08.06.2017

Sechs Tage und kein Ende

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Sechs Tage und kein Ende

Eine kurze Geschichte des palästinensischen Widerstands

von Alain Gresh

Gaza, 6. Juni 1967 ap
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Ende April 2017 gründeten einige republikanische Mitglieder des US-Kongresses eine Gruppe (caucus), der sie den Namen „Israel Victory“ gaben.1 „Wir glauben, dass Israel den Krieg gewinnt und dass dieser Umstand anerkannt werden muss, wenn wir Frieden zwischen Israel und seinen Nachbarn erreichen wollen“, verkündeten die Abgeordneten. Israel müsse „dem Feind seinen Willen aufzwingen“, erklärte der Historiker Daniel Pipes, ein Mitglied der Gruppe.

Unmittelbar darauf traten in Israel mehrere hundert palästinensische politische Häftlinge in den Hungerstreik. Sie folgten einem Aufruf ihres prominentesten Mitgefangenen: Marwan Barghuthi, der 2009 in Abwesenheit ins Zentralkomitee der Fatah gewählt wurde, sitzt seit 15 Jahren im Gefängnis. Die Antwort der Palästinenser auf „Israel Victory“ hätte kaum deutlicher sein können. Sie sollte der ganzen Welt vor allem eines klarmachen: Unser Widerstand geht weiter, und wer darauf hofft, dass wir uns eines Tages in Luft auflösen, hat sich mal wieder getäuscht.

Historisch ist die Initiative der US-amerikanischen Kongressabgeordneten kein Einzelfall. Seit Jahrzehnten spekulieren Israel und seine Verbündeten darüber, wann die Palästinenser endlich aufgeben: „Die Flüchtlinge werden ihren Platz in der Diaspora finden. Die natürliche Auslese wird dafür sorgen, dass manche sich durchsetzen, andere nicht. Der Großteil wird sich zu einem Abschaum der Menschheit entwickeln und mit den ärmsten Schichten in der arabischen Welt verschmelzen“,2 schwadronierte etwa Mosche Scharet, zionistischer Gewerkschaftsfunktionär und Israels zukünftiger Ministerpräsident, kurz nach dem ersten arabisch-israelischen Krieg (1948/49) über die Zukunft der 700 000 Palästinenser, die im Krieg vertrieben worden waren.

Damals hatten die Palästinenser gerade eine schwere Niederlage erlitten. Das Territorium, das nach dem UN-Teilungsplan vom 29. November 1947 für ihren Staat vorgesehen war, war in drei Gebiete aufgeteilt: Ein Teil (der Norden Galiläas) war von Israel erobert worden, das haschemitische Königreich Jordanien hatte das West­jor­dan­land und Ostjerusalem annektiert, und Ägypten kontrollierte das kleine Gaza, das aber eine gewisse Autonomie genoss. Damals hatten die Palästinenser keine politische Führung. Sämtliche Institutionen waren im Sturm des Kriegs untergegangen.

Dieser Katastrophe (auf Arabisch „Nakba“) war eine andere Niederlage vorausgegangen: Die Niederschlagung der großen palästinensischen Revolte zwischen 1936 und 1939. Dieser teils zivile, teils bewaffnete Aufstand hatte das Ende der britischen Mandatsmacht und der jüdischen Immigration zum Ziel. Aber er wurde von britischen Truppen und zionistischen Milizen niedergeschlagen, wobei Letztere von London mit Waffen versorgt wurden und in den Kämpfen Erfahrungen sammelten, die ihnen im ersten Krieg gegen die arabischen Armeen 1948/49 zum Sieg verhalfen.

Die Palästinenser fristeten ihr Dasein entweder in Zelten jenseits der Grenze, oder sie lebten unter israelischer Kontrolle, als seien sie dazu bestimmt, zu verschwinden, wie Scharet es vorausgesagt hatte. Und so verglichen sie ihr Schicksal mit dem der „Ureinwohner“ Nordamerikas, Australiens oder Neuseelands, die im Zeitalter des Kolonialismus ausgerottet wurden. Oder sie stellten sich vor, dass sie mit der arabischen Bevölkerung in den Nachbarstaaten verschmelzen würden: Sprachen sie nicht die gleiche Sprache wie die Bevölkerung der Aufnahmeländer? Hatten sie nicht die gleiche Kultur und meist auch die gleiche Religion?

Israel verurteilte die arabischen Staaten dafür, dass sie die palästinensischen Flüchtlinge nicht integrierten. Dabei waren es vor allem die Palästinenser selbst, die es ablehnten, sich dort dauerhaft niederzulassen – ihr erster Akt des Widerstands. Anfangs weigerten sie sich sogar, in den Flüchtlingslagern feste Behausungen zu errichten. Als die neue ägyptische Führung der „freien Offiziere“ unter Gamal Abdel Nasser im Juli 1953 ein Abkommen mit der UNWRA3 unterzeichnete, das die Ansiedlung von zehntausenden Palästinensern im Sinai vorsah, protestierten die Palästinenser in Gaza gewaltsam gegen die Umsiedlung – für sie blieb die Rückkehr in ihre Heimat die einzig akzeptable Perspektive.

Der israelische Friedensaktivist Uri Avnery, der im Suezkrieg 19564 während der ersten kurzen israelischen Besetzung von Gaza als Soldat diente, berichtete von folgender Begegnung: „Ich sprach mit einem arabischen Jungen aus einem der Flüchtlingslager: ‚Wo kommst du her?‘, habe ich ihn gefragt. ‚Aus al-Qubab‘, antwortete er. Ich war verblüfft von dieser Antwort, denn der Junge war sieben Jahre alt. Er war also in Gaza geboren, nach dem Krieg, und hatte al-Qubab – ein palästinensisches Dorf, das längst vom Erdboden verschwunden war – niemals mit eigenen Augen gesehen.“5

Heute, 60 Jahre später, sind die meisten Palästinenser im Exil geboren. Aber die Antworten sind die gleichen geblieben: Ihre Heimat sind die Dörfer, aus denen ihre Familien vertrieben wurden. Die zionistische Bewegung, die aus dem jahrtausendealten Gebetsspruch am Sederabend „Nächstes Jahr in Jerusalem!“ eine politische Parole machte, sollte diese Verbundenheit eigentlich nachvollziehen können.

Es war aber nicht nur diese Entschlossenheit, der Niederlage zu trotzen, die beim Aufbau der palästinensischen Nationalbewegung nach der Nakba half. Die Umwälzungen in der gesamten Region spielten dabei eine ebenso wichtige Rolle. Die Gründung Israels erschütterte den gesamten Nahen Osten und beschleunigte den Zusammenbruch der prowestlichen Regime. 1952 gelangte der große Panarabist Gamal Abdel Nasser in Ägypten an die Macht, 1958 stürzte die Monarchie im Irak – überall in der Region war der revolutionäre arabische Nationalismus auf dem Vormarsch.

Infolge dieser Umwälzungen sowie Rivalitäten und Überbietungskämpfe bei dem Versuch, die demütigende Niederlage gegen Israel zu verdrängen, beschloss die Arabische Liga im Mai 1964, die Palästinensische Befreiungs­or­ga­ni­sa­tion (PLO) zu gründen. Gleichzeitig lancierte eine bis dahin unbekannte palästinensische Organisation namens Fatah ab Januar 1965 bewaffnete Operationen gegen Israel. Die erneute arabische Niederlage im Juni 19676 schuf dann die Voraussetzungen für einen Widerstandskampf unter palästinensischer Ägide: Am 4. Februar 1969 wurde der Chef der Fatah, Jassir Arafat, zum Vorsitzenden der PLO gewählt.

Die palästinensische Nationalbewegung etablierte sich in einem internationalen Umfeld, das gekennzeichnet war durch den Widerstand der Völker Indochinas gegen die US-Interven­tion, den Kampf der Guerillas in Lateinamerika, die Entstehung der bewaffneten Bewegungen gegen den portugiesischen Kolonialismus und den Kampf gegen das Apartheidregime in Südafrika. Der französische Schriftsteller Jean Genet fasste die damaligen Träume in seinem Buch „Un captiv amoureux“7 zusammen: Palästina stehe im Mittelpunkt „des Feuerwerks einer großartigen Revolution, eines Flächenbrands, der sich von Bank zu Bank, von Oper zu Oper, vom Gefängnis bis zum Justizpalast ausbreitet“.

Doch die Hoffnungen verpufften schnell. Die Palästinenser mussten ihre Ziele zurückschrauben und die Idee einer Teilung Palästinas akzeptieren. Der Grund dafür waren neben den internen Konflikten im Libanon (wo sich ab 1970 das PLO-Hauptquartier befand) auch die israelischen Operationen gegen die PLO im Libanon und in den besetzten Gebieten; die Spaltungen innerhalb der arabischen Welt und die Einmischung einiger Staaten aus der Region (Irak, Syrien, Jordanien) in die innerpalästinensischen Angelegenheiten.

Nach und nach verabschiedete sich die PLO vom bewaffneten Kampf und ihren „Auslandsaktionen“, vor allem den Flugzeugentführungen, die ihren Kampf international bekannt gemacht und dazu geführt hatten, dass die westlichen Staaten die PLO als Terrororganisation einstuften. Man verlegte sich auf die diplomatische und politische Arbeit und den Aufbau von mehr oder weniger stabilen Institutionen; es entstanden Jugend- und Frauenorganisationen, Gewerkschaften und ein Schriftstellerverband.

Die PLO zielte vor allem auf die Mobilisierung der wachsenden Bevölkerung im Westjordanland, dem Gazastreifen und in Ostjerusalem, die 1967 von Israel besetzt wurden, und erlangte dadurch internationale Bedeutung. Arafat wurde eingeladen, am 13. November 1974 vor der UN-Vollversammlung zu sprechen, und die PLO wurde bald von der großen Mehrheit der Staaten anerkannt, jedoch nicht von Israel und den USA, die ihre Position erst in den 1990er Jahren änderten. Auch Frankreich und andere europäische Staaten trugen in den 1980er Jahren dazu bei, dass zwei Grundprinzipien anerkannt wurden: das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser und die Notwendigkeit eines Dialogs mit der sie repräsentierenden Organisation, der PLO.

Es brauchte noch die erste Intifada, die im Dezember 1987 ausbrach, und das Ende des Kalten Kriegs, bis Jassir Arafat und der israelische Premierminister Jitzhak Rabin am 13. September 1993 unter der Schirmherrschaft von US-Präsident Bill Clinton in Washington das Oslo-Abkommen unterzeichneten. Am 1. Juli 1994 installierte Arafat, zunächst in Gaza und Jericho, die Palästinensische Autonomiebehörde (PA).

Die Vagheit des in Washington unterzeichneten Dokuments sollte durch die Anerkennung eines klaren Prinzips wettgemacht werden: dem Tausch von „Land gegen Frieden“, der Errichtung eines palästinensischen Staats neben Israel in den Grenzen vom 4. Juni 1967. Dieser Friedensprozess ist bekanntlich gescheitert. Trotz der zugebilligten Autonomie verschlechterte sich das Leben der Palästinenser; ihre Bewegungsfreiheit wurde mit jedem weiteren Checkpoint der israelischen Armee noch mehr eingeschränkt. Gleichzeitig setzten die israelischen Regierungen – linke wie rechte – die Besiedlung des West­jor­dan­lands unbeirrt fort.

Über die diversen Erklärungen für das Scheitern kann man lange diskutieren. Aber die Haupt­ur­sache liegt im kolonialen Charakter des zionistischen Projekts, das ein Überlegenheitsgefühl gegenüber den „indigenen“ Bevölkerungsgruppen genährt hat. Mit dem Ergebnis, dass die israelische Führung sich de facto weigerte, den Palästinensern auf Augenhöhe zu begegnen und ihnen ihr Recht auf Selbstbestimmung zuzugestehen. In den Augen der israelischen Regierung ist die Sicherheit eines Israelis mehr wert als das Leben eines Palästinensers.

Das Scheitern der zweiten Intifada, die im September 2000 ausbrach, führte zu einer massiven Schwächung der Palästinensischen Autonomiebehörde und zur vertieften Spaltung zwischen Gaza – unter Kontrolle der Hamas – und dem durch die Fatah kontrollierten West­jor­dan­land. Aber es gab auch unbestreitbare diplomatische Erfolge, wie die Zuerkennung des Beobachterstatus bei der UN und die diplomatische Anerkennung Palästinas durch etwa 100 Staaten.

Hinzu kam die Festigung eines stabilen Na­tio­nal­gefühls, das über die lokalen Zugehörigkeiten und die vielen Exilerfahrungen hinausgeht. Weder die internen Spaltungen noch die israelischen Bemühungen konnten die Palästinenser zur Aufgabe bewegen. Sie hängen nicht nur an ihren Häusern, sondern bekennen sich stolz zu ihrer Herkunft, ob unter israelischer Besatzung oder im Exil. Heute leben im ehemaligen Mandatsgebiet Palästina mehr Palästinenser (7 Millionen, wenn man die israelischen Palästinenser mitrechnet) als jüdische Israelis (6 Millionen): ein Albtraum für die zionistischen Führer, die von einem „Land ohne Volk“ träumten.

Fortdauernde Kolonisierung

Heute ist es illusorisch, den Friedensprozess wiederbeleben zu wollen. Niemand glaubt mehr daran – außer Palästinenserpräsident Mahmud Abbas und die internationale Gemeinschaft, die dieses Projekt künstlich am Leben erhalten, um ihre eigene Untätigkeit und das Fehlen neuer Vorschläge auf Grundlage des Völkerrechts zu rechtfertigen.

Aber wie könnte eine neue Strategie der Palästinenser aussehen? Um ein neues Projekt aufzubauen, braucht es Zeit. Das Kapitel, das durch den Junikrieg 1967 aufgeschlagen wurde, ist mit dem Scheitern des Oslo-Friedensprozesses definitiv beendet. Jetzt spaltet die Debatte über die Zukunft die palästinensische Gesellschaft. Muss man sich von der Teilungsidee verabschieden? Sollte man einen gemeinsamen Staat fordern? Sollte man die Palästinensische Autonomiebehörde auflösen? Welche Rolle sollte die Gewalt spielen? Selbst die Hamas, die für ihre Diszi­plin bekannt ist, kann sich diesen Debatten nicht entziehen. Das zeigt zum Beispiel ihr Anfang Mai veröffentlichtes neues Programm, in dem die Organisation erstmals seit ihrer Gründung 1987 die Bereitschaft andeutet, einen palästinensischen Staat in den Grenzen von 1967 als Übergangslösung zu akzeptieren.

Solange jedoch Unklarheit über eine endgültige politische Lösung herrscht, „bleibt das Hauptziel die Durchsetzung der Grundrechte“, erklären zwei palästinensische Hochschullehrer. „Denn die sind ein wesentliches Element des Rechts auf Selbstbestimmung des palästinensischen Volks und müssen Bestandteil jeder zukünftigen politischen Lösung sein: die Befreiung von Besatzung und Kolonialisierung, das Recht der Geflüchteten, in ihre Häuser und auf ihr Land zurückzukehren,8 sowie die Nichtdiskriminierung und vollständige Gleichheit der palästinensischen Bürger Israels.“9 Diese drei Ziele – als Grundbestandteil der Selbstbestimmung – formuliert auch der Aufruf der palästinensischen Zivilgesellschaft, der für Boykott, Desinvestition und Sanktionen (BDS) gegen Israel wirbt.

Die Gründung der BDS-Bewegung am 9. Juli 2005 durch 171 NGOs markiert einen Wendepunkt in der Geschichte des palästinensischen Widerstands: Angesichts der Machtlosigkeit der politischen Kräfte übernahm die Zivilgesellschaft die Aufgabe, gegen die Besatzung zu kämpfen. Diese friedliche Protestbewegung für die Gleichheit der Rechte, die einige westliche Regierungen (darunter auch Frankreich) gern kriminalisieren, mobilisiert viel Unterstützung, von Lateinamerika über Europa bis nach Asien, wie man zum Beispiel während des Gaza-Kriegs im Sommer 2014 beobachten konnte.

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts standen zwei Länder im Fokus massiver internationaler Proteste: Vietnam und Südafrika. Wesentlich für die Mobilisierung war dabei nicht unbedingt die Anzahl der Toten. Der Grad der Empörung folgt schließlich nicht allein einer makabren Zahlenlogik, sondern reagiert auch auf die symbolische Bedeutung einer Situation. An einem gewissen Punkt kann ein Konflikt über den geografischen Ort hinaus eine universelle Bedeutung erlangen, in der die Wahrheit über eine ganze Epoche zutage tritt. Bei all ihren Unterschieden waren die Konflikte in Vietnam und in Südafrika Teil derselben Bruchlinie zwischen dem globalen Norden und dem Süden, und beide hatten sie eine koloniale Dimension.

Das Gleiche gilt für Palästina, wenn auch in einem veränderten Gesamtzusammenhang. Schon mit der Erfahrung in Südafrika, wo der African National Congress (ANC) sein Projekt einer Regenbogengesellschaft verfolgte – die, anders als die „Black Power“-Bewegung in den vereinigten Staaten, die Weißen ausdrücklich miteinbezog –, hatten sich neue Wege eröffnet. Der bewaffnete Kampf war nicht mehr die einzige Option auf dem Weg zur Befreiung. Im Zentrum der Forderungen stand auch hier die rechtliche Gleichheit.

Der Konflikt in Palästina ist der längste unserer Gegenwart, er weist weit hinaus über die rein territoriale Dimension. Es geht nicht nur um Grund und Boden, sondern zuallererst um Gerechtigkeit oder vielmehr um die sich ständig erneuernde Ungerechtigkeit. In den besetzten Gebieten sind die Palästinenser mit einem Phänomen konfrontiert, das so nirgendwo sonst mehr stattfindet: einer Kolonialisierung.

Seit 1967 haben sich im Westjordanland und in Ostjerusalem rund 650 000 israelische Siedler niedergelassen. Ein solches Vorgehen bezeichnet der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) als Kriegsverbrechen. Der Alltag der Palästinenser ist geprägt von der Beschlagnahmung ihres Ackerlands und der Zerstörung ihrer Häuser, von Verhaftungen (die Mehrheit der erwachsenen männlichen Bevölkerung saß schon einmal in einem israelischen Gefängnis) und Folter, von einer Armee, die sofort schießt, und einer Mauer, die nicht zwei Bevölkerungen voneinander trennt, sondern eine einsperrt.

Das Ergebnis ist ein Flickenteppich aus Bantustans10 , eingekreist von Spezialstraßen, die nur die Israelis benutzen dürfen – eine solche Segregation existierte nicht einmal in Südafrika. Die palästinensische Bevölkerung unterliegt diskriminierenden Sondergesetzen, die in vielerlei Hinsicht an die Apartheid erinnern: Für zwei Bevölkerungen im selben Land, nämlich Palästinenser und Siedler, gelten unterschiedliche Gesetze, die von unterschiedlichen Gerichten durchgesetzt werden.

In der ganzen Welt können Menschen den Kampf der Palästinenser nachvollziehen. Er erinnert sie an ihren eigenen Kampf gegen Unterdrückung und für gleiche Rechte. In der Figur des Palästinensers kann sich der westliche Jugendliche aus einem benachteiligten Viertel genauso wiederfinden wie der Native American, der von seinem Land vertrieben wurde, oder der Ire, der voller Stolz auf den Kampf gegen den britischen Kolonialismus zurückblickt. Diese internationale Solidarität ist zwar keine Erfolgsgarantie für den palästinensischen Kampf, aber doch einer seiner wichtigsten Trümpfe – und sie hält die palästinensische Sache ungeachtet ihres eigenen Schicksals am Leben.

Am 2. November 1917 unterzeichnete der damalige britische Außenminister Arthur James Balfour einen Brief, in dem er erklärte, die britische Regierung betrachte „mit Wohlwollen die Errichtung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina“ (in einer ersten Ver­sion hatte er „jüdische Rasse“ geschrieben). Weiter hieß es, die Briten werden „ihr Bestes tun, um die Erreichung dieses Ziels zu erleichtern“. Damit versprach „eine Nation feierlich einer zweiten Nation das Land einer dritten Nation“ – so formulierte es später der Schriftsteller Arthur Koestler, der einst an der Seite der Zionisten gekämpft hatte.

Diese koloniale Unternehmung war der Beginn von Jahrzehnten der Instabilität, der Kriege, des Grolls und des Hasses. Sie schürte die Frus­tra­tion in der gesamten Region und tut es bis heute. Ein Ende der Tragödie der Palästinenser wird nicht mit einem Schlag Frieden bringen. Aber solange die Besetzung fortbesteht, kann es im Nahen Osten weder Frieden noch Stabilität geben.

1 Siehe „New Republican pro-Israel caucus wants Palestinians to admit defeat“, Jewish Telegraphy Agency, 27. April 2017.

2 Zitiert in: Alain Gresh, Dominique Vidal, „Palestine 47. Un par­tage avorté“, Brüssel (Éditions Complexe) 1994.

3 Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten, gegründet am 8. Dezember 1949.

4 Als Antwort auf die Verstaatlichung der Suezkanal-Gesellschaft durch Präsident Gamal Abdel Nasser am 26. Juli 1956 griffen Frankreich, Großbritannien und Israel Ägypten an. Obwohl die britisch-französisch-israelische Offensive militärisch erfolgreich war, führte der Druck seitens der USA und der Sowjetunion dazu, dass Israel den Sinai nicht besetzt halten konnte.

5 Zitiert in: Alain Gresh, Dominique Vidal, siehe Anmerkung 2.

6 Der Sechstagekrieg im Juni 1967 war nach den Konflikten 1948/1949 und 1956 der dritte israelisch-arabische Krieg. Ägypten, Syrien und Jordanien unterlagen und Israel besetzte den Sinaï, den syrischen Golan, das Westjordanland, Gaza und Ostjerusalem.

7 Auf Deutsch: „Ein verliebter Gefangener – Palästinensische Erinnerungen“, Köln (Kiepenheuer & Witsch) 1988.

8 Die Resolution 194 der UN-Generalversammlung, die am 11. Dezember 1948 verabschiedet wurde, legt fest, dass es „den Flüchtlingen, die das wünschen, erlaubt werden sollte, zum frühestmöglichen Zeitpunkt in ihre Heimat zurückzukehren“, und dass „Entschädigungen gezahlt werden sollten für die Güter derjenigen, die entscheiden, nicht zurückzukehren. Die Resolutionen 394 (1950) und 513 (1952) bestätigten diese Bestimmungen.

9 Nadia Hijab, Ingrid Jaradat Gassner, „Parler de la Palestine: Quel cadre d’analyse ? Quels objectifs et quels messages?“, Agence Médias Palestine, 12. April 2017.

10 Bantustans wurden die vom Apartheidregime in Südafrika für die schwarze Bevölkerung geschaffenen Gebiete genannt, wo sie eine sehr eingeschränkte Selbstverwaltung ausübten. Siehe auch die Karte „Zone A, B, C“ auf Seite 50 im aktuellen Heft der Reihe Edition Le Monde diplomatique, „Israel und Palästina. Umkämpft, besetzt, verklärt“ (April 2017).

Aus dem Französischen von Jakob Farah

Alain Gresh leitet das Onlinemagazin OrientXXI.info und ist unter anderem Autor der Graphic Novel „Un chant d’amour. Israël-Palestine, une histoire française“ (Zeichnungen von Hélène Aldeguer), Paris (La Découverte) 2017.

Le Monde diplomatique vom 08.06.2017, von Alain Gresh