13.11.2009

Die Viet Minh, die Taliban und das amerikanische Trauma

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Die Viet Minh, die Taliban und das amerikanische Trauma

von William Polk

Bing West ist ein Filmemacher, der als „eingebetteter“ Journalist mit US-Soldaten in Afghanistan unterwegs war. In seinem Dokumentarfilm „Combat Patrols Afghanistan“ vertritt er eine in den USA populäre Meinung: „Die Entscheidungsträger müssten sich mehr darauf konzentrieren, dem Feind schwere Verluste zuzufügen und Taliban zu fassen. Damit könnte man ihre Kampfbereitschaft erschüttern und ihre Netzwerke zerschlagen. Zudem müssen wir Kampftaktiken entwickeln, mit denen wir mehr von ihren Leuten töten können.“1

In Bing Wests Film kommen – wie in der US-Strategie für Afghanistan – das Land und seine Menschen nur am Rande vor. Dabei ist Afghanistan ein Land mit ganz besonderen Strukturen und Eigenheiten. Die traditionellen Herrscher wie auch die größte Community waren seit jeher Paschtunen, und die werden nun mal, ob uns das passt oder nicht, politisch wie militärisch durch niemand anders als die Taliban vertreten. Sie sind hier zu Hause, verankert in festen religiösen Überzeugungen – einer ziemlich primitiven Version des Islam – sowie in den sozialen und kulturellen Normen der südlichen Landesteile, die auf die eine oder andere Weise das Leben aller Afghanen bestimmen. Gegen die Taliban kämpfen heißt gegen Afghanistan kämpfen – und den Kampf können wir nicht gewinnen.

Als ich 1962 zum ersten Mal und im Auftrag des US-Außenministeriums in Afghanistan war, machte ich mir die wichtigsten Merkmale und Probleme des Landes in einem Bild klar: Afghanistan ist wie ein schrundiger Felsklotz, über den etwa 20 000 Tischtennisbälle verteilt sind. Die Bälle stehen für die autonomen „Dorfstaaten“, also all die dörflichen Gemeinschaften, die zwar die gleiche Religion und die gleichen kulturellen Traditionen haben, ansonsten aber ihre Angelegenheiten autonom regeln und wirtschaftlich weitgehend autark sind.

Etliche Jahre später stellten die Russen fest, dass sie zwar viele dieser Bälle zerstören konnten, jedoch außerstande waren, den Kämpfen durch Verhandlungen ein Ende zu setzen. In keiner Phase des Kriegs gelang es ihnen – nicht einmal unter Aufbietung massiver und äußerst mobiler militärischer Kräfte –, mehr als etwa 20 Prozent des Landes unter ihre Kontrolle zu bringen. Obwohl sie in den meisten der vielen Einzelgefechte den Sieg davontrugen, schafften sie es nicht, den Krieg zu gewinnen.

1989 zogen die Russen ab. In dem zehnjährigen Krieg, der die Sowjetunion an den Rand des Ruins brachte, waren 15 000 russische Soldaten umgekommen. Schon die Briten waren mit ihren Afghanistan-Feldzügen von 1842, von 1878 bis 1880 und von 1919 gescheitert. Heute meint der ehemalige russische Botschafter in Afghanistan Samir Kabulow, der fast 30 Jahre im Land war, dass die Amerikaner jetzt, nachdem sie alle Fehler der Russen wiederholt haben, ihre eigenen Fehler machten, „für die das Copyright nicht bei uns liegt“. Der Mann hat recht: Die USA wollen die Taliban militärisch zerschlagen, ohne nennenswerte eigene Verluste zu riskieren. Zugleich versuchen sie, die Taliban-Führung zu spalten und ihre Verankerung in der Bevölkerung aufzubrechen. Dafür setzen sie auf eine einheimische, aber von Washington bestimmte Regierung.

Hier drängt sich ein Vergleich mit dem Vietnamkrieg auf. Auch in Vietnam hat Washington vergeblich versucht, die Führung der Viet Minh (im Westen als Vietcong bekannt) zu spalten und „gemäßigte“ Kräfte zu (er)finden, die sich gegen die Hardliner behaupten sollten. Auch dort waren die USA ständig und mit großem Aufwand – etwa durch den Aufbau „strategischer Dörfer“2 – bemüht, das Verhältnis zwischen Viet Minh und der Bevölkerung zu unterminieren, und auch dort setzte man auf eine einheimische Regierung von Washingtons Gnaden. Allerdings bestanden damals größere Erfolgsaussichten als heute in Afghanistan, weil viele Vietnamesen mit der kommunistischen Ideologie der Viet Minh nichts anfangen konnten, wohingegen in Afghanistan der islamische Glaube und die Kultur der Taliban gewissermaßen „heimisch“ sind.

In den „Pentagon Papers“, der offiziellen Darstellung des Vietnamkriegs3 , heißt es: „Was unsere Versuche anbelangt, die neuerdings formulierte Theorie der Aufstandsbekämpfung (counterinsurgency) durch eine Kombination von militärischen, sozialen, psychologischen, ökonomischen und politischen Maßnahmen umzusetzen, können wir nur eines feststellen: Wir sind auf der ganzen Linie gescheitert.“ Nicht viel anders sah die Strategie von US-General David Petraeus für Afghanistan aus, die sein Nachfolger General Stanley McCrystal jetzt umzusetzen versucht.

1963 hielt ich als Mitglied des Policy Planning Council der damaligen Kennedy-Regierung einen Vortrag vor dem US National War College, in dem ich voraussagte, dass wir den Krieg in Vietnam verlieren würden. Wie man das in wissenschaftlichen Vorträgen damals gern machte, drückte ich unsere Probleme in den drei Bereichen Politik, Aufbau demokratischer Strukturen und Militär in Prozentzahlen aus: Das Gewicht der Politik lag meines Erachtens bei 80 Prozent; auf diesem Gebiet hatten die Viet Minh schon Ende der 1940er-Jahre die Oberhand gewonnen. Damals hätte Ho Chi Minh, wie selbst Präsident Eisenhower zugab, freie Wahlen auch im Süden Vietnams gewonnen. Die Bedeutung des Demokratieaufbaus bezifferte ich auf 15 Prozent. Ende der 1950er-Jahre hatten die Viet Minh die öffentliche Verwaltung im Süden praktisch lahmgelegt. Nachdem sie viele lokale Beamte, Polizisten, Lehrer und sogar Ärzte getötet hatten, konnten keine Steuern mehr erhoben, keine Briefe und Nachrichten übermittelt, keine öffentlichen Dienstleistungen mehr erbracht werden. Nach Einbruch der Dunkelheit konnte sich niemand mehr auf der Straße bewegen, nicht einmal südvietnamesische Soldaten. Die restlichen 5 Prozent entfielen auf den Bereich Militär, auf den wir uns in den folgenden zehn Jahren konzentrierten und dabei weder mit „counterinsurgency“-Aktionen noch durch massive Einsätze regulärer Truppen irgend etwas erreichten.

Diese Kategorien lassen sich auch auf das heutige Afghanistan anwenden: Politisch und kulturell haben wir, wenn überhaupt, nur geringen Einfluss. Das war auch schon bei den Briten und den Russen nicht anders. Den Afghanen war und ist jede politische Einmischung von außen zuwider. Konzentrieren wir uns also auf die Bereiche Aufbau demokratischer Strukturen und Kriegsführung.

Was die demokratischen Strukturen betrifft, so hat die US-Regierung – wie vom Kongress verlangt – eine Checkliste aufgestellt. Demnach sind ein paar Erfolge zu verzeichnen. Doch die sind keinesfalls von Dauer. Sobald sich unsere Truppen zurückziehen, werden die Taliban – wie früher die Viet Minh – alles wieder zunichtemachen, was entstanden ist oder wenigstens auf den Weg gebracht wurde.

In der New York Times vom 23. August dieses Jahres berichtete Richard A. Oppel jr. über die Situation in der südlichen Provinz Helmand. Der Gouverneur der Stadt Khan Neshin hatte ihm erzählt, was er alles nicht hat: „Keinen Beraterstab, keine Ärzte, keine Lehrer, keine Fachkräfte.“ Alles, was er habe, seien „Polizeioffiziere, die klauen, und ein Trupp afghanischer Soldaten, die sagen, sie seien hier auf Urlaub.“

In manchen Gegenden mag die Lage besser sein, in anderen sieht es sicher noch verheerender aus. In Prozentzahlen ausgedrückt: Unsere Anstrengungen beim „nation building“ machen in Afghanistan bestenfalls 8 Prozent aus, also halb so viel, wie ich im Fall Vietnams angenommen habe.

Die USA können zwar alle größeren bewaffneten Auseinandersetzungen gewinnen, aber die Aufständischen werden sich nur zurückziehen, um später wieder aufzutauchen. Zu halten sind Gebiete nur – das haben schon die Russen erfahren – durch massive und dauerhafte Militärpräsenz. Unter diesen Umständen dürfte der militärische Beitrag zu einem langfristigen Erfolg nicht mehr als 3 Prozent ausmachen. Alles in allem stehen die Chancen für einen „Sieg“ der USA also ungefähr eins zu zehn.

Betrachten wir eine weitere wichtige Parallele: Bei der Bevölkerung war die damalige südvietnamesische Regierung genauso verhasst und gefürchtet wie die heutige in Afghanistan. Die Saigoner Regierung war unglaublich korrupt: Beamte unterschlugen Hilfsgelder und Lebensmittel für die Bevölkerung, und sie verhökerten die Waffen und die militärische Ausrüstung, die sie von den USA bekommen hatten, an die feindlichen Viet Minh. Gefährliche Militäreinsätze überließen sie den US-Truppen. Ein Oberst der US-Marine hat mir einmal erzählt, dass seine Leute jedes Mal, wenn die südvietnamesische Armee über US-Aktionen informiert war, mit der Guerilla im Hinterhalt rechneten.

In Afghanistan ist die gegenwärtige Regierung, die wir unterstützen und überhaupt erst ins Amt gehievt haben, massiv am Drogenhandel beteiligt, sie verkauft Stellen bei der Polizei, der Armee, und im öffentlichen Dienst. Und Gerichtsverfahren werden nach der Höhe des Bestechungsgelds entschieden. Die Beamten reißen sich alles unter die Nägel, was sie zu fassen bekommen; einige sind schon dabei erwischt worden, wie sie Munition an die Taliban verkauften. Die Wahl vom August war nicht einmal eine Travestie, sie war ein Witz: Karsais Sieg wurde verkündet, bevor die Stimmen ausgezählt waren.

Dabei hat die Karsai-Regierung außerhalb von Kabul praktisch keinen Einfluss. Die US-Einheiten erleben immer wieder, dass die afghanischen Soldaten sich von gefährlichen Situationen möglichst fernhalten. Viele laufen auch zu den Taliban über. Und wie in Vietnam gehört die Nacht den von der Bevölkerung unterstützten Gegnern der USA.

Es gibt allerdings einen Unterschied: In Vietnam fehlten die verhassten und gefürchteten Warlords, die die Regierung weitgehend unter Kontrolle haben. Bei den Wahlen im August musste Karsai sich auf den berüchtigten usbekischen Warlord Raschid Dostum4 stützen, der damit de facto zum Mitregenten geworden ist. Da die Warlords allgemein mit den USA assoziiert werden, sind sie für die Propaganda der Taliban ein gefundenes Fressen.

Präsident Obama sagt, wir müssen gewinnen. US-Verteidigungsminister Robert Gates meint, wir müssten noch „ein paar Jahre“ im Land bleiben (Sir David Richards, der neue britische Generalstabschef, spricht von bis zu 40 Jahren). Was die Kosten anbelangt, ist nach der Erfahrung im Irak davon auszugehen, dass der Krieg in Afghanistan die USA zwischen drei und sechs Billionen Dollar kosten wird. Das wäre ein Viertel des jährlichen Bruttoinlandsprodukts und würde das für innenpolitische Vorhaben eingeplante Geld zum Großteil aufzehren. Afghanistan könnte damit für Obama zu dem Desaster werden, das der Vietnamkrieg für Präsident Lyndon B. Johnson war.

Obama hat dennoch entschieden, die Sache durchzuziehen, und Afghanistan deshalb zur Hauptquelle des Terrorismus erklärt. Aber seine Einschätzung, dass die dortigen Terroristen die USA angreifen werden, ist falsch. Zudem dürften militärische Aktionen den Terrorismus eher noch anheizen. Jeder weitere „Militärstiefel auf afghanischem Boden“ wird die Gefahren nur erhöhen. Dabei sind die Terroristen keineswegs auf das abgelegene Afghanistan mit seinen unterentwickelten Verkehrs- und Kommunikationswegen angewiesen: Die Attentäter vom 11. September hatten ihre Basis in Europa, künftige Terroristen können von jedem Ort der Welt aus operieren. Ein „Sieg“ des Westens in Afghanistan würde sie nur noch mehr in Rage bringen.

In den USA hat man das Wesen und die Ursachen des Terrorismus offenbar nicht begriffen, obwohl die eigenen Erfahrungen damit bis in die Zeit der Amerikanischen Revolution zurückreichen. Terrorismus ist die Waffe der Schwachen. Sie kommt zum Einsatz, wenn keine andere Möglichkeit besteht, sich gegen empfundenes Unrecht zur Wehr zu setzen. Das hat sich in den letzten 200 Jahren in aller Welt bestätigt: in Südamerika wie in Europa, in Palästina wie in der Türkei, in Südafrika, Kenia, Indien, Kaschmir, Afghanistan, Burma, Sri Lanka, Thailand und Malaysia, aber auch in China und Russland. Wenn wir die Ziele der Terroristen gutheißen, nennen wir sie Freiheitskämpfer. Was wir von ihren Aktionen halten, hängt also von ihren Zielen und nicht etwa von ihren Kampfmethoden ab.

Im Fall Afghanistan werfen wir Taliban und al-Qaida in einen Topf, obwohl sie ganz verschiedene Gruppen sind. Die Taliban sind eine nationale politische Organisation, eine Art interne Exilregierung, deren politische Basis die größte ethnische Gruppe in Afghanistan mit ihren traditionellen Führungsstrukturen ist. Al-Qaida hingegen ist ein loses Netz von Leuten aus der ganzen Welt; die einzelnen Gruppen operieren eigenständig, also ohne feste Organisation und Kommandozentrale. Ussama Bin Laden ist kein General, sondern eine Art Guru. Die Ziele, die er für al-Qaida formuliert, sind von Region zu Region unterschiedlich, beziehen sich aber in der Regel auf die erbärmliche und brutale Hinterlassenschaft des (zumeist, aber nicht nur westlichen) Imperialismus.

Der Einsatz militärischer Gewalt könnte sich am Ende als verhängnisvoll für die US-Gesellschaft, ihr politisches System und ihre Rechtsstaatlichkeit erweisen. Wir sollten nicht so unvorsichtig sein, die feine Linie zu übertreten, die unser Sicherheitsbedürfnis von der Tyrannei unterscheidet. Ein 40 Jahre währender Krieg in Afghanistan, wie ihn die neokonservativen Kräfte befürworten und die Generäle voraussagen, würde wahrscheinlich nicht die Niederlage des Feindes bedeuten, wohl aber zerstören, was uns so viel wert ist.

Washington muss seine Verteidigungspolitik auf wenige einfache Ziele konzentrieren. Wir müssen eine langfristige Strategie für die Lösung der Probleme entwickeln, von deren Nichtlösung die Terroristen am meisten profitieren. Für Afghanistan heißt dies, dass wir einen Kompromiss anstreben müssen, der den Weg zur nationalen Versöhnung freimacht, etwa in dem Geiste, den Obama mit seiner Rede im Juni in Kairo beschworen hatte. Vor allem aber dürfen wir nicht auf die Experten hören, die Obama ihre Rezepte für einen schnellen Sieg andienen. Denn die haben noch nie funktioniert.

Fußnoten: 1 „Close-in Firefight Afghanistan July 09“, www.youtube.com/. 2 Dieses von den USA und Südvietnam 1961 entwickelte Programm war dazu gedacht, den aufständischen Viet Minh durch Umsiedlungsaktionen die Unterstützung zu entziehen. 3 Der offizielle Titel lautet: „United States–Vietnam relations, 1945–1967: A Study prepared by the Department of Defence“. 4 Dostum wird vorgeworfen, er habe nach dem Sieg der alliierten Streitkräfte 2001 zugelassen, dass in seinem Herrschaftsgebiet tausende Taliban-Anhänger getötet wurden. Zur aktuellen Rolle der Warlords siehe: Amin Saikal, „Northern problem looms large“ in: The Guardian Weekly, 23. Oktober 2009.

Aus dem Englischen von Niels Kadritzke

William P. Polk lehrt Geschichte an der Chicago University und ist Präsident des dortigen Adlai Stevenson Institute of International Affairs.

Le Monde diplomatique vom 13.11.2009, von William Polk