Kraftprobe in Tunesien
Gewerkschaften profilieren sich als Gegenpol zu den Islamisten von Hèla Yousfi
Sidi Bouzid, die Stadt, in der die Jasminrevolution begann, ist zehn Monate nach dem Wahlsieg der Ennahda-Partei1 wieder zum Schauplatz von Demonstrationen geworden. Nach massiven Polizeieinsätzen rief am 14. August dieses Jahres der tunesische Gewerkschaftsbund UGTT (Union Générale Tunisienne du Travail) zum Generalstreik auf, um Maßnahmen zur Regionalförderung durchzusetzen – aber auch um die Freilassung junger Arbeitsloser zu erzwingen, die bei den Demonstrationen verhaftet worden waren. Lokale Ennahda-Vertreter forderten daraufhin Basis und Funktionäre der Gewerkschaft auf, sich „nicht in die Politik einzumischen“.
Begonnen hatte die Konfrontation zwischen Ennahda und UGTT mit einer Kundgebung in Tunis am 25. Februar 2012. Etwa 5 000 Demonstranten waren dem Aufruf der Gewerkschaft gefolgt und hatten dagegen protestiert, dass – wie es hieß – Ennahda-Anhänger wiederholt Müll vor örtlichen Gewerkschaftsbüros abluden. Diese Aktionen waren ihrerseits eine Reaktion auf die Proteste der öffentlichen Angestellten, die in Tunesien zu der am schlechtesten bezahlten Berufsgruppe gehören.
„Sie wollen uns zum Schweigen bringen und über uns bestimmen“, sagt UGTT-Generalsekretär Houcine Abassi. „Und sie wollen uns Angst machen, um zu verhindern, dass wir unsere Rechte wahrnehmen und unsere Sache verteidigen. Aber wir werden nicht weichen, wir werden uns nicht unterwerfen.“ Noureddine Arbaoui, Mitglied des Ennahda-Exekutivbüros, hielt dagegen: Die UGTT werde von Kräften des alten Regimes benutzt, um die Arbeit der Regierung zu behindern.
Eine neuerliche Zuspitzung brachten die Demonstrationen am 1. Mai, bei denen es eigentlich um die sozialen und wirtschaftlichen Herausforderungen gehen sollte, vor denen das nachrevolutionäre Tunesien steht. Doch die offizielle Parole „Arbeit, Freiheit, Würde“ ging im Kampfgeschrei der verfeindeten Lager unter. „Unsere Regierung – wir werden sie verteidigen, mit unseren Herzen und unserem Blut!“, skandierten die Ennahda-Anhänger. Und die Gewerkschafter riefen: „Nieder mit der Regierung der Schande!“
Die Vertreter von Ennahda seien nicht die Ersten, die gegen die Gewerkschaften vorgehen, erklärt Sami Souihli, Generalsekretär der Ärztegewerkschaft. „Die UGTT war schon unter den Übergangsregierungen nach dem Rücktritt von Staatspräsident Ben Ali im Visier: Ihr wurde immer die Schuld an der Wirtschaftskrise und dem sozialen Chaos gegeben. Die UGTT soll geschwächt werden, weil sie überhaupt die einzige organisierte Gegenkraft ist.“2
Im politischen Leben des Landes hat die UGTT mit ihren derzeit 517 000 Mitgliedern stets eine wichtige Rolle gespielt. Sie ist der größte Gewerkschaftsverband Tunesiens und war lange Zeit auch der einzige.3 Dieser umfasst 24 regionale Einzelgewerkschaften, 19 Branchengewerkschaften und 21 Basisorganisationen und ist vor allem in Staatsbetrieben stark vertreten. Zu seinen Mitgliedern zählen Industriearbeiter, Angestellte im öffentlichen Dienst, Krankenhausärzte und so weiter.
Seit 1956, als Tunesien unabhängig wurde, ist die UGTT in zwei Fraktionen gespalten: die Gewerkschaftsbürokratie, die den Konsens mit der Staatsmacht sucht, und die eher kämpferische Fraktion, die bestimmte Einzelgewerkschaften kontrolliert, wie Post und Telekommunikation, die Lehrergewerkschaft sowie einige Regionalverbände. Trotz der manchmal zweifelhaften Haltung der Bürokratenfraktion konnten soziale Bewegungen immer wieder die Unterstützung der UGTT-Gewerkschaften gewinnen.
Machtkampf der Bürokraten
Diese Gewerkschaft hat unbestreitbare Mängel: Ihre Entscheidungsstrukturen sind zentralistisch; Frauen sind genauso unterrepräsentiert wie Vertreter der Privatwirtschaft und bestimmter Regionen, etwa der Sahelzone. Aber ebenso unbestreitbar hat sie eine wichtige Rolle bei den Streiks und Demonstrationen gespielt, die den Diktator Ben Ali in die Flucht jagten. Sie unterstützte auch die wiederholten Besetzungen des Kasbah-Platzes im Januar und Februar 2011, die zum Sturz der beiden Übergangsregierungen führten.
Vor diesem Hintergrund wird verständlich, wie sich der Konflikt um den Status der kommunalen Angestellten zur Kraftprobe zwischen Ennahda und dem Gewerkschaftsbund auswachsen konnte, zu einem erbitterten politischen Streit, bei dem es gar nicht mehr um die Sache selbst geht. So erklärte Ministerpräsident Hamadi Jebali am 28. Mai 2012 in einer Fernsehdiskussion zum Abbruch der Verhandlungen im öffentlichen Dienst: „Wir haben der UGTT deutlich gemacht, dass sich jeder seiner Stellung und seines Auftrags bewusst sein sollte. Wir müssen diese Eskalation stoppen. Die Regierung ist nicht der Feind der Arbeiter und der Gewerkschafter, wir halten nichts von diesen Klassenkampftheorien. Auch die Arbeitslosen sind unsere Kinder. Wir brauchen keine sogenannten Sozialverhandlungen, man sollte uns nicht unter Druck setzen, damit wir Lohnerhöhungen zustimmen – im Augenblick haben wir andere Probleme.“ Und weiter: „Sie wollen doch nur, dass die Regierung nachgibt, wir hören immer nur politische und keineswegs soziale Aussagen – wir sollen handlungsunfähig gemacht werden! Aber diese Regierung hat das Vertrauen der Wähler und der Bevölkerung. Wir werden nicht nachgeben.“
Will die Ennahda also zurück zu den Zuständen unter Ben Ali, dessen Einheitspartei RCD die Gewerkschaft kontrollierte? Für diese Annahme spricht, dass in letzter Zeit viele Islamisten, vor allem aus den Belegschaften der Privatbetriebe, in die Gewerkschaft eingetreten sind. Auf dem Gewerkschaftskongress in Tabarka vom Dezember 2011 konnte das neu gewählte Exekutivbüro dennoch selbstbewusst seine politische Autonomie bekräftigen – eine Liste der Basis namens „Linker Konsens“ hatte bei den Abstimmungen eine klare Mehrheit erzielt.
Verschärft wird die Konfrontation dadurch, dass die UGTT die Rolle der politischen Opposition übernommen hat, deren Parteien kaum handlungsfähig sind. Sie erklärte, sie stehe „an der Seite des tunesischen Volkes in seiner ganzen Vielfalt und an der Seite der Zivilgesellschaft“, und sie wolle „nicht nur für die arbeitenden Massen eintreten, sondern vor allem für die Republik und ihre Institutionen“. Die großen Kampagnen für Bürgerrechte und gegen gewaltsame Übergriffe salafistischer Gruppen, die der Gewerkschaftsbund führt, drängen die sozialen Belange fast schon in den Hintergrund. Mit dem wiederholten Verweis auf die historische Legitimität der UGTT macht deren Führung immer wieder deutlich, dass sie bereit ist, in sozialen Krisen als politische Kraft aufzutreten.
In einer Fernsehsendung am 30. Mai 2012 hielt der stellvertretende UGTT-Generalsekretär Samir Cheffi dem Ministerpräsidenten entgegen: „Wir sind eine landesweite Organisation, die an den nationalen und sozialen Kämpfen teilgenommen hat. Die UGTT lässt sich solche Aussagen nicht bieten – das ist ein Übergriff. Wir wissen, was unsere Aufgabe ist, und sind ihr seit unserer Gründung 1946 immer gewachsen gewesen. Wir werden von unserem Weg nicht abweichen.“ Am 18. Juni 2012 rief die Gewerkschaft zur Einrichtung eines „Nationalen Rats für den Dialog“ auf, dem alle politischen Kräfte und Vertreter der Zivilgesellschaft angehören sollen, mit dem Ziel, die wirtschaftlichen, sozialen und sicherheitspolitischen Probleme des Landes einvernehmlich zu lösen.
Die Wirtschaftkrise ist dramatisch
Aber die politischen Gegensätze in Tunesien verschärfen sich. Im Lager der Opposition finden sich vor allem Kräfte der Mitte wie die Republikanische Partei, ein Bündnis von Afek Tounès (Tunesische Horizonte), der Demokratischen Fortschrittspartei PDP und anderen liberalen Gruppierungen; und der Zusammenschluss Nida Tounès (Tunesiens Aufruf) von ehemaligen RCD-Anhängern und Reformgruppen unter Führung des früheren Ministerpräsidenten der Übergangsregierung, Béji Caïd Essebsi, der mit dem Vorwurf, die UGTT führe das Land in die Anarchie, klar gegen die Gewerkschaft Stellung bezogen hat. Diese Parteien teilen sich die Oppositionsrolle mit Kräften der extremen Linken, wie der Nationalen Demokratischen Bewegung (al-Watad) und der Kommunistischen Arbeiterpartei Tunesiens (PCOT), die zu den Unterstützern der UGTT gehören.
Aus Sicht der Regierungsanhänger hat sich die UGTT von ihren Führungskadern manipulieren und für politische Zwecke instrumentalisieren lassen. Die UGTT hingegen betont ihre Unabhängigkeit und besteht darauf, ein Gegengewicht zu sein, das immer wieder aktiv in die Politik eingreift.
Die sozialen und wirtschaftlichen Forderungen, die heute eine so große Rolle spielen, waren in der Geschichte der Gewerkschaft eher zweitrangig. Natürlich setzten sich die Mitglieder, Führung wie Basis, für die Rechte der Angestellten im öffentlichen Dienst ein und führten Lohnverhandlungen. Und sie erzielten auch Erfolge wie die Abschaffung der Zeitarbeit in einigen Branchen, etwa in der Textilindustrie, oder eine monatliche Zulage von 70 Dinar (34 Euro) für Beamte. Aber bislang ist es der UGTT nicht gelungen, dem neoliberalen Programm der Ennahda einen eigenen wirtschaftlichen und sozialen Entwurf entgegenzusetzen.
So erscheinen die Allianzen zwischen Liberalen und Gruppierungen der extremen Linken zur Verteidigung der Gewerkschaft in einem anderen Licht. Mohammed Kannoun, Lehrer und aktives Mitglied, beschreibt die Schwierigkeiten: „Uns Gewerkschaftern an der Basis geht die Puste aus. Früher war der RCD unser Gegner, heute müssen wir uns mit der Ennahda herumschlagen. Eigentlich sollten wir unsere eigenen Probleme angehen – eine interne Reform, die Ausarbeitung wirtschaftlicher Alternativen usw. Aber wir haben keinen Spielraum mehr: Auf der einen Seite die Ennahda, auf der anderen das breite Oppositionsbündnis, das sich vielleicht um Essebsi gruppieren wird.“
Es stellt sich die grundsätzliche Frage, wie die politische Führung des Landes überhaupt auf die sozialen und wirtschaftlichen Probleme reagieren will. Der Dauerkonflikt zwischen „Islamisten“ und „Demokraten“ führt vor allem dazu, dass die sozialen Themen in den Hintergrund rücken.4 Und das verschafft der neuen Volksfront unter Führung der Kommunisten die Möglichkeit, sich als Alternative zu präsentieren. Ihr Slogan lautet: „Weder Essebsi noch Jibali. Unsere Revolution ist die Revolution der einfachen Leute.“
Die dramatische Wirtschaftskrise bringt überall in Tunesien neue soziale Bewegungen hervor. Und die hitzigen Debatten über die Risiken, die eine Privatisierung von Staatsunternehmen in Branchen wie Strom- und Wasserversorgung oder im Medienbereich mit sich bringen, tragen nicht gerade zum Abbau der sozialen Spannungen bei. In diesen turbulenten Zeiten treten zwei Kräfte deutlich hervor: Die Regierungspartei, die ihr – wenn auch leicht abgemildertes – neoliberales Konzept durchsetzen will, und die Opposition, die bislang keine Alternative zu bieten hat und wohl auch in Zukunft auf die Unterstützung des Gewerkschaftsverbands angewiesen sein wird.
Anders als geplant, lag die neue Verfassung zum Jahrestag der ersten demokratischen Wahlen am 2. Oktober doch noch nicht vor. UGTT-Generalsekretär Abassi erklärte dazu am 19. September gegenüber der Tageszeitung Al-Chourouk, die politischen Ziele, vor allem im Hinblick auf die nächsten Wahlen, hätten für seine Organisation Vorrang. Die UGTT bietet vielen sozialen Bewegungen Rückhalt – jedenfalls sehen das die Gewerkschafter so. Ob sie jenseits kurzfristiger politischer Absichten ein wirtschaftliches und soziales Programm für Tunesien formulieren kann, das der Parole „Arbeit, Freiheit, Würde“ angemessen ist, muss sich erst noch zeigen.