Ein Gewirr von Bedingungen
Grenz-, Namens - und andere Konflikte behindern die Integration des Westlichen Balkans in die EU von Jean-Arnault Dérens
Bei ihrem Gipfeltreffen in Thessaloniki im Juni 2003 hat die Europäische Union eine neue geografische Bezeichnung erfunden. Seitdem ist in der EU vom „Westlichen Balkan“ die Rede. Konkretisiert wurde dieser Begriff durch die seltsame Formel „6-1+1“. Gemeint sind damit die sechs Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawien minus Slowenien (das schon seit Mai 2004 EU-Mitglied ist) plus Albanien. Der Westliche Balkan war damit von Rumänien und Bulgarien abgegrenzt, denen man 2003 eine beschleunigte Integration zusagte und die tatsächlich am 1. Januar 2007 der EU beitreten durften.
Seit Thessaloniki gibt es für Kroatien, Bosnien-Herzegowina, Serbien, Montenegro, Mazedonien und Albanien im europäischen Wartesaal also eine eigene Ecke. Und seitdem ist in der Region mit dem Kosovo ein weiterer Staat entstanden, der allerdings von fünf EU-Mitgliedsländern (Spanien, der Slowakei, Rumänien, Griechenland und Zypern) nicht anerkannt wird.
Für den Beitritt der Staaten des Westlichen Balkans hat die EU in Thessaloniki klare Regeln festgelegt: Um die „Konvergenzkriterien“ zu erfüllen, müssen die Kandidaten grundlegende Reformen durchsetzen: in den staatlichen Einrichtungen, für den Rechtsstaat, beim Kampf gegen Korruption und organisiertes Verbrechen, zur Einhaltung demokratischer Prinzipien sowie der Menschen- und Bürgerrechte. Zudem wird von den Kandidatenländern die Liberalisierung ihrer Wirtschaft und die vollständige Öffnung ihrer Märkte gefordert.
Des Weiteren bestand die Europäische Kommission auf dem Prinzip der Einzelfallprüfung, das heißt, sie will über die Fortschritte jedes EU-Aspiranten gesondert befinden. Entsprechend bekommt jedes Land einen eigenen Beitrittsfahrplan und wird von der Kommission in einem jährlichen Fortschrittsbericht bewertet. Nach dem „Big Bang“ von 2004, als zehn neue Staaten1 auf einen Schlag beitraten, kamen 2007 Rumänien und Bulgarien hinzu.
Zu Beginn des neuen Jahrtausends hatte vorsichtiger Optimismus geherrscht. Der Krieg schien endlich ein abgeschlossenes Kapitel zu sein: Im Januar 2000 vollzog sich in Kroatien ein demokratischer Machtwechsel, und im Oktober endete in Serbien das Regime von Slobodan Milosevic. Zwar gab es noch ungelöste Probleme – etwa mit dem Kosovo, das seit Juni 1999 unter dem Protektorat der UN stand, oder in Bosnien-Herzegowina, wo der gemeinsame Staat nicht funktionierte und sich als reformunfähig erwiesen hatte. Aber insgesamt standen die Zeichen auf Demokratisierung und Wiederaufbau, und einige europäische Politiker gingen so weit, von der „Entbalkanisierung des Balkans“ zu sprechen.
Zur selben Zeit, da der EU-Beitritt sich immer klarer als „natürliche“ Perspektive für diese Länder darstellte, übernahm die Union immer mehr politische, wirtschaftliche und sogar militärische Verpflichtungen, zum Beispiel in Bosnien-Herzegowina, wo die Nato-Schutztruppe SFOR im Dezember 2004 durch die europäische Mission Eufor abgelöst wurde. Hier wie auch im Kosovo spielte die Europäische Agentur für Wiederaufbau (EAR) eine zentrale Rolle, während die EU zugleich viele neue bilaterale oder multilaterale Hilfsverpflichtungen einging. Alle Aktivitäten der Union erfolgten im Rahmen des Stabilitätspakts für Südosteuropa, den die EU am 10. Juni 1999, nur wenige Wochen nach dem Ende des Kosovokriegs, beschlossen hatte.2
Dieses äußerst kostspielige Engagement war Teil einer Integrationsstrategie, deren erste Etappe die Assoziierungs- und Stabilisierungsabkommen (SAA) darstellten, die mit allen Staaten der Region abgeschlossen wurden. Aber dieser Prozess ist mittlerweile zum Stillstand gekommen. Besonders verbittert wurde das von Kroatien registriert, das sich als „Musterschüler“ der EU gesehen und lange Zeit mit einem besonders raschen Beitritt gerechnet hatte.
Die EU hatte dem wirtschaftlich stärksten 6-1+1-Land bereits 2004 den Status eines Beitrittskandidaten zugesprochen. Doch die im Oktober 2005 aufgenommenen Verhandlungen wurden unterbrochen, als Slowenien am 17. Dezember 2008 sein Veto einlegte und Zagreb zwang, die Verhandlungen mit der EU über elf Sachkapitel auszusetzen. Der Grund war ein völlig marginaler Gebietsstreit, der zwischen den beiden Nachbarstaaten bereits seit ihrer Unabhängigkeit im Jahr 1991 schwelte.
Bei dem bilateralen Streit geht es um den genauen Verlauf der Seegrenze in der Bucht von Piran.3 Slowenien hat im Norden Istriens an der Adria eine 37 Kilometer lange Küste mit vorgelagerten Territorialgewässern (auch Küstenmeer genannt). Diese Hoheitszone ist allerdings umschlossen von italienischen und kroatischen Hoheitsgewässern, hat also keine Verbindung zu den internationalen Gewässern, die erst weiter südlich beginnen, wo die Adria hinreichend breit wird.
Deshalb fordert Ljubljana eine geringfügige Verschiebung der istrischen Landgrenze nach Süden, was Slowenien – gemäß der Internationalen Seerechtskonvention von 1982 – eine keilförmige Erweiterung seiner Hoheitsgewässer mit einem Korridor zu den internationalen Gewässern verschaffen würde. Eine entsprechende Vereinbarung mit Kroatien war 1996 unterschrieben und 2001 vom slowenischen Parlament ratifiziert worden, war dann aber im kroatischen Parlament gescheitert.4 Seither kam es in dem umstrittenen Seegebiet immer häufiger zu Zwischenfällen. Der Streit ist in beiden Ländern zu einem zentralen innenpolitischen Thema geworden und lieferte die Gelegenheit, seinen jeweiligen Nationalstolz unter Beweis zu stellen.
Nach dem slowenischen Veto versuchte die Europäische Kommission zu vermitteln, indem sie im Januar 2009 die Einrichtung einer Schiedskommission unter Leitung des ehemaligen finnischen Präsidenten (und Friedensnobelpreisträgers von 2008) Martti Ahtisaari vorschlug. Der warf allerdings schon bald das Handtuch, und so musste die EU am 26. Juni erklären, der Konflikt werde „bilateral“ geregelt, und es wurde entschieden, die Beitrittsgespräche mit Kroatien auf unbestimmte Zeit auszusetzen.
Erst durch ein Gespräch zwischen der kroatischen Ministerpräsidentin Jadranka Kosor und ihrem slowenischen Amtskollegen Borut Pahor am 11. September 2009 in Ljubljana ließ sich die Krise entschärfen, so dass am 2. Oktober die EU die Verhandlungen mit Kroatien wieder aufnahm – ihre Weiterführung bleibt allerdings daran gebunden, dass der Dialog zwischen den beiden Ländern fortgesetzt wird.
Mazedonien und der Antikenwahn
Mazedonien hat seit Dezember 2005 den offiziellen Status eines Beitrittskandidaten, und die EU-Kommission empfiehlt in ihrem Fortschrittsbericht vom 14. Oktober 2009 erstmals die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen, allerdings ohne ein Datum anzugeben.5 Der Grund ist in der Haltung Griechenlands zu sehen, das den Beginn der EU-Verhandlungen mit Skopje von einer Lösung der leidigen Namensfrage abhängig macht.
Athen hatte mit seinem Veto bereits im April 2009 den Beitritt Mazedoniens zur Nato verhindert. Griechenland will auf keinen Fall, dass sich der Nachbarstaat nur als „Mazedonien“ – also ohne geografische Präzisierung – bezeichnet, weil es diesen Namen als exklusiven Teil des hellenischen Kulturerbes betrachtet.6 Es wirkt wie eine Ironie der Geschichte, dass diese heikle Streitsache zwischen einem EU-Mitgliedsland und einem Beitrittskandidaten auf die Vermittlerdienste der Vereinten Nationen angewiesen ist. In dieser Rolle bemüht sich seit Jahren der US-Amerikaner Paul Niemietz, dessen jüngster Namensvorschlag „Republik Nord-Mazedonien“ lautet.
Die Blockade der EU-Erweiterungspolitik auf dem Westlichen Balkan hat spürbare politische Konsequenzen. Am 1. Juli 2009 erklärte der kroatische Ministerpräsident Ivo Sanader seinen Rücktritt, um Kroatien und Europa „wachzurütteln“, wie seine Begründung lautete. Der Veteran der konservativ-nationalistischen Kroatischen Demokratischen Gemeinschaft (HDZ), der seit 2003 Regierungschef war, hatte eine Erneuerung seiner Partei eingeleitet, die bis auf das kurze Intermezzo einer sozialdemokratischen Regierung (2000 bis 2003) seit 1990 an der Macht ist.
Sanader tat einiges, um die kroatische Gesellschaft zu modernisieren, doch in der eigenen Partei konnte er sich letztlich nicht durchsetzen. Nachfolgerin Sanaders an der Spitze der Regierung sowie der HDZ wurde zwar Jadranka Kosor, doch die eigentlichen Machthaber sind die beiden Hardliner Vladimir Seks und Andrija Hebrang, der bei den Wahlen im Januar 2010 als HDZ-Kandidat mit besten Aussichten für das Amt des Staatspräsidenten kandidiert.
Hebrang verhehlt weder seine Abneigung gegen die Aussöhnung mit Serbien noch seine Sympathien für die kroatischen Generäle, die sich wegen Kriegsverbrechen vor dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) in Den Haag verantworten müssen.7 Auch seine skeptische Haltung gegenüber dem EU-Beitritt ist bekannt. In Zagreb kursieren zwei mögliche Erklärungen für den Rücktritt von Ivo Sanader. Zum einen hat er den parteiinternen Machtkampf ganz klar verloren, zum anderen wollte er wahrscheinlich auch, dass sich die Europäische Union ihrer Verantwortung für den EU-Beitrittskandidaten Kroatien stellt.8 Ministerpräsidentin Kosor hat zwar von der Regierung in Ljubljana erreicht, dass sie ihr Veto gegen die Fortführung der Beitrittsverhandlungen Kroatiens zurückgezogen hat, aber das slowenische Damoklesschwert hängt nach wie vor über der kroatischen EU-Perspektive.
In Mazedonien haben das Scheitern des Nato-Beitritts und die Blockade auf EU-Ebene zum Wiederaufleben eines gefährlichen Nationalismus geführt. Die Regierung unter Führung der rechten Partei Innere Mazedonische Revolutionäre Organisation – Demokratische Partei für Mazedonische Nationale Einheit (VMRO-DPMNE) von Ministerpräsident Nikola Gruewski hat auf das griechische Veto mit Provokationen reagiert. Nachdem der Flughafen von Skopje schon seit 2007 den Namen „Alexander der Große“ trägt, soll nun die neue Autobahn von Skopje zur griechischen Grenze nach Alexanders Vater „Philipp von Makedonien“ benannt werden. Zudem werden im ganzen Land gigantische Statuen zum Ruhm der beiden antiken Helden errichtet.
Dieser „Antikenwahn“9 kommt durchaus gut an bei einer Bevölkerung, die sich von Griechenland bedroht fühlt: Viele Mazedonier glauben, dass Athen mit dem Veto in der Namensfrage ihnen im Grunde ihre nationale, kollektive und individuelle Identität streitig machen will. Für eine Weile könnte Nikola Gruewski also auf der Welle der „Alexanderbegeisterung“ reiten, um sich an der Macht zu halten.
Die albanische Minderheit – die mit etwa 500 000 Einwohnern immerhin ein Viertel der Bevölkerung ausmacht – kann sich für dieses Thema allerdings überhaupt nicht begeistern. Die Albaner haben die Republik Mazedonien seit der Unabhängigkeitserklärung von 1992 nie wirklich als legitim betrachtet – 2001 wäre das Land deshalb fast im Bürgerkrieg versunken.10 Das Friedensabkommen von Ohrid vom August 2001 regelte die Dezentralisierung der Verwaltung, wobei es allerdings nicht alle albanischen Forderungen erfüllt.
Dennoch schien die Minderheit bereit, den mazedonischen Staat als politischen Rahmen zu akzeptieren, zumal angesichts der EU-Perspektive, die 2004 durch den Kandidatenstatus bekräftigt wurde. Seitdem sind weitere Fortschritte ausgeblieben. Und ein kleiner isolierter Staat, der sich darin gefällt, die Größe seiner vermeintlichen antiken Vorväter zu feiern, ist für die Albaner in keiner Weise attraktiv. Wenn sie aber an der Legitimität dieses Staats zweifeln, könnten sie erneut auf nationalistische Sirenentöne hören, zumal die Unabhängigkeitserklärung des Kosovo die Diskussion um eine nationale Wiedervereinigung aller Albaner neu entfacht hat.11
Die beiden beschriebenen Konflikte gefährden das fragile Gleichgewicht in einer Region, in der die EU theoretisch ein entscheidender Faktor ist. Gleichwohl hat die Union beschlossen, sich weitgehend herauszuhalten. Wegen des nach wie vor gültigen Einstimmigkeitsprinzips ist sie außerstande, den griechischen Nationalismus zu zügeln. Dass der mazedonische Namensstreit heute beim IGH liegt, macht deutlich, dass die EU nicht in der Lage ist, ihr eigenes Vermittlungspotenzial einzusetzen.
In Kroatien zeigen die Meinungsumfragen, dass mit jeder weiteren Verzögerung der Beitrittsverhandlungen die EU-Skepsis deutlich zunimmt.12 In Serbien, Montenegro und auch in Albanien dagegen befürwortet eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung nach wie vor die EU-Perspektive. Ein Abbröckeln dieser Europa-Begeisterung könnte bedeuten, dass die antieuropäischen Strömungen wieder an Kraft gewinnen.
Der Ausgang der serbischen Parlamentswahlen vom Mai 2008 brachte eine Überraschung: Das Bündnis „Für ein europäisches Serbien“ unter Präsident Boris Tadic konnte die Nationalisten der Serbischen Radikalen Partei (SRS) klar hinter sich lassen. Viele Beobachter hatten befürchtet, die SRS könnte durch die wenige Monate zuvor erfolgte Unabhängigkeitserklärung des Kosovo Auftrieb erhalten. In diesem Ergebnis zeigte sich, dass ein Großteil der serbischen Wähler auf die europäische Perspektive setzt. Ob das so bleibt, hängt allerdings davon ab, ob und wie die EU ihre Versprechen umsetzt.
Grundsätzlich spricht nichts dagegen, Serbiens Bewerbung voranzutreiben – abgesehen von der immer noch offenen Frage der Kooperation mit dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) in Den Haag. Seit der „demokratischen Revolution“ vom Oktober 2000 hat Serbien die wegen Kriegsverbrechen gesuchten Verdächtigen, die sich auf seinem Territorium aufhielten, fast ausnahmslos festgenommen. Die letzte und spektakulärste Verhaftung war die des früheren bosnischen Serbenführers Radovan Karadzic am 21. Juli 2008 in Belgrad. Zwei mit internationalem Haftbefehl Gesuchte sind allerdings noch immer auf freiem Fuß: Goran Hadzic und Ratko Mladic.
Falls auch diese beiden flüchtigen Verdächtigen gefasst würden, stünde einer offiziellen Kandidatur Serbiens eigentlich nichts mehr im Wege. Und doch bleibt ein großes Fragezeichen: Betrachtet Serbien das Kosovo, das am 17. Februar seine Unabhängigkeit erklärt hat, weiterhin als Teil seines Staatsgebiets? Die EU-Kommission hat sich in diesem entscheidenden Punkt für „neutral“ erklärt: Die Anerkennung eines neuen Staats falle nicht in ihre, sondern in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten. Die aber haben keine gemeinsame Haltung.
Tatsächlich ist es so, dass allen die strategische Bedeutung Serbiens bewusst ist. Und dass alle das „Ungleichgewicht“ fürchten, das eintreten könnte, falls Kroatien sich rasch in die EU integriert, während sich der größte Staat des Westlichen Balkans noch länger gedulden muss. Eine Blockade der Beitrittsverhandlungen Kroatiens hätte den großen Vorteil, dass man zunächst Zeit gewinnt. In diplomatischen Kreisen wird hinter vorgehaltener Hand durchaus zugegeben, dass die „unbeugsame“ Haltung der Slowenen im Streit um die Bucht von Piran vielen Politikern in der EU zupasskam. Da liegt der Gedanke doch ziemlich nahe, dass Ljubljana nicht nur aus eigenem Antrieb gehandelt hat.
Wie unsinnig es ist, auf Zeit zu spielen, hat sich freilich im Fall Bosnien-Herzegowina nur zu deutlich gezeigt: Dieses komplizierte Staatsgebilde verharrt seit dem Ende des Kriegs 1995 in einem unseligen Status quo.
Nun hat der Europäische Rat13 – als wollte er dem Verdacht einer bewussten Verzögerungstaktik entgegentreten – Anfang Juli 2009 beschlossen, die Visumpflicht für Bürger Serbiens, Montenegros und Mazedoniens aufzuheben. Damit können sich die Bürger dieser Länder ab 1. Januar 2010 im Schengenraum (bis zu drei Monate, aber ohne Arbeitserlaubnis) frei bewegen, sie erlangen also die gleichen Rechte wie die Kroaten. Dieser Beschluss wirkt allerdings angesichts der auf Dauer verschobenen Beitrittsverhandlungen wie ein Trostpflaster.
Bewerber mit und ohne Visum
Für Bosnien-Herzegowina, Albanien und das Kosovo gilt diese Regelung nicht. Diese drei Länder erfüllen noch nicht die strengen Vorbedingungen der EU in den Bereichen Migrationspolitik und Grenzsicherung, als da sind: Einführung von Pässen mit biometrischen Daten, Unterzeichnung von Rückübernahmeabkommen und Einrichtung von Abschiebelagern für illegale Migranten aus Drittländern. Im Übrigen stellen diese drei Balkanländer selbst für die EU ein offensichtliches Reservoir unerwünschter Migranten dar: Mehr als 60 Prozent der Einwohner des Kosovo sind jünger als 25 Jahre, die Arbeitslosenquote liegt schätzungsweise bei 60 Prozent. Für einen sehr großen Teil der Jugend ist damit der Aufbruch in den „Westen“ die einzige Zukunftsperspektive. Ähnlich liegen die Dinge in Albanien. Und Bosnien-Herzegowina versinkt immer weiter in der Krise, gelähmt durch endlose politische Querelen und das bizarre Puzzle der Institutionen, die das Dayton-Abkommen von 1995 geschaffen hat.14
In allen drei Ländern schlug die öffentliche Empörung über die Entscheidungen der EU hohe Wellen. Und in einigen Kommentaren hieß es, den diskriminierten Ländern sei vor allem eines gemeinsam: eine überwiegend muslimische Bevölkerung. In der bosnischen Presse konnte man demagogisch zugespitzte Fragen wie diese lesen: „Ist es moralisch gerechtfertigt, den Serben die Reisefreiheit in Europa zu gewähren und sie den Angehörigen der Opfer von Srebrenica zu verweigern?“15
Im Kosovo mussten die Albaner begreifen, dass die im Februar 2008 ausgerufene Unabhängigkeit noch lange keine Souveränität bedeutet und dass die Tür nach Europa sich vorerst nicht öffnen wird. Das betrachten sie als „Verrat“ der westlichen „Paten“ – allen voran Frankreich und Großbritannien – an ihrer Unabhängigkeit.
Die Rechtsstaatlichkeitsmission der EU im Kosovo (Eulex) begann im Dezember 2008. Das entsandte Personal sollte „technische“ Hilfe in den wichtigen Bereichen Polizei, Justiz und Zoll leisten und den Aufbau eigener Institutionen im Kosovo „begleiten“, in Fragen des territorialen Status jedoch „neutral“ bleiben. Die Umsetzung der Mission setzte überdies ein besonderes Abkommen mit Serbien voraus, den von der UNO ausgehandelten „Sechs-Punkte-Plan“. Der sieht eine Kooperation von Eulex mit Belgrad vor, insbesondere bei der Bekämpfung des organisierten Verbrechens. Diese Vereinbarungen verstärkten noch die Wut der enttäuschten und zunehmend radikalisierten albanischen Bevölkerung über die EU-Mission. Am 25. August wurde der Wagenpark der Eulex von der Bewegung Vetevendosje („Selbstbestimmung“) angegriffen und demoliert.
Dass ausgerechnet das Kosovo und Bosnien-Herzegowina als die beiden Länder, denen unter europäischer Führung die deutlichste internationale Vormundschaft aufgezwungen wurde, nun besonders schlechte Chancen auf eine EU-Mitgliedschaft haben, ist schon bemerkenswert. Europa schafft es nicht, seine Position hinsichtlich drohender neuer Konflikte zur Geltung zu bringen. Dass die EU nicht einmal im Kosovo eine klare politische Linie findet, zeigt an, dass sie die Vorreiterrolle, die sie in den „guten Zeiten“ am Beginn des neuen Jahrtausends spielen wollte, offenbar endgültig aufgegeben hat.
Die Folgen der Wirtschaftskrise treffen natürlich auch den Westlichen Balkan. Um die Gefahr eines Staatsbankrotts abzuwenden, hat Bosnien-Herzegowina beim Internationalen Währungsfonds (IWF) ein Darlehen von 1,2 Milliarden Euro ausgehandelt. Auch Serbien wird 3,1 Milliarden Euro erhalten, Montenegro und Mazedonien haben ihre Verhandlungen mit dem IWF noch nicht abgeschlossen. Für dessen Kreditpolitik gelten allerdings ganz andere Kriterien als bei der Europäischen Union. Während die EU „gute Regierungsführung“ und die Bekämpfung der Korruption zur Bedingung macht, fordert der IWF vor allem, dass bei den öffentlichen Ausgaben gespart wird. In Serbien könnte der Stellenabbau im Staatsapparat mit einer Reduzierung der Beamtenbezüge (um bis zu 40 Prozent) einhergehen. Für die schlecht bezahlten Polizisten oder Ärzte heißt das, dass sie vielleicht wieder auf die Unsitte des „Bakschisch“ zurückgreifen werden – die man im Hinblick auf die EU-Bewerbung gerade zu bekämpfen beginnt.
Die Krise könnte also die zaghaften Ansätze einer gesellschaftlichen „Normalisierung“ zunichte machen. In Serbien und Montenegro konnten sich die Leute zum ersten Mal seit über zwanzig Jahren ihren Lebensunterhalt allein durch ihr im Beruf erworbenes Einkommen sichern; Familienhaushalte mit Doppelverdienern bekamen sogar einen Kredit bei der Bank. Damit dürfte es bei sinkenden Einkommen, höheren Zinsen und steigender Inflation bald wieder vorbei sein. Die Mittelschicht, die sich nach dem sozialen Kahlschlag am Beginn der 1990er-Jahre gerade erst zu erholen begann, muss erneut den sozialen Abstieg fürchten. Aber genau diese Schicht unterstützt den EU-Beitritt und hat die demokratischen Gruppierungen, die für dieses Ziel eintreten, an die Macht gebrach.
Die EU ist zu sehr mit ihren inneren Problemen beschäftigt – und zu uneins in den meisten wichtigen Fragen – um Strategien und konkrete Vorstellungen zu entwickeln. Dass sie 1991 nicht in der Lage war, die Konflikte in Jugoslawien realistisch vorauszusehen, wird häufig damit erklärt, dass ihre politischen Strukturen damals noch nicht komplettiert waren. Diese Erklärung gilt heute nicht mehr. Selbst nachdem die Ratifizierung des revidierten Lissabon-Abkommens gesichert ist, scheint die EU nicht in der Lage zu sein, eine schlüssige Balkanpolitik zu formulieren.
Aus dem Französischen von Edgar Peinelt
Jean-Arnault Dérens ist Chefredakteur des Courrier des Balkans. Von ihm erschien zuletzt: „Bazars ottomans des Balkans“ (gemeinsam mit Laurent Geslin und Marylise Ortiz), Paris (Non Lieu) 2009.