13.07.2017

Amerikanische Krankheit

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Amerikanische Krankheit

Nirgendwo ist die Gesundheits­versorgung so teuer wie in den USA. Während die Republikaner Obamacare abschaffen wollen, gibt es in manchen Bundesstaaten nun Pläne für eine öffentliche Krankenkasse.

von Chase Madar

Jörg Sasse, 2546, 2014, 108 x 190 cm
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In den USA freunden sich immer mehr Leute mit der Idee eines staatlichen Gesundheitswesens an. Bislang war das Land in dieser Hinsicht der große Außenseiter. In der gesamten industrialisierten Welt gehört eine öffentliche Gesundheitsversorgung zu den Grundrechten, die auf unterschiedliche Weise garantiert und implementiert wird.

In Deutschland reglementiert der Staat die Preise für standardisierte Behandlungen und Medikationen, die von privaten Leistungsträgern erbracht werden; die Bürger werden nach der Höhe ihres Einkommens an den Kosten beteiligt und gegebenenfalls vom Staat unterstützt. In Kanada sind die Provinzen die Träger öffentlicher Einheitskrankenkassen, die Verträge mit unabhängigen Gesundheitsdienstleistern schließen; private Krankenversicherungen unterliegen gesetzlichen Regulierungen oder sind ganz verboten. Der National Health Service in Großbritannien ist zu hundert Prozent staatlich, seine Angestellten sind Staatsbedienstete. Die Leistungen dieser Systeme sind für alle Bürger da und werden staatlich reguliert und finanziert.

In all diesen Ländern ist die Gesundheitsversorgung wesentlich kostengünstiger als in den USA, wo dafür mehr Geld ausgegeben wird als in jedem anderen Land der Welt.1 Im nächsten Jahr werden Kosten in Höhe von 18 Prozent des US-Bruttosozialprodukts erwartet, während die Ausgaben in anderen OECD-Ländern durchschnittlich bei 11 Prozent liegen. Trotz dieser enormen Kosten sind rund ein Zehntel der erwachsenen Amerikaner gar nicht und weitere zig Millionen unterversichert. Und die häufigste Ursache von Privatinsolvenzen sind die ­Ausgaben für medizinische Behandlungen.

Angesichts der enormen Ausgaben verbreiten die Politiker und einflussreiche Stimmen die Meinung, dass sich die USA ein öffentliches Gesundheitssystem gar nicht leisten könnten. Eine Übernahme durch den Staat bringe nur steigende Kosten, also höhere Steuern, und eine schlechtere Gesundheitsversorgung. Doch diese Befürchtungen entbehren jeder Grundlage, wie man an praktisch allen entwickelten Ländern mit gesetzlicher Krankenversicherung sehen kann. Allerdings ist das Ausland für die meisten US-Bürger so fern wie der Mars, schließlich besitzen nur 36 Prozent von ihnen einen gültigen Reisepass. Und doch findet die Idee plötzlich breite Resonanz.

Die einheitliche Krankenkasse war in der Debatte über den 2010 verabschiedeten Patient Protection and Affordable Care Act noch kein Thema. Das PPACA-Gesetz, mit dem sich Oba­ma ein innenpolitisches Denkmal setzte, hat den privaten Krankenversicherungsmarkt reformiert, den Versicherungsschutz auf weite Teile (wenn auch nicht alle) der bisher unversicherten Bürger ausgeweitet und das ganze System stabiler verankert.

Die aktuelle Gesetzesinitiative im Kongress zielt nicht auf die Ausweitung, sondern auf die Abschaffung von Obamacare. Nachdem die Repu­bli­kaner die Exekutive und beide Häuser der Legislative kontrollieren, wollen sie steuerliche Entlastungen für die Reichen durchsetzen und dies durch Einsparungen im Gesundheitswesen finanzieren, indem sie den erweiterten Krankenversicherungsschutz zurücknehmen und die Mittel für Medicaid, die staatliche Gesundheitsversorgung für Arme, drastisch kürzen.

Laut dem Congressional Budget Office (CBO), das Kosten-Nutzen-Analysen für geplante Gesetzesvorhaben erstellt, hätte der vom Repräsentantenhaus verabschiedete (aber vom Senat blockierte) Gesetzentwurf über den American Health Care Act 2017 (­AHCA) zur Folge, dass 14 Millionen Bürger ihren Versicherungsschutz sofort verlieren und sich die Zahl der Unversicherten bis 2026 auf 26 Millionen erhöhen würde. Diese Aussicht hat viele Anhänger der Demokraten (und einige der Republikaner) auf die Barrikaden getrieben. In Bürgerversammlungen mit ihren gewählten Abgeordneten attackieren sie lautstark deren Haltung in der Gesundheitspolitik.

Der Protest gegen die drohende Zerstörung von Obamacare geht weit über die Verteidigung des Status quo hinaus und gewinnt mit der Forderung nach „Medicare für alle“ für US-Verhältnisse durchaus radikale Züge. Eine führende Rolle spielen dabei die Gewerkschaften. „Die Einheitskasse ist jetzt zum zentralen Politikum geworden, weil die Leute den baldigen Verlust ihrer Krankenversicherung fürchten – und wir bieten eine Lösung an“, erklärt Rose Ann DeMoro, die an der Spitze der nationalen wie der kalifornischen Krankenpflegergewerkschaften steht. Schon läuft im Repräsentantenhaus eine Gesetzesvorlage über die Gründung einer Einheitskasse um, ohne allerdings die Chance auf eine Mehrheit zu haben.

Auch in zahlreichen Bundesstaaten ist der Enthusiasmus für die von der Linken lange vernachlässigte Idee einer allgemeinen staatlichen Gesundheitsversorgung neu entflammt. Richard Gottfried, Abgeordneter im Unterhaus des Staates New York, hat schon vor Jahren eine entsprechende Gesetzesvorlage eingebracht, nun fand sie plötzlich eine Mehrheit. Solche oder ähnliche Initiativen werden wahrscheinlich mehrere Anläufe brauchen. In Colorado scheiterte im November 2016 eine Volksinitiative zur Einführung einer Einheitskrankenkasse, und in Nevada legte der Gouverneur sein Veto gegen eine Ausweitung von Medicaid ein.

Doch solche Rückschläge spornen offenbar auch an. Ähnliche Initiativen gibt es inzwischen in den Staaten Washington und Oregon und demnächst auch in Illinois. Die Physicians for a National Health Program (Ärzte für ein nationales Gesundheitswesen) haben detaillierte Vorschläge erarbeitet, die in angesehenen Ärztezeitschriften veröffentlicht werden. Sie finden Resonanz bei vielen Ärzten, die es leid sind, ihre Honoraransprüche gegen private Versicherungsgesellschaften einklagen zu müssen.

Eine allgemeine Gesundheitsversorgung soll für Fairness und soziale Gerechtigkeit sorgen. Und entgegen allen Vorurteilen stellt sie die einzige bewährte Methode der Kostenkontrolle dar. Auch schlaue Plutokraten wie die Investmentgurus Warren Buffett und Charles Munger von Berkshire Ha­tha­way befürworten inzwischen ein öffentliches Gesundheitssystem, weil die explodierenden Behandlungskosten die Konkurrenzfähigkeit der US-Unternehmen beeinträchtigen.

Das entscheidende Sparpotenzial liegt bei den Verwaltungskosten der privaten Versicherungen, die keinerlei medizinischen Mehrwert erbringen. Ein Autorenteam von Ärzten, die den Physicians for a National Health Program angehören, beziffern den Einspareffekt auf fast 500 Milliarden Dollar jährlich.2 Die US-Regierung könnte jedoch auch ein mehrgliedriges System wie in Deutschland einführen und die eigene quasimonopolistische Verhandlungsmacht nutzen, da der Staat mit Medicare und Medicaid der weitaus größte Abnehmer der Pharmaindustrie ist. Er könnte also die enorm hohen Preise für Behandlungsverfahren, rezeptpflichtige Medikamente und Medizintechnologie drücken.

Auch eine Revision der Gesetze zum Schutz geistigen Eigentums könnte die Preise senken helfen. So könnte man die Patentlaufzeiten von Medikamenten, die oft das Ergebnis öffentlich finanzierter Forschung sind, stärker begrenzen und damit die Markteinführung kostengünstigerer Generika beschleunigen. Die Profitmargen der großen Pharmakonzerne liegen im Vergleich mit anderen Branchen sehr hoch, was auf Kartellabsprachen zulasten der Patienten schließen lässt.

Der Ökonom Dean Baker hat sogar angeregt, die Entwicklung neuer Arzneimittel aus dem Privatsektor herauszulösen und ein staatlich finanziertes Forschungsinstitut einzurichten, das diese Medikamente zum Selbstkostenpreis verkaufen und damit enorme Kosten einsparen könnte. Entgegen den von Kapitalseite verbreiteten Mythen wurden viele der wichtigen pharmakologischen Durchbrüche des 20. Jahrhunderts, vom Penicillin bis zum Polioimpfstoff, an staatlichen Universitäten oder durch nichtprofitorientierte Forschung erzielt.

Die großen Widerstände, die einer Vergesellschaftung der Medizin in den USA entgegenstehen, sind eher politisch als ökonomisch. Viele gewählte Republikaner denunzieren die Idee einer allgemeinen Krankenversicherung als moralisch verwerflich und kollektivistisch. Der republikanische Abgeordnete Mo Brooks will sogar durchsetzen, dass die neue AHCA von Kranken höhere Beiträge verlangt als von Leuten, „die gesund sind und etwas getan haben, um ihre Körper gesund zu halten“.

Dabei ist keineswegs klar, ob die republikanischen Wähler tatsächlich so hartnäckige und tiefe Vorbehalte gegen eine Vergesellschaftung der Medizin haben. Anfang der 1960er Jahre haben die Republikaner und ein Großteil der Ärzte militant gegen Medicare gekämpft. Damals hatte die American Medical Association das Vorhaben in Rundfunkspots als kommunistisch verteufelt, dennoch wurde das Gesetz 1965 verabschiedet. Heute ist Medicare allgemein anerkannt und politisch unangreifbar. Und weil beide Parteien ihre soziale Basis erweitern wollen, scheint politisch vieles möglich.

Aber zunächst einmal gilt es, genügend Demokraten von der Notwendigkeit einer allgemeinen Gesundheitsversorgung zu überzeugen, was keineswegs leicht ist. Zwar hat sich Bernie Sanders für eine gesetzliche Einheitskasse ausgesprochen, aber seine siegreiche Rivalin Hillary Clinton verurteilte das Vorhaben als „utopisch“ – ein merkwürdiges Attribut für ein System, das in vielen anderen Ländern einwandfrei funktioniert.

Selbst wenn die Demokraten in Washington eine allgemeine Krankenversicherung weiterhin ablehnen, werden die Initiativen in den Bundesstaaten weitergehen. Das zentrale Schlachtfeld ist fürs Erste Kalifornien. Dort hat der Senat ein Gesetz zur „allgemeinen Gesundheitsversorgung“ verabschiedet, das allerdings keinen genauen Finanzierungsplan enthält.

Das Gesetz ist Resultat des ständigen Drängens von Aktivisten. Die Na­tio­nal Nurses Union, die Gewerkschaft des Pflegepersonals, warb vor dem letzten Parteitag der kalifornischen Demokraten mit Sprechchören für die Einheitsversicherung. Nachdem ­Gouverneur Jerry Brown, der sich anfangs dafür ausgesprochen hatte, inzwischen herumeiert, hat Justizminister Xavier Becerra seine Unterstützung zugesagt.

Die Kosten des Projekts werden auf 400 Milliarden Dollar geschätzt, und nur die Hälfte davon kann ohne zusätzliche Einnahmequellen aus dem Etat des Bundesstaats gedeckt werden – so lange, bis die Kosten durch Maßnahmen auf einzelstaatlicher und Bundesebene weiter sinken. Dennoch sind die Befürworter optimistisch. Die Gewerkschafterin DeMoro meint: „Kalifornien ist die sechstgrößte Wirtschaft der Welt, die Einführung einer Einheitskasse wird also einen starken Ausstrahlungseffekt haben. Wir hoffen, dass Kalifornien die USA dazu bringt, für ihre Bürger nach dem Vorbild der übrigen Industrieländern eine solide Gesundheitsversorgung einzuführen.“

Bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Selbst wenn das Projekt zum Gesetz und vom Staat Kalifornien finanziert wird, bestimmt Obamas Af­ford­able Care Act, dass jeder Bundesstaat, der ein öffentlich finanziertes Gesundheitssystem einrichtet, einer Ausnahmegenehmigung der Zentralregierung bedarf. Man kann füglich bezweifeln, ob der ultrakonservative Gesundheitsminister Tom Price – trotz aller konservativen Lippenbekenntnisse zum Föderalismus – im Fall Kalifornien diese Genehmigung erteilen würde.

Kein Mensch erwartet, dass in den USA ein öffentliches Gesundheitssystem auf einen Schlag etabliert wird – und ohne erhebliche Widerstände auf allen Ebenen der Regierung. Und doch ist, was gestern noch als frommer Wunsch erschien, heute zu einem Schlüsselthema der amerikanischen Innenpolitik geworden.

1 Das gilt für die Ausgaben pro Einwohner wie auch in Prozent des BIPs. Dieser ­zweite Wert betrug für die USA 17,2 Prozent, dagegen für Frankreich 11,0, Deutschland 11,3, Groß­britannien 9,7, Kanada 10,3 und für Japan 10,9 ­Prozent (alle Angaben für 2016 nach OECD-­Statistiken (stats.oecd.org/Index.aspx?DataSetCode=SHA).

2 Adam Gaffney, Steffie Woolhandler, Marcia Angell, David U. Himmelstein, „Moving Forward From the Affordable Care Act to a Single-Payer System“, American Journal of Public Health, Juni 2016.

Aus dem Englischen von Robin Cackett

Chase Madar ist Journalist und Autor.

© Le Monde diplomatique, London/Berlin

Le Monde diplomatique vom 13.07.2017, von Chase Madar