Der König und der neue Mann
In Marokko sind die Islamisten an der Regierung, aber nicht an der Macht von Wendy Kristianasen
Auf die Umstürze in anderen arabischen Ländern hat der marokkanische König Mohammed VI. rasch reagiert. Als die Welle der Rebellionen sich ausbreitete und die Leute auch in Marokko auf die Straße gingen, erließ er eine Verfassungsreform, die erstmals eine Koalitionsregierung ermöglichte. An deren Spitze steht jetzt mit Abdelilah Benkirane ein islamistischer Ministerpräsident.
„Marokko ist zwar keine Demokratie, aber der Arabische Frühling hat uns tatsächlich einige Fortschritte gebracht. In unserem Land kommt das einer Revolution gleich.“ Für Mustafa Ramid, Justizminister in Marokkos erster islamistisch geführter Regierung unter Abdelilah Benkirane, kam der Aufstieg seiner Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (PJD) in die Regierungsverantwortung ziemlich unerwartet. Noch vor kurzem war er ein prominenter Dissident der Islamistenpartei und kämpfte für politische Reformen, die seine Partei zur Voraussetzung für die Teilnahme an Parlamentswahlen erklärte.
Als die Massen in anderen arabischen Ländern auf die Straße gingen, demonstrierten auch in Rabat, Casablanca, Tanger und Marrakesch mehrere tausend Menschen und forderten eine neue Verfassung, Reformen und ein Ende der Korruption. Das war am 20. Februar 2011 und das Datum dieses denkwürdigen Tages wurde zum Namen der oppositionellen Bewegung. Am 9. März 2011 trat König Mohammed VI. zur Hauptsendezeit im Fernsehen auf und hielt dort eine kluge Rede an sein Volk, in der er diverse Reformen versprach. Am 17. Juni 2011 kündigte er eine neue Verfassung an, die den Monarchen dazu verpflichtet, einen Ministerpräsidenten aus den Reihen der stärksten Fraktion zu ernennen, dem auch das Recht zur Auflösung des Parlaments zugestanden wird. Außerdem verkündete der König, dass die Berbersprache als zweite Staatssprache neben dem Arabischen anerkannt wird.
Die neue Verfassung wurde am 1. Juli 2011 in einer Volksabstimmung mit 98,5 Prozent der Stimmen angenommen. Nach offiziellen Angaben sollen an dem Referendum fast 73 Prozent der Marokkaner teilgenommen haben. Knapp fünf Monate später, am 25. November 2011, eroberte die islamistische PJD bei den vorgezogenen Parlamentswahlen 107 von 395 Sitzen und wurde damit stärkste Partei.
Das rasche Handeln des Königs dürfte einen weiteren Umsturz in der arabischen Welt verhindert haben.1 Doch haben sich die Verhältnisse in Marokko damit wirklich verändert? Im Jahr 2007 erläuterte mir der heutige Regierungschef Abdelilah Benkirane, seine Ziele seien Freiheit und Demokratie, „aber natürlich unter Beachtung der bestehenden politischen Tabus“. Diese Tabus existieren offensichtlich nach wie vor, auch wenn die Presse ein wenig freier und die Zivilgesellschaft etwas mutiger geworden ist. Neuerdings darf man öffentlich über Korruption reden, solange man keine Angehörigen des Königshauses beim Namen nennt oder auf die Seilschaften innerhalb der Palastbürokratie (makhzen) verweist. Zu den Tabus gehört auch das Vermögen des Königshauses, das mit heute geschätzten 2,5 Milliarden Dollar in den vergangenen zehn Jahren um das Fünffache gestiegen ist. Die Gewinne aus dem Phosphatabbau fließen direkt in die Privatschatulle des Monarchen.
Wie viel Macht haben Marokkos Islamisten tatsächlich? Die PJD stellt in der Koalitionsregierung nur 12 von insgesamt 31 Ministern. Das wichtige Wirtschaftsressort leitet Nizar Baraka von der rechtsgerichteten Istiqlal-Partei, die vor den Islamisten an der Regierung war. Und in den drei zentralen Ministerien für Außen- und Innenpolitik und für Tourismus sitzen vom Palast ernannte Berater, die sogenannten Schattenminister.
Als US-Außenministerin Hillary Clinton im März 2012 das Land besuchte, hatte sie zuerst ein Treffen mit Mohammeds außenpolitischem Berater, bevor sie den Außenminister zu Gesicht bekam. Zu den Schattenministern des Palasts gehören auch Leute wie der ehemalige Innenminister Ali El Himma, dessen Entfernung aus dem Amt die Bewegung des 20. Februar ausdrücklich gefordert hatte. Und natürlich unterstehen nicht nur der Ministerrat und der für religiöse Einrichtungen zuständige Ulama-Rat, sondern auch das Militär, die Sicherheitskräfte und die Nachrichtendienste nach wie vor der direkten Aufsicht des Monarchen.
Neben der Verfassungsreform hatten die Demonstranten vom 20. Februar vor allem eine bessere Versorgung mit Lebensmitteln und Arbeitsplätze gefordert. Die europäische Finanzkrise und der dadurch ausgelöste Einbruch des Tourismus sowie eine katastrophale Weizenernte haben Marokko schwer getroffen. Unter den jüngeren Marokkanern (in der Altersgruppe bis 25 Jahren) ist jeder zweite arbeitslos.
Die Islamisten sind in Marokko zwar in der Regierung, aber nicht unbedingt an der Macht. Justizminister Mustafa Ramid ist dennoch zuversichtlich. Zwar gibt er (anders als die meisten seiner Kabinettskollegen) zu, dass es „Probleme in der Koalition gibt und wir ohne sie schneller und effizienter hätten handeln können“. Aber das neue Kapitel habe vielversprechend begonnen, „und ich glaube und hoffe, dass es gut enden wird“.2 Ramid ist entschlossen, eine Justizreform durchzusetzen. Bereits jetzt habe man eine neue Aufteilung der Befugnisse und Funktionen eingeführt, „die in eine demokratische Richtung geht – wenn auch bislang nur à la marocaine“.
Der größte Trumpf der PJD ist der charismatische Regierungschef Abdelilah Benkirane. Seine Popularität beruht darauf, dass er ein Mann ohne Allüren ist, der sagt, was er denkt, und zwar auf derija, dem marokkanischen Arabisch. Mit seinem direkten, offenen Blick zieht er sein Gegenüber regelrecht in den Bann, egal ob es sich um ein Interview unter vier Augen oder einen Auftritt vor den großen Massen seiner Anhänger handelt, wie etwa auf dem PJD-Parteitag, der im Juli 2012 in Rabat stattfand.
Ein der PJD keineswegs wohlgesinnter Beobachter lobt Benkirane als den ersten marokkanischen Politiker, der seinen Landsleuten klar sagt, dass die Zeit der starken Subvention von Gütern des täglichen Bedarfs, vor allem von Speiseöl, vorbei ist. Im Juni habe er sogar den Mut gehabt, den Marokkanern zu erklären, dass die Forderungen des IWF erfüllt werden müssten: „Er brachte die Leute dazu, diese bittere Pille zu schlucken, weil er im Volk eine hohe Glaubwürdigkeit genießt.“
Es ist allerdings fraglich, ob Benkiranes Popularität ausreicht, um den Spagat zwischen islamistischen Prinzipien und Realpolitik auszuhalten. „Die Wahlen von 2011 waren erst der Beginn einer demokratischen Wende“, sagt Slimane El Omrani, Vizegeneralsekretär der PJD. „Jetzt sind die PJD und die anderen Parteien der Koalition gefordert, mit den Gewerkschaften, der Zivilgesellschaft und dem König zusammenzuarbeiten. Das ist eine Partnerschaft mit dem Ziel, die neue Verfassung, die bislang nur auf dem Papier steht, mit Leben zu füllen.“
„Hamdulillah, der Arabische Frühling hat uns gerettet!“, ruft El Omrani. In Tunesien habe der Selbstmord von Mohamed Bouazizi zum Sturz des Regimes geführt, aber die Lage sei dort auch eine andere gewesen als in Marokko. „Wir hatten keine Unterdrückung wie in Tunesien und auch keinen Bürgerkrieg mit 200 000 Toten wie in Algerien. Bei uns sitzt das Regime fest im Sattel, und trotz aller Mängel und demokratischen Defizite hatte die PJD nicht ernsthaft vor, die Monarchie infrage zu stellen. Wir suchten eben einen Mittelweg.“
Diese Kompromissbereitschaft hat der PJD scharfe Kritik vonseiten anderer Islamisten eingebracht. Eine der einflussreichsten politischen Kräfte im Königreich, die tolerierte, aber nicht offiziell anerkannte Gruppierung al-Adl wal-ihsan (Gerechtigkeit und Spiritualität), wirft der PJD vor, ihre islamischen Prinzipien zu verraten. Abdessalam Yassine, der die Organisation 1973 gegründet hat und von 1989 bis 2000 unter Hausarrest stand, und seine Tochter Nadia, die als Sprecherin der Gruppe fungiert, stellen die Legitimität der Monarchie offen infrage. Zunächst hatte sich die al-Adl wal-ihsan an der Bewegung des 20. Februar beteiligt. Doch kaum hatte der König Reformen angekündigt, zog sich die Gruppe zurück. Hicham Attouch, einer der politischen Strategen von der al-Adl wal-ihsan, begründet das so: „Es war ein strategischer Rückzug. Die Bewegung [des 20. Februar] hatte keine klare Führung, nachdem sie von kleinen linken Gruppen erobert worden war.“
Knapp ein Jahr nach dem Wahlsieg der PJD sind die Meinungen über die neue Regierung geteilt. Die schärfste Kritik kommt von der relativ kleinen, aber lautstarken Gruppe städtischer Freiberufler mit fortschrittlicher und entschieden säkularer Gesinnung (obwohl viele von ihnen bekennende Muslime sind). Bedenklich finden sie insbesondere die Haltung der PJD zu gesellschaftspolitischen Fragen und vor allem zur Rolle der Frau. Als symptomatisch werten sie die Tatsache, dass es in der Regierung nur eine einzige Ministerin gibt. Zumal Bassima Hakkaoui für das Ressort Solidarität, Frauen, Familie und soziale Entwicklung zuständig und im Übrigen eine von zwei Ehefrauen des Justizministers ist.
Liberale Marokkaner befürchten Rückschritte bei der Familiengesetzgebung (moudawana), die 2004 erst nach langen Auseinandersetzungen zwischen Islamisten und fortschrittlichen Kräften zugunsten der marokkanischen Frauen geändert wurde.3 Die Initiative zu dieser Reform war vom König ausgegangen, der damals eine Kommission gegründet hatte, in der die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen vertreten waren. Nachdem Marokko die UN-Frauenkonvention Cedaw im Jahr 1993 nur mit gewissen Vorbehalten verabschiedet hatte, verkündete der König 2008 am Parlament vorbei, diese Vorbehalte seien nun „hinfällig geworden“. Schon damals hatte sich der König als Garant einer gewissen Modernisierung profiliert. Seit die PJD an der Spitze der Regierung steht, kann er diesen Trumpf noch öfter ausspielen.
Der marokkanische Politologe Mohammed Trozy, Experte für islamische Bewegungen, bringt auf den Punkt, vor welcher Herausforderung die PJD nach der gewonnenen Wahl steht: „Mittelstand und Kleinbürger, beide konservativ und traditionell gesinnt, haben die Partei gewählt, aber nun muss die Partei sie auch mobilisieren. Die gebildeten Städter sind in erster Linie gegen die PJD, weil sie in ihr einen Haufen von Emporkömmlingen aus der Provinz sehen. Dabei liegt die Stärke der PJD gerade nicht in ihrer islamistischen Ideologie, sondern darin, dass sie ihre Basis unter den einfachen Leuten hat und volksnah ist.“ Wie die Islamisten in allen arabischen Ländern sei die PJD jedoch gut organisiert und versuche derzeit, mehr innerparteiliche Demokratie zu entwickeln: „Aber das große Problem der Islamisten ist, wie sie einerseits ihre konservative Basis bei der Stange halten, andererseits aber den Staat – im Sinne des Königs – modernisieren wollen, während sie selbst jegliche Modernisierung der Gesellschaft zutiefst ablehnen.“