13.07.2017

Täglich Tomate

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Täglich Tomate

Globaler Einheitsbrei in Dosen

von Jean-Baptiste Malet

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Das Restaurant ist mit ausgestopften Bären und Kobras dekoriert. Beherzt beißt Chris J. Rufer in seinen Hamburger, die Ketchup-Flasche in Reichweite. Hier, in der kalifornischen Kleinstadt Williams im Herzen des Sacramento Valley, gründete Rufer 1970 die Morning Star Company, die heute in drei gigantischen Fabriken 12 Prozent des weltweit konsumierten Tomatenmarks herstellt.

„Ich bin so etwas wie ein Anarchist. Deshalb gibt es in meinem Unternehmen keinen Chef mehr“, erklärt Rufer zwischen zwei Bissen. „Selbstmanagement“ heißt hier allerdings nur, dass die Vorgesetzten inzwischen Computer sind. Eine Kontrolle des Unternehmenskapitals durch die Arbeiter ist nicht vorgesehen. Schließlich unterstützt Rufer die Libertarian Party, für die er im letzten US-Präsidentschaftswahlkampf großzügig gespendet hat.1

1350 Tonnen frische Tomaten werden hier stündlich zu Konzentrat verarbeitet. Das Waschen, Zerkleinern und Verdampfen ist komplett automatisiert. Ständig rollen Sattelschlepper mit jeweils zwei Tomatencontainern auf das Firmengelände. Gearbeitet wird in drei 8-Stunden-Schichten mit jeweils nur 70 Leuten. Die meisten Arbeitskräfte und selbst leitende Angestellten wurden durch Maschinen und Computer ersetzt. Die Verarbeitung des Rohstoffs Tomate bringt verschiedene Qualitäten von Tomatenmark hervor, das in Containerschiffen nach Europa gelangt.

In den riesigen Konservenfabriken von Neapel, die den europäischen Großhandel fast exklusiv mit der Dosenware beliefern, lagert fässerweise Tomatenmark aus Kalifornien, aber auch aus China (siehe Artikel auf Seite 13). Von Skandinavien über Osteuropa bis zu den Britischen Inseln oder die französische Provence wird das Konzentrat in Fertiggerichten wie Ratatouille, Tiefkühlpizza oder Lasagne verarbeitet. Mit Grieß oder Reis vermischt, wird die dunkelrote Paste inzwischen auch in vielen traditionellen Gerichten verwendet, etwa im klassischen westafrikanischen Eintopfgericht Mafé oder in der maghrebinischen Chorba oder in der spanischen Paella.

Tomatenmark ist heute das am weitesten verbreitete Industrieprodukt. Man findet es auf den Tischen der schicken Restaurants von San Francisco wie auf den Marktständen in den ärmsten Dörfern Afrikas, wo es zuweilen, wie etwa im Norden Ghanas, löffelweise für ein paar Eurocent verkauft wird.

Alle Welt verzehrt Industrietomaten. 2016 wurden 38 Milliarden Kilogramm des roten Fruchtgemüses2 verarbeitet oder in Konservendosen abgefüllt. Das entspricht rund einem Viertel der Gesamtproduktion. Im letzten Jahr hat jeder Bewohner der Erde im Durchschnitt 5,2 Kilo verarbeitete Tomaten konsumiert.3

Ob Junkfood oder Mittelmeerküche, Tomaten sind immer dabei.4 Das Nachtschattengewächs kennt keine kulturellen oder ernährungsphysiologischen Grenzen. Es ist überall willkommen. Die einst von Fernand Braudel in seiner Sozialgeschichte des 15. bis 18. Jahrhunderts beschriebenen Weizen-, Reis- und Maiskulturen wurden im ausgehenden 20. Jahrhundert von einer einzigen abgelöst – der Tomatenkultur.

Chris Rufer drückt auf die Heinz-Plastikflasche, um noch einen Schuss ­Ketchup auf seine Pommes Frites zu quetschen. Das satte Geräusch kennen Milliarden Menschen von Kindesbeinen an. Ganz sicher auch Rufer, der mehr als andere über die Zusammensetzung des Produkts und über die bewegte Geschichte der Sauce weiß. Wobei das Tomatenketchup zwar rot ist, aber nicht wirklich nach Tomate schmeckt.

Der Grund: Ketchup enthält je nach Herstellungsrezept nur maximal 30 und minimal 6 Prozent Tomatenmark – bei einem durchschnittlichen Zucker­anteil von 25 Prozent. In den USA wird der Zuckersirup vor allem aus Genmais gewonnen, der billiger als Rohr- oder Rübenzucker ist.

Der Glukose-Fruktose-Sirup, der in vielen industriell hergestellten Nahrungsmitteln verarbeitet wird, ist als ein Hauptverursacher der epidemischen Fettleibigkeit in die Kritik geraten. In den schlechtesten Ketchups stecken große Mengen genmanipulierter Stärke, aber auch Verdickungs- und Geliermitteln wie Xanthangummi (E415) oder Guargummi (E412).

Die Technologie zur Herstellung von Tomatenmark, die heute noch in aller Welt nahezu unverändert zum Einsatz kommt, wurde einst in der Emilia-Romagna erfunden. Als Ende des 19. Jahrhunderts Millionen Italiener emigrierten, brachten sie auch die kulinarische Verwendung verarbeiteter Tomaten mit. Die Auswanderungswelle kurbelte den Export italienischer Tomaten nach Argentinien, Brasilien und in die USA an.

Im italienischen Faschismus (1922–1943) wurde die Konservendose dann zum Symbol einer vom Futurismus inspirierten Kulturrevolution, die das urbane Leben, die Maschinisierung des Alltags und den Krieg verherrlichte. Das Tomatenmark aus der Dose als Nahrungsmittel des „neuen Menschen“ schlug für die Faschisten eine Brücke zwischen den Ingenieurswissenschaften, der Industrieproduktion und dem Patriotismus, weil in ihm konserviert wurde, was die Böden Italiens hervorgebracht hatten.

1940 fand in Parma die erste „Autarke Ausstellung von Konservendosen und -verpackungen“ statt. Auf dem Deckblatt des Ausstellungskatalogs prangte eine Konservendose, auf dem das Wort „AUTARCHIA“ eingeprägt war. Autarkie in der Landwirtschaft – das war das Ziel, und so setzte das Regime vor allem auf die Weiterentwicklung und Rationalisierung der Tomatenindustrie.

„Zwei globalisierte Fast-Food-Nahrungsmittel enthalten heutzutage Tomaten: Nudelgerichte und Pizzen“, erläutert Alberto Capatti, der eine Kulturgeschichte der italienische Küche geschrieben hat. „Dies ist auch das Erbe einer Industrie, die vom faschistischen Regime strukturiert, entwickelt, gefördert und finanziert wurde.“5

Die Tomatensuppendose von Camp­bell, die Andy Warhol in seinem berühmten Pop-Art-Siebdruck Anfang der 1960er Jahre zur Ikone verewigt hat, und die rote, achteckige Ketchup-Flasche von Heinz wurden schon im 19. Jahrhundert entworfen. Von der Heinz-Flasche werden inzwischen jährlich weltweit 650 Millionen Stück verkauft. Beide Behältnisse von Tomatenprodukten gelten heute, wie die 1916 gestaltete Coca-Cola-Flasche, als Symbole des Konsumkapitalismus.

Noch bevor Henry Ford 1913 sein erstes Automodell (Tin Lizzie) am Fließband herstellen ließ, produzierten die Heinz-Fabriken in Pittsburgh (Pennsylvania) schon automatisch gefertigte Dosen mit Bohnen in Tomatensauce. Auf Fotografien aus dem Jahr 1904 sieht man Arbeiterinnen in Heinz-Uniformen am Fließband stehen. Ein Jahr später verkaufte das Unternehmen bereits eine Million Ketchup-Flaschen. 1910 produzierte das Unternehmen 40 Millionen Konservendosen und 20 Millionen Glasflaschen. Damals war Heinz der größte multinationale US-Konzern.6

In den 1980er Jahren trat die Tomatenverarbeitung in eine neue Phase ein. Die Erfindung aseptischer Verpackungen, deren spezielle Behandlung die Entwicklung von Mikroorganismen verhindert, machte nun den interkontinentalen Handel mit Lebensmitteln möglich. Die großen Nahrungsmittelkonzerne wie Heinz oder Unilever gingen zunehmend dazu über, Subunternehmer mit der Tomatenverarbeitung zu betrauen.

Seitdem decken sich die Ketchup-, Suppen- und Pizza-Multis direkt bei Lieferanten ein, die riesige Mengen von industriellem Tomatenmark zu Billigpreisen anbieten. In Kalifornien, China und Italien verarbeitet eine Handvoll Megakonzerne die Hälfte aller weltweit produzierten Industrietomaten. Die Niederlande sind heute dank der gigantischen Heinz-Fabrik in Elst der größte Ketchup- und Saucen-Exporteur Europas, aber im Lande selbst werden keine Industrietomaten mehr produziert.

„Das gesamte Tomatenmark in den Saucen, die aus Holland oder Deutschland exportiert werden, stammt von Importen aus verschiedenen Regionen der Welt“, berichtet Juan José Amézaga, ein Händler aus Uruguay. „Die Lieferanten können Unternehmen in Kali­for­nien, Europa oder China sein. Das ändert sich je nach Jahreszeit, Wechselkurs, Lagerbeständen und Ernteerträgen.“

Obwohl Kalifornien weltweit das meiste Tomatenmark produziert, sind in dem US-Bundesstaat nur zwölf Verarbeitungsbetriebe ansässig, die aber allesamt riesig sind. Sie beliefern praktisch den gesamten nordamerikanischen Markt, exportieren aber auch nach Europa, wo ihre Produkte mitunter billiger verkauft werden als italienisches oder spanisches Tomatenmark.

Anders als die für den Frischmarkt bestimmten Tomaten müssen die als „Industrietomaten“ bezeichneten Busch­to­ma­ten­sor­ten nicht abgestützt werden. Sie werden ausschließlich auf dem freien Feld angebaut, wo sie unter dem reichlich vorhandenen und kostenlosen Sonnenlicht reifen (was sie von den Gewächshaustomaten unterscheidet, die das ganze Jahr über den Markt versorgen). In Kalifornien beginnt die Ernte teilweise schon im Frühling und endet wie in der Provence im Herbst.

Seit den 1960er Jahren werden Tomaten in der Agrarindustrie genetisch „verbessert“, um ihre Weiterverarbeitung zu erleichtern. Zum Beispiel ist es durch Einschleusung eines Gens gelungen, die manuelle Tomatenernte zu beschleunigen und maschinelle Erntemethoden zu ermöglichen. Die hybriden Industrietomaten lassen sich wesentlich leichter vom Stiel lösen als Ess­tomaten. Tomatenmark ist überhaupt das erste genetisch veränderte Nahrungsmittel, das in Europa vermarktet wurde.7

Dank ihrer dicken Haut kann die Industrietomate die Erschütterungen des Lkw-Transports und auch das Rütteln der Fördermaschinen überstehen. Selbst die Tomaten am Boden eines Förderkorbs, auf denen große Mengen anderer Tomaten lasten, zerplatzen in der Regel nicht. Die großen Saatguthersteller haben alles darangesetzt, den Wassergehalt der Industrietomate so niedrig wie möglich zu halten. Damit unterscheidet sie sich von den Speisetomaten im Supermarkt, die sich wegen ihrer wässrigen Beschaffenheit nicht für die Produktion von Tomatenmark eignen.

Ökologisch gesehen weist die Tomatenproduktion eine höchst bedenkliche Eigenheit auf, nämlich einen unendlichen und höchst absurden Wasserkreislauf: In trockenen Regionen wie Kalifornien, wo der Gouverneur vor drei Jahren sogar den Dürre-Notstand ausrufen musste, werden die Tomatenfelder massiv bewässert. Aber kaum in den Fabriken angekommen, wird der hohe Wassergehalt mittels Eindampfen drastisch reduziert, um eine Paste zu gewinnen, die sich durch ihre Trockenmasse auszeichnet.

1 Rufer spendete Gary Johnson, dem Kandidaten der Libertarian Party, 1 Million Dollar für seine Kampagne. Johnson landete mit 4,4 Millionen Wählerstimmen (3,29 Prozent der abgegebenen Stimmen) auf Platz 3.

2 Aus botanischer Sicht ist die Tomate eine Frucht, am Zoll gilt sie als Gemüse.

3 Tomato News, Suresnes, Dezember 2016.

4 Siehe Pierre Daum, „Für eine Handvoll Tomaten. In der Wüste von Almería, einst Filmkulisse für Spaghetti-Western, wächst Discount-Gemüse für Europa“, Le Monde diplomatique, März 2010.

5 Alberto Capatti und Massimo Montanari, „La cucina italiana. Storia di una cultura“, Rom/Bari (Economica Laterza) 2005.

6 Siehe Quentin R. Skrabec, „H. J. Heinz: A Biography“, Jefferson (McFarland & Company) 2009.

7 In Großbritannien vermarktete die Supermarktkette Sainsbury’s zwischen Februar 1996 und Juli 1999 billiges Tomatenmark aus genmanipulierten Früchten. Die aggressive Werbekampagne wurde nur in der Hochphase der BSE-Krise unterbrochen.

Aus dem Französischen von Markus Greiß

Jean-Baptiste Malet ist Journalist und Autor von „L’Empire de l’or rouge. Enquête mondiale sur la tomate d’industrie“, Paris (Fayard) 2017.

Le Monde diplomatique vom 13.07.2017, von Jean-Baptiste Malet