebellischen Südens.

Im Gespräch mit den Leuten aus der Umgebung stellen wir fest, dass Criaco mit seiner Überzeugung nicht allein dasteht. Er macht auch in seiner wöchentlichen Kolumne in der meistverkauften Wochenzeitung der Region, La Riviera, keinen Hehl aus seiner Meinung. In fast jeder Ausgabe wird die ’Ndrangheta angegriffen, allerdings eher im Ton bissiger Satire als mit der hochtrabenden Empörung, die in den großen italienischen Tageszeitungen üblich ist. Für Criaco und seine Freunde ist Süditalien und vor allem Kalabrien bis heute eine Art Kolonie. Man muss diese Ansicht nicht teilen, um zu erkennen, dass in der Region etwas nicht stimmt.

Wir fahren zurück an die Küste. Weiter südlich, Richtung Reggio Calabria, kommen wir nach Saline Joniche. Schon von Weitem sieht man den hohen, dünnen Fabrikschlot, ringsum verlassene Gebäude und viele Hektar asphaltierter Boden, einst ein großes Feuchtgebiet und Station für tausende Zugvögel auf dem Weg von Afrika nach Europa und wieder zurück.

Nach dem Aufstand von Reggio Calabria wurde das nach dem damaligen Industrieminister benannte Pacchetto Colombo geschnürt. Knapp 2 000 Milliarden Lire wurden für den Bau von Industriebetrieben im Süden bereitgestellt. Das Programm bescherte einem kleinen Personenkreis enorme Profite. Allen voran die Bosse der ’Ndrangheta, die den Zuschlag für die Aufträge erhielten. Dann kamen die Industriellen, die als Subunternehmer engagiert wurden. Wo einst Salinen waren, wurden zunächst ein Hafen und riesige Tanks mit zweihunderttausend Kubikmeter Fassungsvermögen gebaut.

Doch dann verkündete das Institut, das die Produktion von Bioproteinen für Tierfutter aus Erdölderivaten erfunden hatte, dass diese Proteine krebserregend sein könnten, und Liquichimica machte zu, bevor sie in Betrieb genommen wurde. Deshalb erstrecken sich auf den einstigen Rastplätzen der Zugvögel heute postindustrielle Ruinen, ohne dass es hier jemals Industrie gab. Die vor dreißig Jahren eingestellten Arbeiter sind seither in Kurzarbeit und werden in Rente gehen, ohne je dort gearbeitet zu haben. Heute will das Schweizer Unternehmen Repower hier ein Kohlekraftwerk bauen, aber die immer zahlreicher werdenden Gegner blockieren die Straßen, um das zu verhindern.2

Etwas weiter nördlich, an den endlosen Sandstränden der ionischen Küste, reihen sich nagelneue, meist menschenleere Strandbäder aneinander, manche Strandanlagen sind verfallen und sehen aus, als wären sie nie in Benutzung gewesen, dahinter zahllose abscheuliche, nie fertiggestellte Ferienhäuser.

Durch die leer stehenden Gebäude huschen nachts manchmal kurdische oder afrikanische Bootsflüchtlinge, die den Carabinieri entkommen konnten. Wer sich erkundigt, wem die Häuser gehören und warum ein Haus in Strandnähe, dessen Garten einmal wunderschön gewesen sein muss, jetzt nur noch dem Wind und dem Müll überlassen ist, bekommt unverständliche Antworten. Und warum sind auf der anderen Seite der Stiefelspitze, an der tyrrhenischen Küste Kalabriens, die Strände belebter? „Dort wird es auch bald so sein wie hier“, sagen die Leute dann.

Herrliche Landschaft, unermessliche historische Reichtümer, landwirtschaftliche Ressourcen. Angesichts dieses Potenzials ist die gesellschaftliche Lähmung in dieser Gegend völlig unverständlich. Noch immer scheint den Menschen, die Arbeit und Beschäftigung suchen, nichts anderes übrig zu bleiben, als in den Norden auszuwandern. Criaco erklärt uns, das werde so lange weitergehen, wie die italienische Wirtschaft die billigen Arbeitskräfte aus dem Süden brauche. Die gegenwärtige Krise und die Fabrikschließungen im Norden könnten also vielleicht eine Chance für den Süden bedeuten. Schon kehren die Ersten zurück, andere kommen, um den kalabrischen Garten wieder zu bestellen.

Die Region lockt auch Ausländer an, die sich von der Schwierigkeit, die Leute hier zu verstehen, nicht abschrecken lassen und von der geradezu orientalischen Gastfreundschaft begeistert sind. Aber die wenigen jungen Leute in den Küstendörfern interessieren sich wohl mehr für ihre Bildschirme als für die wunderbare Bergwelt in ihrem Rücken, nur ein oder zwei Autostunden entfernt.

Fußnoten: 1 Schriftsteller, Maler und Antifaschist (1902 bis 1975), Autor des autobiografischen Romans „Christus kam nur bis Eboli“ (Deutsch von Helly Hohenemser-Steglich), Zürich (Europa Verlag) 2008 (1. Ausgabe 1947). 2 Über den Kampf der AKW-Gegner: www.nocarbonesaline.it. Aus dem Französischen von Claudia Steinitz Serge Quadruppani ist Schriftsteller und Übersetzer. Auf Deutsch erschien von ihm „Das Weihnachtsessen“, Heilbronn (Distel) 2005.

Le Monde diplomatique vom 09.11.2012, von Serge Quadruppani