Ein Ufo namens Airbus
Warum eine gemeinsame Industriepolitik der Europäischen Union nie zustande kam
von Jean-Michel Quatrepoint
Die Industriepolitik der EU ist wie ein Ufo: Es wird viel darüber gesprochen, man vermutet, dass es sie wirklich gibt, aber niemand weiß, wie sie genau aussieht. Wer an ihre Existenz glaubt, macht sie an einem Begriff fest: Airbus. Die Skeptiker dagegen verweisen auf etliche Industrieruinen, die diese Politik hinterlassen hat.
Zusammen mit Arianespace erscheint Airbus tatsächlich wie das Wahrzeichen einer erfolgreichen industriellen Kooperation von EU-Ländern. Allein der Name wirkt magisch. Als das italienische Unternehmen Fincantieri 2006 ankündigte, es wolle die Anteile der bankrotten koreanischen STX an den Werften in Saint-Nazaire übernehmen, erklärte es das Projekt zum „Airbus der Schiffbauer“. Im Frühjahr 2014 schlug Siemens der französischen Regierung ein „Airbus der Energie und ein Airbus der Eisenbahnen“ vor, um zu verhindern, dass General Electric (GE) die Energiesparte von Alstom kaufte.
In Wahrheit ist der Erfolg von Airbus jedoch eine Ausnahme. Sogar die Leute, die für die Geschicke des Projekts verantwortlich waren, glauben nicht, dass es etwas Ähnliches noch einmal geben wird.
Die Gründe dafür sind in der Vergangenheit zu suchen: Paradoxerweise hat sich die Idee des gemeinsamen Marktes 1951 zuerst im Bereich der Industrie materialisiert, als Frankreich, Deutschland, Belgien, die Niederlande, Luxemburg und Italien die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) gründeten. Die EGKS, eine Vorstufe der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), besiegelte die Aussöhnung zwischen Frankreich und der Bundesrepublik Deutschland, indem sie ihre Ressourcen an Kohle und Stahl zusammenführte.
Die EGKS sollte auch dem „Malthusianismus“ des französischen Kapitalismus ein Ende machen, der sich ganz auf das eigene Land und seine Kolonien konzentrierte. Frankreich sollte also auf das angelsächsische Modell verpflichtet werden, das auf Freihandel und konkurrenzfähigen Unternehmen beruht. Von der Einhaltung dieser Prinzipien wurde auch die Marshallplan-Hilfe abhängig gemacht.
1957 entstand ganz im Geist der EGKS die Europäische Atomgemeinschaft (Euratom). Sie sollte die Kosten der Forschungen im Bereich der Atomenergie auf mehrere Schultern verteilen. Aber mit dieser Pioniertat war die institutionalisierte industrielle Kooperation dann auch schon zu Ende. Die Römischen Verträge vom 25. März 1957, mit denen die EWG begründet wurde, sollten vor allem einen Binnenmarkt schaffen. Die Zollunion bedeutete die „Beseitigung der Hindernisse für den freien Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr zwischen den Mitgliedstaaten“. In der Folge entwickelten sich die wenigen Fälle von zwischenstaatlicher Industriekooperation unabhängig von den Institutionen in Brüssel. Letztere beschränkten sich darauf, den Gang der Dinge aus der Ferne zu beobachten.
General de Gaulle, der 1958 französischer Staatspräsident wurde, misstraute der Idee einer europäischen Einigung. Den gemeinsamen Markt akzeptierte de Gaulle nur, weil er in ihm ein Instrument sah, um die Strukturen des französischen Kapitalismus zu modernisieren. Zudem wollte er, dass auf EWG-Ebene neue Großunternehmen entstehen, um die industrielle Unabhängigkeit von den Vereinigten Staaten zu stärken. Einen eigenen Kurs verfolgte Frankreich im Bereich Atomenergie mit der Entwicklung seiner UNGG-Reaktoren. Auf dem Gebiet der Informatik gründete die französische Regierung 1966 – nachdem der französische Computerherstellers Bull vom US-Unternehmen General Electric aufgekauft worden war – im Rahmen des „Plan Calcul“ die Compagnie internationale pour l’informatique (CII).
Auf der anderen Seite des Rheins setzte die Bundesrepublik auf nationale Leuchttürme. Nach 1945 sind die großen deutschen Industriekonzerne wieder erstanden: Siemens, Thyssen, Daimler, BMW, Volkswagen, dazu Unternehmen wie Agfa, BASF, Hoechst und Bayer als Nachfolger des zerschlagenen IG-Farben-Konzerns, der das Zyklon B für die Vernichtungslager produziert hatte. Sie alle gewannen unter Obhut der Bundesrepublik ihre alte Stärke zurück. Nur im Bereich Luftfahrt und Rüstung musste die junge Bundesrepublik ihren Ehrgeiz zügeln, weil sie noch dem Besatzungsstatut unterlag.
Im Herbst 1966 starteten Frankreich, Großbritannien und Deutschland ein gemeinsames Projekt für ein Großraumflugzeug, das der Boeing 747 Konkurrenz machen sollte. Aber das Projekt kam nicht von der Stelle, weil die Hersteller und die Unternehmen sich nicht über die Spezifikationen der Modelle einigen konnten. Parallel dazu betrieb die französische Sud Aviation die Entwicklung eines Mittelstreckenflugzeugs, des Airbus A300.
Im Sommer 1968 sprach Bernard Ziegler, der Chef von Sud Aviation, bei Bernard Esambert vor, der unter Ministerpräsident Georges Pompidou für Industriepolitik zuständig war. Ziegler brachte ein Modell des A300 mit und erklärte, dieses Flugzeug werde „die Luftfahrt revolutionieren“. Doch das Projekt war sehr kostspielig. Der Staat sollte die Finanzierung durch die Zusage sichern, dass er sein Geld nur im Erfolgsfall zurückbekommen würde.
1970 gab Pompidou, inzwischen Präsident, dem Projekt eine europäische Dimension. Der Staatschef glaubte, „dass man die Flugzeugindustrien der europäischen Länder zusammenführen musste, wenn man den europäischen Gesellschaften Flugzeuge verkaufen wollte“.1 Auch die Briten sollten mitmachen und als Gegenleistung die Tragflächen entwerfen. Aber die zogen es vor, die Teile gegen Bezahlung zu liefern.
Bei den Motoren war die Rivalität zwischen Franzosen und Briten so groß, dass die Flugzeugbauer sich anderswo umsehen mussten. So kam eine Vereinbarung zwischen der Société nationale d’étude et de construction de moteurs d’aviation (Snecma) und General Electric zustande. Das französisch-amerikanische Gemeinschaftsunternehmen CFM International wurde ein großer Erfolg. Es produzierte nicht nur die Triebwerke für die Airbus-Modelle, sondern konnte später sogar als Zulieferer von Boeing den US-Markt erobern.
Bei Airbus und Arianespace dominierten die Franzosen: 70 Prozent der Technologie und des Know-how kamen aus Frankreich, Franzosen hatten die leitenden Positionen inne. Über eine komplexe juristische Struktur war Aérospatiale, entstanden aus der Fusion von Sud Aviation und Nord Aviation, mit zwei Partnern verbunden: der Deutschen Aerospace Aktiengesellschaft (Dasa), die unter anderem die Unternehmen Messerschmitt und Dornier absorbiert hatte, sowie der spanischen Construcciones Aeronáuticas Sociedad Anónima (Casa).
Da die Deutschen über die Airbus-Kooperation auf diskrete Weise eine ihrer traditionellen Kernindustrien zurückzuerobern konnten, machten sie bei der Finanzierung des Airbus bereitwillig mit. Aérospatiale und Dasa brachten jeweils 37,5 Prozent des Kapitals ein, British Aerospace (BAE) 20 Prozent und Casa 5 Prozent.
Was die Briten betrifft, so schwankten sie bei ihren Rüstungsprojekten zwischen einer rein nationalen, an die USA angelehnten Strategie, einer europäischen Allianz und einem – gegen Paris gerichteten – Zusammengehen mit Deutschland. Dann aber gründeten Franzosen, Deutsche und Spanier im Jahr 2000 die European Aeronautic Defence and Space Company (EADS), eine Holding, die Airbus und Astrium kontrollierte. 2006 verkaufte die BAE ihren Anteil an Airbus und schied damit bei EADS aus.
Während die Zusammenarbeit bei Airbus und Arianespace funktionierte, führte sie im Bereich Informatik zu einem Fiasko. Die Idee eines europäischen Informatikleuchtturms entstand 1966 mit dem Plan Calcul und der Gründung der CII in Frankreich. Zunächst trug Paris dem niederländischen Unternehmen Philips ein Bündnis an, dann dem britischen Computerhersteller ICL; 1971 begannen auch noch Verhandlungen mit Siemens.
Am 1. Februar 1972 unterzeichneten Philips, CII und Siemens einen Vertrag. An der neuen Gesellschaft namens Unidata hielten CII und Siemens einen Anteil von je 42,5 Prozent und Philips von 15 Prozent. Unidata sollte auf dem EU-Markt und auf Drittmärkten IBM-kompatible Rechner anbieten und damit IBM direkt Konkurrenz machen. Doch die Flitterwochen waren kurz. Unidata hatte viele Feinde: neben IBM auch Honeywell Bull,2 dazu die beiden Hauptteilhaber an CII, die völlig andere Interessen hatten.3
Konkurrenz statt Synergie
Das Scheitern von Unidata hatte für die industrielle Struktur in Europa gravierende Folgen. Siemens und und die französische Compagnie générale d’électricité (CGE) dominierten auf dem Energiesektor, beim Eisenbahnverkehr, in der Medizintechnik, in der Telekommunikation und der Informatik. In all diesen Bereichen hätten die EU-Länder den USA ihre eigenen Leuchttürme entgegensetzen können, wie sie es mit Airbus getan hatten.
Zwar war Siemens in den 1980er Jahren an der Entwicklung eines Atomkraftwerks der dritten Generation (dem europäischen Druckwasserreaktor, EPR) beteiligt. Aber der erste EPR, den das Konsortium Siemens-Areva in Finnland baute, war ein finanzielles und technologisches Desaster. 2009 kündigte Siemens seinen Ausstieg bei Areva an.
Die Animosität zwischen beiden Ländern war bereits 2001 offenbar geworden, als Siemens nach intensiver Lobbyarbeit bei der EU-Kommission die Fusion der beiden französischen Elektrokonzerne Schneider und Legrand verhindern konnte. Hingegen schaffte es Siemens nicht, die Rettung von Alstom durch die französische Regierung 2003 zu durchkreuzen.
Nutznießer der deutsch-französischen Rivalität waren jedes Mal die USA. In den 1980er Jahren verkaufte der französische Staatskonzern Thomson seine gesamte Medizinsparte an GE, das 2014 auch das Energiegeschäft von Alstom übernahm. Das US-Unternehmen versprach wie immer, Arbeitsplätze und Werke zu erhalten, die bei Fusionen von europäischen Unternehmen automatisch verloren gingen.
Es gibt noch einen weiteren – ideologischen – Faktor, der die industrielle Kooperation in Europa immer wieder scheitern ließ. In den 1980er Jahren begann eine neue wirtschaftspolitische Ära, die im Zeichen von Margaret Thatcher und Ronald Reagan stand: Freihandel, uneingeschränkte Konkurrenz, Privatisierungen und Deregulierung waren die Schlagworte. Damals tat sich zwischen Frankreich und Deutschland eine Kluft auf, die sich auch in den unterschiedlichen Vorstellungen von Europa zeigte: Der Idee eines starken Europas stand der eines nach allen Seiten offenen Europas gegenüber.
Die Industriepolitik veranschaulicht diesen Gegensatz: Die Franzosen wollten auf EU-Ebene das Modell reproduzieren, das sie zwischen 1945 und 1975 erfolgreich praktiziert hatten: nationale Leuchttürme in den großen, strategisch wichtigen Sektoren, finanziert mit staatlichem oder privatem Kapital und gestützt auf große Projekte in Regie des Staats. Frankreich hatte sich dank dieser dirigistischen, strikt zielgerichteten Politik nach 1945 sehr schnell wieder erholt.
Die deutsche Geschichte hat eine andere Industriepolitik begünstigt. Die großen deutschen Konzerne, deren Aufstieg sich in der Bismarck-Ära vollzog, mussten, da Deutschland nur wenige Kolonien hatte, auf den Export setzen. Aus dieser Zeit stammen die merkantilistische Betonung des Außenhandels und das Streben nach herausragender Qualität, die auch heute noch kennzeichnend sind. Aus deutscher Sicht hat der Staat nicht die Aufgabe, die Felder der Investitionen zu bestimmen, vielmehr soll er den Konzernen bestmögliche Bedingungen bieten, damit sie den nationalen Wohlstand mehren können.
Die so geförderten Großkonzerne waren auch Adolf Hitler zu Diensten. Doch nach 1945 unterstützten die Amerikaner ihre schnelle Rückkehr an die Schalthebel der Unternehmen, deren Fabrikanlagen im Krieg weniger Schäden erlitten hatten als private Gebäude. Aus Sicht Washingtons sollte sich Westdeutschland rasch erholen, weil es als Bollwerk gegen die sowjetische Gefahr gebraucht wurde.
Die Bundesrepublik knüpfte an die Grundsätze von Bismarcks Politik und des Ordoliberalismus an.4 Die Banken finanzierten die Unternehmen und stabilisierten den Aktienbesitz. Im Grunde waren sie vor allem für die vielen mittelgroßen Unternehmen da, die erfolgreich industrielle Nischen besetzten. Weil die Militärausgaben auf ein Minimum reduziert waren, stand ein Großteil der finanziellen Mittel den traditionellen Branchen zur Verfügung. In Frankreich dagegen flossen die öffentlichen Ausgaben großenteils in die Verteidigung, weil das Land in Indochina und Algerien Kriege führte und seine Atomstreitmacht aufbaute.
Gleichzeitig standen beide Länder für unterschiedliche industriepolitische Strategien. Deutschland konzentrierte sich auf die Technologien der zweiten industriellen Revolution, Frankreich auf die der dritten: Elektronik, Informatik und neuerdings Digitalwirtschaft.
In einer ständig größer werdenden EU wurden die französischen Vorstellungen in dem Maße marginalisiert, in dem sich die neoliberale Ideologie ausbreitete und die Briten in der Europäischen Kommission an Einfluss gewannen. Ende der 1980er Jahre war die Niederlage besiegelt. Dabei hatte François Mitterrand seit 1981 versucht, den EU-Partnern klarzumachen, dass sie auf den Technologiefeldern der dritten industriellen Revolution – von der Robotertechnik über die Unterhaltungselektronik, bei der damals die Japaner dominierten, bis zur Telekommunikation – eine aktive Industriepolitik betreiben sollten.
Aus Paris kam damals der Vorschlag, spezielle EU-Behörden einzurichten, bei der Vergabe öffentlicher Aufträge das Prinzip der Gemeinschaftspräferenz durchzuhalten und große Infrastrukturprojekte gemeinsam anzupacken. In der Brüsseler Kommission waren die Reaktionen geteilt. Die Generaldirektion Industrie favorisierte die französische Position, die Generaldirektion Wettbewerb, in der deutsche und britische Beamte dominierten, war entschieden dagegen.
Das Resultat war, dass die entsprechenden Pläne in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre auf ein Minimum eingedampft wurden. Europa förderte die vorgelagerte Forschung, aber die gemeinsamen Industrieprojekte gerieten in Vergessenheit. Im Lauf der Jahre gewannen die Neoliberalen an Einfluss – zulasten der großen französischen Ideen. Auf Initiative des damaligen Kommissionspräsidenten Jacques Delors wurde 1986 die Einheitliche Europäische Akte (Vertrag von Luxemburg) verabschiedet, die als Hauptziel definierte: mittels Deregulierung und Privatisierungen „den Binnenmarkt zu verwirklichen“.
1988 trat die Richtlinie über den freien Kapitalverkehr in Kraft. In der Folge fügte sich auch Frankreich schrittweise in die neue wirtschaftliche Weltordnung im Zeichen des Washingtoner Konsenses.5 Auch in Paris gewann das Finanzministerium, das dem neoliberalen Kurs folgte, die Oberhand gegenüber den Industriepolitikern.
1991 versuchte Édith Cresson, kurzzeitig französische Ministerpräsidentin, das Ruder noch einmal herumzureißen. Sie regte eine gemeinsame europäische Industriepolitik und eine „Elektronikgemeinschaft“ an – ohne Erfolg. Der deutsche Kommissar für Außenhandel und Industriepolitik, Martin Bangemann, formulierte das Credo, die EU müsse die geeigneten Bedingungen schaffen, „um die optimale Allokation von Ressourcen durch die Kräfte des Markts zu unterstützen“.6 Damit war die Sache entschieden.
Aus der Sicht von Louis Gallois, von 2006 bis 2012 Chef von EADS, sind Frankreich und Deutschland zusammen dafür verantwortlich, dass eine gemeinsame europäische Industriepolitik nicht zustande kam: „Die Deutschen wollten sie nicht, weil sie ihrer ordoliberalen Philosophie zuwiderläuft und weil sie sie nicht brauchten. Aber die Franzosen haben sie nicht nachdrücklich genug gefordert.“
Gallois kritisiert aber auch, dass sich die Kommissionspräsidenten und speziell José Manuel Barroso kaum dafür interessierten. In Brüssel gingen die Aufgaben der Direktion Wettbewerb schrittweise auf die Direktion Justiz über, die nur ein Ziel im Auge hat: ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs wegen Verstoßes gegen das Wettbewerbsrecht zu verhindern. Deshalb wäre, sagt Gallois, „ein Projekt wie Airbus heute nicht mehr möglich“.
Französisches Modell auf dem Rückzug
Am Automobilsektor lässt sich exemplarisch zeigen, welche Hindernisse einer möglichen Kooperation entgegenstehen. Die drei großen deutschen Automobilbauer – Volkswagen, Daimler und BMW – sind zugleich Konkurrenten und Partner: Konkurrenten, weil sie auf denselben Märkten Autos verkaufen; Partner, weil sie dennoch gemeinsam Komponenten einkaufen. Zum Beispiel das Navigationssystem von Nokia, mit dem sie ihre Fahrzeuge ausrüsten. In Frankreich hingegen würden Renault und Peugeot niemals kooperieren.
Nachdem „Industriepolitik“ in den 1990er Jahren aus dem Wortschatz der Kommission verschwunden war, tauchte es im März 2000 in der „Lissabon-Strategie“ wieder auf. Dort wurde das Ziel formuliert, die Europäische Union „zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt“ zu machen. Die EU wollte damit „ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum mit mehr und besseren Arbeitsplätzen und einem größeren sozialen Zusammenhalt erzielen“. Doch von diesem Programm sind nur hohle Formeln und fromme Wünsche geblieben. Ab und zu wird eine „digitale Agenda für Europa“ beschworen oder eine „Industriepolitik im Zeitalter der Globalisierung“, doch konkret passiert nicht viel. Die Denkweise hat sich nicht geändert; die „Lissabon-Strategie“ ist gescheitert.
Der Einfluss Frankreichs in den Dienststellen der Kommission und des Europäischen Parlaments ist nach und nach geschwunden. Der Pariser Staatsapparat hat sich den Regeln der Gemeinschaft unterworfen. Die Eliten glauben nicht mehr an einen industriepolitischen Patriotismus, und ein europäischer Patriotismus liegt jenseits ihrer Vorstellungen.
Für die großen französischen Konzerne ist Europa nur ein Markt neben anderen. Manche lassen sich von meistbietenden Käufern schlucken oder auch von angelsächsischen Investmentfonds kontrollieren.7 Die französische Industrie wird zwischen der angelsächsischen ökonomischen Lehre und dem deutschen Ordoliberalismus zerdrückt, und mit ihr werden Millionen Arbeitsplätze vernichtet.
Die neuen Kräfteverhältnisse sind bei der Airbus Group (inzwischen EADS) zu besichtigen. Die Franzosen haben an Einfluss verloren. Hochrangige Manager klagen, der neue Airbus-Chef, der Deutsche Tom Enders, werde „immer amerikanischer“. 2016 bestellte er Paul Eremenko zum Vorstand für Forschung und Technik, einen US-Amerikaner aus der Defense Advances Research Projects Agency (Darpa), die vor allem für die Forschungsprojekte des Pentagon verantwortlich ist. Das ist so, als würde Boeing einen ehemaligen Chef der Beschaffungsbehörde des französischen Verteidigungsministeriums einstellen. Die Airbus Group produziert immerhin die Raketen für die französische Atomstreitmacht.
Bei Arianespace sieht es nicht anders aus. Bei den Aufträgen, europäische Satelliten ins All zu schießen, konkurrieren die Trägerraketen des Unternehmens mit russischen und US-Anbietern. Letztere erhalten staatliche Subventionen und können deshalb günstigere Preise anbieten. Deutschland hat sich bei der zweiten Generation seiner militärischen Aufklärungssatelliten (SARah 1, 2, 3) für die US-Rakete Space X entschieden.8
Großkonzerne wie neue Staaten
Immerhin hat die EU mit dem Programm Galileo ein Satellitensystem zustande gebracht, das mit dem US-amerikanischen GPS konkurrieren soll. Aber der Abschluss des Projekts im Dezember 2016 erfolgte mit sechs Jahren Verspätung und zu verdoppelten Kosten; und nach etlichen Krisen zwischen den beteiligten Ländern, von denen sich einige dem amerikanischen Druck nicht ganz entziehen konnten.
Auch im Rüstungsbereich sind Kooperationsprojekte – wie das eines deutsch-französischen Panzers – oftmals gescheitert. Bei Kampfflugzeugen unternahm Frankreich mit seiner Rafale einen Alleingang, während Deutsche und Briten gemeinsam den Eurofighter produzierten. Beide Flugzeuge konkurrieren auf den Exportmärkten. Einige EU-Länder (Großbritannien, Italien, Niederlande) wollen von den USA die F-35 kaufen.
Am folgenreichsten ist freilich das Scheitern im digitalen Bereich. Sämtliche Pläne, europäische Modellprojekte aufzubauen, werden seit 30 Jahren in Brüssel systematisch blockiert – mit stillschweigender Billigung der meisten EU-Staaten. Wozu brauchen wir europäische Entwicklungen, wo es doch die Gafam gibt? Aber Google, Apple, Facebook, Amazon und Microsoft, die sich unsere Daten aneignen, entziehen sich jeder Kontrolle. Deshalb werden die Chinesen und die Russen, im Gegensatz zur EU, in diesen Bereichen selbst initiativ.
Immerhin scheint allmählich in Brüssel ein Bewusstsein dafür zu entstehen, welche Gefahren damit verbunden sind. Deshalb hat die EU-Kommission im Juli 2016 gegen Google eine Rekordstrafe wegen Wettbewerbsverstößen verhängt. Das US-Unternehmen mit Sitz in Irland profitiert von den dort gebotenen Steuervorteilen. Die Schelte aus Brüssel war jedoch nur ein erster Schritt, über den sich außerdem Irland sehr beschwert hat.
Die Versuchung, sich den US-Giganten zu unterwerfen, ist nach wie vor groß. Ende Januar 2017 kündigte der dänische Außenminister Anders Samuelsen an, sein Land werde „Botschafter“ bei den Gafam ernennen: „Diese Unternehmen sind zu neuen Staaten geworden. In Zukunft werden unsere Beziehungen zu Google genauso wichtig sein wie heute unsere Beziehungen zu Griechenland.“9 Damit orientiert sich Dänemark an der Haltung Irlands, das sich mehr denn je als „Flugzeugträger“ für die US-amerikanischen Multis versteht. Wenn das Schule macht, ist der Kern des europäischen Projekts gefährdet.
2 Der amerikanische Honeywell-Konzern übernahm 1970 die Anteile von General Electric an Bull.
5 Siehe Moisés Naim, „Zwangsrezepte für die armen Länder“, Le Monde diplomatique, April 2000.
9 Politiken (Kopenhagen), 26. Januar 2017.
Aus dem Französischen von Ursel Schäfer
Jean-Michel Quatrepoint ist Journalist und Autor von „Alstom, scandale d’État“, Paris (Fayard) 2015.