13.07.2017

In der roten Kammer von Jintudi Foodstuff

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In der roten Kammer von Jintudi Foodstuff

von Jean-Baptiste Malet

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Das 35 mu (2,3 Hektar) große Tomatenfeld liegt bei Wusu, einer Stadt im Norden der chinesischen Region Xinjiang, auf halbem Weg zwischen der Hauptstadt Ürümqi und Kasachstan. Auf dem Feld arbeiten vielleicht hundert Erntehelfer, die meisten sind aus Sichuan, darunter einige Uiguren. Ein 14-jähriges Mädchen schlägt mit ihrem Hackmesser einen Stiel voller reifer Tomaten ab. Ein anderer Arbeiter hebt ihn auf und schüttelt die Tomaten ab. Die geernteten Früchte reihen sich überall zu roten und grünen Zeilen, dann werden sie von Frauen und Männern in große Kunststoffsäcke gefüllt.

Niemand ist hier fest angestellt. Pro 25-Kilo-Sack bekommt jeder der paarweise arbeitenden Teams 2,2 ­Yuan (30 Eurocent). „Meine Frau und ich schaffen zusammen bis zu 170 Säcke am Tag“, schätzt ein Arbeiter. Das macht pro Person etwa 25 Euro; vor 15 Jahren waren es noch 2,50 Euro. Jetzt aber bekommen die Erntehelfer Konkurrenz von Maschinen, die aus Italien importiert werden.

Li Songmin beaufsichtigt die Ernte vom Feldrand aus. Abends werden seine Tomaten auf Lastwagen geladen und zu einer Fabrik der Firma Cofco Tunhe gefahren, von der er die Parzelle gepachtet hat. Er kennt keinen der Erntehelfer persönlich, alle werden von einem Personaldienstleister gestellt, im Auftrag von Cofco Tunhe. Die Firma liefert ihm ertragreiche Stauden der Heinz-Sorte, die er nach präzisen Vorgaben anbauen muss, und garantiert ihm die Abnahme der Tomaten zu einem ausgehandelten Preis.

„Cofco“, ein Akronym für China Na­tio­nal Cereals, Oils and Foodstuffs Corporation (Nationales Unternehmen für Getreide, Ölpflanzen und Nahrungsmittelprodukten), ist der größte chinesische Tomatenverarbeiter. Der Konzern steht auf der Forbes-Liste der 500 umsatzstärksten Unternehmen der Welt. Er umfasst heute zahlreiche Geschäftszweige, die zu Zeiten Mao Tse-tung gegründet wurden.

Damals war Cofco der einzige staatseigene Betrieb, der Agrarprodukte importieren und exportieren durfte. Die Tochterfirma Tunhe ist auf die Herstellung von Zucker und Industrietomaten spezialisiert, von den 15 Fa­bri­ken zur Tomatenverarbeitung sind elf in der Region Xinjiang angesiedelt. Die Fässer mit Tomatenmark gehen an die Giganten der globalen Nahrungsmittelindustrie: Kraft-Heinz, Unilever, Nestlé, Kagomé, Del Monte, PepsiCo, und an die McCormick-Gruppe, die Nummer eins auf dem Weltmarkt für Gewürze.

Die Cofco-Betriebe im Bezirk Chang­ji liegt 40 Kilometer von Ürümqi entfernt. Von hier gehen täglich 5200 Tonnen Tomatenmark in alle Welt, erklärt Wang Bo, einer der Betriebsleiter: „Wir produzieren hier ausschließlich Fässer für den Export. Die Ware wird nach Europa, Amerika, Afrika und ­Asien versandt.“

Tomaten aus Xinjiang in Dosen von Heinz

Lastwagenkonvois fahren auf das Gelände. Auf den Metallbrücken über den Laderampen richten Arbeiter schwere Wasserschläuche auf die Masse der roten, in der Sonne aufgeheizten Tomaten. Der starke Strahl drückt sie in einen Ableitungskanal, wo sie zugleich gereinigt werden. Von da geht es in die Verarbeitungsanlage, dort werden sie geschält, entkernt, zerkleinert, erhitzt.

Am Ende der Fertigungsstraße stehen blaue, mit aseptischen Säcken ausgekleidete Metallfässer, die Arbeiter unter eine Abfüllmaschine italienischen Fabrikats schieben. Ein Knopfdruck, ein Blick auf den Kontrollbildschirm, dann füllt sich das 220-Liter-Fass mit dreifach konzentriertem Tomatenmark.1

„Die Tomatenverarbeitung ist ein Geschäft mit niedriger Gewinnspanne“, erklärt Yu Tianchi, der ranghöchste Manager im Tomatenbusiness von Cofco Tunhe. „Deshalb kauft Heinz unser Tomatenmark und investiert in dessen Weiterverarbeitung für Produkte, die mehr einbringen.“

3000 Kilometer weiter östlich, in der Hafenstadt Tianjin, besuchen wir eine Fabrik der Jintudi Foodstuff Co. Direktor Ma Zhenyong öffnet eine schwere Tür, uns schlagen klebrige Hitze und ohrenbetäubender Lärm entgegen. Hier wird das Tomatenmark aus Xinjiang in Dosen abgefüllt. Unter gelblichem Neonlicht schiebt sich ­eine Kette dampfender Konserven unter den Abfüllmaschinen hindurch, die von Arbeitern bedient werden. Auf dem Hauptfließband werden 70-Gramm-Dosen abgefüllt, die kleinste Konserveneinheit. Auf einem Band daneben werden die 400-Gramm-Dosen verschlossen. Der Betrieb läuft rund um die Uhr im Dreischichtbetrieb, der Ausstoß füllt pro Jahr 2000 Container. Nach Auskunft des Direktors verdienen die Arbeiter bei einer 56-Stunden-Woche 500 Euro im Monat.

Die Konserve enthält lauf Etikett lediglich Tomaten und Salz. Doch das stimmt nicht. In der Halle, wo die großen Fässer aus Xinjiang geleert werden, stehen Mischmaschinen, in denen das Tomatenmark mit Zusatzstoffen wie Sojafasern, Stärke oder Dextrose vermengt wird. Besucher haben hier eigentlich keinen Zugang. Wir mussten uns heimlich einschleichen, um zu beobachten, wie ein Arbeiter, auf der Plattform einer Knetmaschine stehend, aus Säcken weißes Pulver in die rote Masse schüttete. Durch Zugabe von Wasser verwandelte sich das Pulver in eine teigartige Masse. In derselben Halle hantierten vier mit Schutzmasken und Handschuhen ausgestattete Arbeiter mit großen Kanistern. Der darin enthaltene Farbstoff, ein opakes, orangefarbenes Gemisch, steht ebenfalls nicht auf dem Etikett.

Gepanschte Produkte für Afrika

Später erklärt uns der Direktor in seinem Büro, die Firma besitze alle Zertifikate, die ein Nahrungsmittelhersteller benötigt – auch die für Exportfirmen obligatorische Zertifizierung nach der internationalen Norm für Lebensmittelsicherheit ISO 22000. Am Ende der Produktionskette befindet sich die Versandabteilung. Hier wandern die roten Kisten in Container, die nummeriert und verplombt werden, um per Schiff nach Westafrika zu gehen.

In der ghanaischen Stadt Techiman in der Region Brong Ahafo bauen hunderte Bauern Tomaten an. In ganz Ghana gibt es 90 000 Kleinproduzenten. 2014 wurden laut offizieller Statistik 366 772 Tonnen geerntet. Tomaten wurden während der Kolonialzeit ins Land gebracht, heute sind sie fester Bestandteil der ghanaischen Küche und machen ein Drittel allen verkauften Gemüses aus. Doch auf den Märkten von Techiman werden die Händler ihre Frischtomaten kaum los, während die billigen Dosen „Made in China“ reißenden Absatz finden.2

In den letzten zwanzig Jahren hat der Import von Tomatenmark stetig zugenommen. Laut FAO-Statistik sind die Einfuhren in Ghana zwischen 1996 und 2013 von 1225 Tonnen im Jahr auf 109 500 Tonnen gestiegen. Mehr als 8 Prozent der Konserven kommen aus China. 2014 importierte Ghana 11 Prozent des in China produzierten Tomatenmarks, Nigeria sogar 14 Prozent. Dabei handelt es sich allerdings um ein Produkt zweiter Klasse, denn das für den afrikanischen Exportmarkt bestimmte Tomatenmark ist ein „Mischkonzentrat“.

Als wir auf der Pariser Lebensmittelmesse SIAL (Salon International de l’Alimentation) im Oktober 2016 den Stand der größten chinesischen Konservenhersteller besuchten, stellten wir uns als potenzielle Käufer vor. Man gab uns eine Liste mit den Dosenpreisen, die sich nach dem prozentualen Tomatenmarkgehalt richten. Die meisten für den afrikanischen Markt bestimmten Konserven firmieren als „doppelt konzentriertes Tomatenmark“. Dabei enthalten sie im Durchschnitt nur 45 Prozent Konzentrat. Den Rest machen Zusatz- und Farbstoffe aus. „Die meisten chinesischen Konservenfabriken exportieren Mischprodukte, doch das steht nicht auf dem Etikett“, erklärt uns Armando Gandolfi. Der Geschäftsmann aus Parma ist weltweit die Nummer eins im Maklergeschäft mit Tomatenmark.

Die Produktfälschung senkt natürlich die Kosten; den Preis zahlen die einheimischen Bauern. „Viele von uns bauen von Jahr zu Jahr weniger Tomaten an“, klagt Kwasi Fosu aus Techiman, „selbst meine Frau kauft chinesisches Tomatenmark; sie findet es praktischer und billiger, als frische ghanaische Tomaten zu kaufen.“

Nach der Unabhängigkeit am 6. März 1957 spielte Ghana eine führende Rolle in der panafrikanischen Bewegung und setzte auf wirtschaftliche Planung: Unter dem ersten Präsidenten Kwame Nkrumah wurde stark in Bildung, Gesundheit und Infrastruktur investiert. Eine staatlich gelenkte Wirtschaftpolitik sollte die Im­port­ab­hängigkeit Ghanas verringern und die wirtschaftliche Struktur umbauen, die überwiegend aus kleinbäuerlichen Kakaoplantagen und wenigen ex­port­orien­tier­ten Enklaven (Bergbau, Nutzholz) bestand.3

Doch es gab auch Tomaten, und das mehr als genug. Das Problem war nur, dass ein großer Teil der überschüssigen Ernte während der Regenzeit verfaulte. Deshalb errichtete man Anfang der 1960er Jahre zwei Fabriken, um die Tomaten weiterzuverarbeiten.

Am 24. Februar 1966 wurde der sozialistische Präsident Nkrumah durch einen vom CIA unterstützten Militärputsch gestürzt. Es folgten viele Jahre politischer Instabilität. 1981 putschte sich Jerry Rawlings, ein Leutnant der Luftwaffe, an die Macht. Mit Unterstützung der internationalen Finanzinstitutionen machte er Ghana zu einem afrikanischen Vorreiter des Neoliberalismus. Ende der 1980er Jahre wurden im Zuge der vom IWF geforderten Strukturreformen auch die Verarbeitungsbetriebe für Tomaten geschlossen. Von ihnen sind nur Berge von rostigem Schrott übrig geblieben.

Auf fast allen Märkten sieht man Konservendosen der Marke Gino, auf denen neben der kleinen italienischen Fahne eine Tomate verschmitzt grinsend unter einer Sonnenbrille hervorlugt. Innerhalb von zehn Jahren hat Gino den afrikanischen Markt erobert. Die Dosengrößen reichen von 70 Gramm bis 2,2 Kilo. Das Gino-Produkt wird von dem Großhandelsunternehmen Watanmal4 vertrieben (und zwar auch in Haiti, Japan, Südkorea, Jordanien und Neuseeland) und hat in Ghana nur einen ernstzunehmenden Konkurrenten: Tasty Tom von Olam aus Singapur. Beide Konzerne beziehen ihr Produkt seit Langem von denselben Konservenfabriken in Tianjin.

Um den Absatz von Gino-Tomatenmark anzukurbeln, ist Watanmal mit seiner Werbung überall präsent. Es gibt kaum ein Dorf in Ghana, in dem nicht auf riesigen Plakatwänden für das Label geworben wird. Watanmal nutzt auch die gemeinnützige Stiftung Gino Celebrate Life Fund für seine PR-Kampagnen. In Nigeria, wo sich die Marke vor mehr als zehn Jahren etabliert und mittlerweile die lokalen Tomatenproduzenten verdrängt hat, widmet sich die Stiftung der „Verbesserung der Lebensbedingungen“ und finanziert etwa Operationen zur Behandlung des Grauen Stars.

„Danke, Gino, jetzt kann ich für meine Familie sorgen“, jubelt ein Patient nach gelungener Operation in einem Werbefilm. Ein zweiter ruft: „Gott segne Gino!“⇥Jean-Baptiste Malet

1 Dreifach konzentriertes Tomatenmark besteht zu 36 Prozent aus Trockenmasse, die bei doppelt konzentriertem Mark 28 Prozent und bei frischen Tomate zwischen 5 bis 6 Prozent ausmacht.

2 Siehe Mathilde Auvillain und Stefano Liberti, „Tomatensauce für Ghana“, Le Monde diplomatique, August 2014.

3 Siehe Yao Graham, „Die drei Präsidenten von Ghana. Zwischen politischer Unabhängigkeit und wirtschaft­licher Abhängigkeit“, Le Monde diplomatique, April 2007.

4 Watanmal unterhält Firmensitze in Hongkong und in Taramani, einem Bezirk der indischen Stadt Chennai (früher Madras). Das Unternehmen brüstet sich damit, weltweit 530 Millionen Kunden zu bedienen.

Aus dem Französischen von Markus Greiß

Jean-Baptiste Malet ist Journalist und Autor von „L’Empire de l’or rouge. Enquête mondiale sur la tomate d’industrie“, Paris (Fayard) 2017.

Le Monde diplomatique vom 13.07.2017, von Jean-Baptiste Malet