Aufstand in Al-Hoceïma
In Marokko fordern junge Demonstranten seit Wochen konkrete Verbesserungen für die Rif-Region
von Aboubakr Jamaï
Seit Monaten rumort es in der Rif-Region im Nordosten Marokkos. Auslöser war der Tod des Fischhändlers Mouhcine Fikre aus Al-Hoceïma am 28. Oktober 2016. Ordnungskräfte hatten ihn der illegalen Fischerei beschuldigt, seine Ware beschlagnahmt und entsorgt. Bei dem verzweifelten Versuch, sich seinen Besitz zurückzuholen, kletterte Fikre auf den Müllwagen, rutschte ab und wurde von der Presse zerquetscht.
Die bemerkenswerte Ausdauer der Demonstranten und das Ausmaß der Proteste stellen die Strategie, die das Königshaus seit dem Arabischen Frühling verfolgt, deutlich infrage. Damals war König Mohammed VI. der „Bewegung 20. Februar“ (nach dem Todestag von fünf jungen Demonstranten in Al-Hoceïma) zum Schein entgegengekommen. Nach dem Verfassungsreferendum, das er im Sommer 2011 anberaumen ließ, wurden dem Ministerpräsidenten (der König ernannte später einen Kandidaten der islamistischen Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung, PJD) mehr Befugnisse eingeräumt und die Berbersprache Tamazight neben Arabisch zur offiziellen Amtssprache erhoben.
Doch um die echten Probleme hat sich das Regime nicht gekümmert: die hohe Jugendarbeitslosigkeit und die berechtigten Forderungen der Demonstranten, die zudem heute wesentlich besser informiert und organisiert sind als vor sechs Jahren. Bislang scheint die Bewegung beim Königshaus und den mit ihm verbündeten Amts- und Würdenträgern – Makhzen genannt – auf taube Ohren zu stoßen. Die Spitzen des Staats sehen nicht ein, was an den bestehenden Institutionen oder der Wirtschaftspolitik der vergangenen zwanzig Jahre auszusetzen sein soll. Für sie besteht das Problem allein auf der Ebene der Verwaltung, die die Politik des Palasts nicht adäquat umsetzt. Dass sich die aktuelle „Hirak“ (Arabisch für „Bewegung“ oder „Beweglichkeit“) im Rif-Gebirge auch gegen die Verfassungsreform von 2011 richten könnte, wird rundweg abgestritten.
Nachdem sich das Regime mehrere Monate in Zurückhaltung geübt hat, greift es nun umso härter durch. Ende Mai wurde der Kopf der Protestbewegung, Nasser Zafzafi, verhaftet. Fast täglich folgen ihm weitere Demonstranten ins Gefängnis. Einige von ihnen wurden bereits zu Haftstrafen von bis zu achtzehn Monaten verurteilt. Nach Aussagen von Freunden und Verwandten wurden manche der Inhaftierten gefoltert, darunter auch Zafzafi.
Die Repression begann sich erst in dem Moment zu verschärfen, als die Bewegung sich landesweit auszuweiten drohte. In mehreren Städten gab es Demonstrationen, die sich mit dem Hirak solidarisch erklärten. Höhepunkt war der in Rabat organisierte Tag der Mobilmachung am 11. Juni, dem sich Zehntausende anschlossen – selbst im Arabischen Frühling waren nicht annähernd so viele Leute in der Hauptstadt auf die Straße gegangen. Gleichzeitig greift der Staat zu seinen bewährten Gegenmaßnahmen und sucht im Einvernehmen mit Lokalpolitikern und Vertretern der Zivilgesellschaft, die dem Regime nahestehen, den Dialog mit den Bewohnern der Rif-Region.
Die Entstehung des Hirak mutet wie eine zwangsläufige Folge der institutionellen Schwächen des marokkanischen Modells an – ein Modell, das sich auf die Monarchie als Zentralgewalt gründet. Über alle Fragen, die die Sicherheit oder die Religion betreffen, entscheidet das Königshaus, das stets „seine“ Parteien fördert und mit politischen Ämtern versorgt.
Parallel versucht das Regime mit gezielten Investitionen die Wirtschaft anzukurbeln – insbesondere mit großen Bauvorhaben. Doch seine Strategie zur Entwicklung der Infrastruktur hat sich als unzureichend und sogar fehlerhaft erwiesen. Selbst internationale Finanzinstitutionen wie die Afrikanische Entwicklungsbank und die Weltbank, die in der Regel selten Kritik üben, bemängeln, dass die Investitionspolitik weder das Wachstum gefördert noch die Produktivität der marokkanischen Wirtschaft gesteigert hat.1
Ein weiterer Grund für das Scheitern der staatlichen Investitionsstrategie ist die schwache Privatwirtschaft und ihr Unvermögen, die neue Infrastruktur auch zu nutzen. Diese Schwäche wurzelt wiederum in einem mangelhaften Bildungswesen, das unfähig ist, Marktteilnehmer auszubilden, die sich in einer modernen Wirtschaft entfalten können. Darüber hinaus ersticken Vetternwirtschaft und ein unzulängliches Rechtswesen selbst die zähesten Bestrebungen innerhalb des Unternehmertums.
Für Straßen, Krankenhäuser und eine Universität
Zudem entsprechen die von den Machthabern initiierten Projekte häufig nicht den Bedürfnissen der Bürger. Al-Hoceïma und Umgebung sind dafür das beste Beispiel. Die Hirak-Aktivisten haben eine Liste mit 21 sehr konkreten Forderungen2 vorgelegt, die eine Entwicklungsstrategie für das Rif-Gebirge umreißen.
Ganz oben auf der Liste stehen eine bessere Anbindung der Region, der Bau von Krankenhäusern und eines Universitätscampus und die allgemeine industrielle Entwicklung. Die Forderungen zeigen nicht nur, woran es alles mangelt. Sie stellen auch die Missstände im System bloß, denn offiziell gibt es natürlich längst einen Plan zur Entwicklung der Region, den die verantwortlichen Lokalpolitiker und Vertreter der betroffenen Ministerien – allen voran das Innenministerium – aufgestellt haben.
Das „Gewerbegebiet“ von Aït Kamra3 , 15 Kilometer von Al-Hoceïma entfernt, ist zum Beispiel so ein Fall. König Mohammed VI. hatte es 2009 mit großem Pomp eingeweiht, nachdem 170 Millionen Dirham (15 Millionen Euro) in das Projekt geflossen waren. Doch auf dem bis heute bebauten Teilgebiet von 27 Hektar hat bislang nur ein Autohändler den Betrieb aufgenommen. Neue Fabriken mit vielen Jobs sucht man vergeblich. Auch andere Vorhaben des ursprünglichen Entwicklungsplans riefen heftige Kritik hervor und wurden daraufhin wieder fallen gelassen. So sollte etwa ein Jachthafen gebaut werden – ein Projekt, das mit den vorrangigen Bedürfnissen der Bewohner vor Ort nicht viel zu tun hat.
Dass ein großer Teil der Bevölkerung im Rif den Hirak unterstützt, lässt zudem Zweifel daran aufkommen, wie repräsentativ die lokalen Abgeordneten eigentlich sind. An den Parlamentswahlen von 2016 haben sich in Al-Hoceïma nur 28 Prozent der Wahlberechtigten beteiligt. Es heißt immer, der Grund seien Apathie oder mangelndes Interesse an Politik. Diese Begründung erscheint jedoch kaum stichhaltig angesichts der Tatsache, dass dieselben Bürger seit sieben Monaten ununterbrochen demonstrieren und einen detaillierten Forderungskatalog ausgearbeitet haben.
Vielmehr steht die Glaubwürdigkeit der Einrichtungen infrage, die aus der Verfassungsreform von 2011 hervorgegangen sind. Denn seitdem ist die Arbeitslosigkeit noch weiter gestiegen. In den Städten haben über 40 Prozent der Jugendlichen keinen Job – dieses Problem war bereits den Demonstranten von 2011 ein Anliegen.
Hinzu kommt die Schattenwirtschaft, auf die Schätzungen zufolge 15 bis 25 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) und zwei Drittel aller städtischen Arbeitsplätze entfallen. Entwicklung und Erfolg einer formellen Wirtschaft sind auf Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung und eine unabhängige Justiz angewiesen – also grundlegende Bestandteile eines demokratischen Systems. Mit Vetternwirtschaft und Raubrittertum, wodurch sich die Eliten eines autoritären Regimes bereichern, sind diese Prinzipien nicht vereinbar. Folglich lässt das Regime lieber die Schattenwirtschaft gedeihen und nutzt sie als Wartestand für die ihrem Schicksal überlassenen Jugendlichen.
Die Forderungen und Slogans der Protestbewegung zielen nicht direkt auf die Monarchie, sie greifen sie nur indirekt an: So thematisieren und relativieren die Demonstranten die offizielle Darstellung, nach der Mohammed VI. eine historische Aussöhnung mit der Rif-Region herbeigeführt habe, die sein Vater Hassan II. während seiner Amtszeit (1961–1999) vernachlässigt und auch gemieden hatte, weil die dortige Bevölkerung dem Palast traditionell distanziert gegenübersteht.4 Die Demonstranten berufen sich explizit auf ihr Berbertum und den historischen Anführer Abdelkrim El Khattabi (1882–1963), der einst eine unabhängige Rif-Republik (1921–1926) ausrief, die von den Spaniern und Franzosen gewaltsam wieder aufgelöst wurde.
Die Hirak-Bewegung zweifelt auch an der behaupteten Beliebtheit der Partei der Authentizität und Modernität (Parti de l’Authenticité et de la Modernité, PAM), die in der Region kaum verwurzelt sei. Die PAM war 2007 vom derzeit zweitwichtigsten Mann im Staat gegründet worden: Fouad Ali El-Himma, königlicher Berater und seit Kindertagen mit Mohammed VI. befreundet. Als politische Gruppierung steht sie der Monarchie am nächsten und sollte als Gegengewicht zur islamistischen PJD dienen.
Gegen Korruption und die Vorrechte des Königs
Bei den Kommunalwahlen vom September 2015 erreichte die PAM in 30 der 36 Verwaltungsbezirke der Provinz Al-Hoceïma die Mehrheit. Es wäre folglich Aufgabe dieser Volksvertreter gewesen, auf die Forderungen der Bewegung einzugehen und die Entwicklung zu lenken. Aber das ist ihnen nicht gelungen, im Gegenteil: Sie wurden selbst zur Zielscheibe des Volkszorns.
Indem die Hirak-Bewegung die Projekte des Palasts kritisiert, spricht sie auch das heikle Thema der mit der marokkanischen Wirtschaft verbandelten Privatinteressen des Königs an. So greifen sie in ihren Sprechchören immer wieder Mohammeds Privatsekretär, Mounir Majidi, als Ausbund von Vetternwirtschaft an. Viele Kleinhändler haben sich ebenfalls der Protestbewegung angeschlossen. Nachdem nämlich vor fünf Jahren in der Nähe des Stadtzentrums von Al-Hoceïma ein Supermarkt eröffnet worden war, der einem königlichen Unternehmen gehört, machten die kleineren Läden deutlich weniger Umsätze.
Auch die religiösen Vorrechte des Könighauses und der diesbezügliche Konsens sind ins Wanken geraten. Als Nasser Zafzafi bei einem Freitagsgebet die Predigt des Imams unterbrach, weil dieser die Protestbewegung verurteilt hatte, überschritt er eine symbolische Grenze. Tatsächlich prangerte Zafzafi die politische Instrumentalisierung an, die durch das königliche Vorrecht auf die Kontrolle religiöser Angelegenheiten entsteht. So werden beispielsweise die Freitagspredigten im Ministerium für religiöse Stiftungen und islamische Angelegenheiten verfasst, das direkt dem König untersteht.
Auf Marokkos wirtschaftliche Missstände hatte schon die Protestbewegung von 2011 reagiert. Doch auf politischer Ebene gibt es einen wichtigen Unterschied: die Rolle der PJD. 2011 überzeugte der PJD-Vorsitzende und spätere Ministerpräsident Abdelilah Benkirane seine Partei davon, die vom König gewünschte Verfassungsreform zu unterstützen. Diese Einigung führte zur Schwächung der damaligen Bewegung, denn auf diese Weise konnten die Machthaber deren Hauptforderung nach einer demokratischen Verfassung umgehen. Gleichzeitig wurde die PJD als Wortführerin der konservativen Wählerschaft gestärkt, die die anderen palastnahen Parteien für korrupt hält und daher wenig geneigt ist, sie zu unterstützen.
Heute ist die Lage anders. Nach den Wahlen im vergangenen Oktober und der Blockade durch den Makhzen musste der PJD-Vorsitzende Abdelilah Benkirane als Ministerpräsident zugunsten eines anderen führenden Mitglieds seiner Partei abdanken: Saad-Eddine El Othmani, der dem Palast gefügiger erschien. Dieser Wechsel fand allerdings nicht die Zustimmung der Parteibasis, die lieber Benkirane im Amt behalten hätte.
Wieder einmal ist es dem Makhzen gelungen, die Opposition zu entwaffnen, indem ihr die Regierungsführung innerhalb des engen Rahmens der königlichen Macht übertragen wurde. Doch die PJD eignet sich nun nicht mehr als Stoßdämpfer und Schutzschild: Die gesellschaftliche Vermittlerrolle der islamistischen Partei ist beschädigt, und sie dürfte daher heute geringeren Einfluss auf die Protestbewegung haben als 2011.
Der Makhzen und seine Eliten müssen mit den Protesten also allein fertigwerden. Dennoch deutet in absehbarer Zukunft nichts auf einen substanziellen demokratischen Wandel hin. Wie schon 2011 sind die politischen Parteien und Bewegungen, die in Marokko für Demokratie eintreten, heute noch unfähig, sich zu einer Einheit zusammenzuschließen.
3 Siehe Ghassan El-Karmouni, „Al-Hoceïma: The day after“, Économie & entreprises, Mai 2017.
Aus dem Französischen von Birgit Bayerlein
Aboubakr Jamaï ist Journalist und Professor am Institut Américain Unversitaire (IAU) in Casablanca.