Was die pakistanischen Taliban so stark macht
von Muhammad Idrees Ahmad
Als ich Mitte September in Peschawar ankam, krachten am selben Tag neun heftige Explosionen in die abendliche Stille. Vor jeder Explosion war das saugende Sirren einer Rakete zu hören, die im hohen Bogen auf die westliche Vorstadt Hayatabad zuflog. Die Attacken galten einem Posten der Grenzpolizei an dem Zaun, der Peschawar vom Stammesgebiet Khyber trennt.
Das war im September. Sieben Jahre zuvor, als ich länger in Peschawar lebte, war die Stadt voller afghanischer Flüchtlinge. Die ärmeren wohnten in den Slums von Kacha Garhi an der Jamrud Road, die hinauf zum Khyberpass führt. Viele bauten sich hier ein Geschäft auf und beherrschten sogar in einigen Stadteilen Handel und Transport. Einige gingen den Sommer über immer nach Afghanistan, weil es dort kühler ist. Aber Peschawar war ihnen Zuflucht, während in Afghanistan ewiger Krieg herrschte.
Inzwischen kehren viele der Flüchtlinge wieder ganz nach Afghanistan zurück, weil sie sich dort sicherer fühlen. In Peschawar gibt es jetzt überall Kontrollpunkte: Es hat viele Entführungen gegeben, Selbstmordattentate und Raketenangriffe, zumeist auf den Villenvorort Hayatabad.
Begonnen hat dieser Krieg 2002. Damals unternahm die pakistanische Armee erstmals – und unter starkem Druck der USA – begrenzte Militäraktionen in den halbautonomen Regionen entlang der pakistanischen North-West Frontier Province, den „Tribal Areas“ (abgekürzt Fata, nach der offiziellen Bezeichnung: Federally Administered Tribal Areas). Hier hatten sich die Taliban nach ihrer Vertreibung aus Afghanistan reorganisiert und neu gruppiert. Jalaluddin Haqqani, der alte Haudegen aus dem Kampf gegen die sowjetischen Truppen, etablierte das neue Zentrum seines Netzwerks in Nord-Waziristan. Gulbuddin Hekmatjar stationierte sei-ne Kämpfer der Hisb-i-Islami in Bajur.
Damals zeigte das pakistanische Militär allerdings wenig Neigung, sich mit propakistanischen Afghanen anzulegen, die für die Regierung in Islamabad sehr nützlich gegen den wachsenden Einfluss Indiens in Afghanistan waren. Stattdessen marschierte die Armee in Süd-Waziristan ein, um Jagd auf „ausländische“ Islamisten zu machen – vor allem auf Usbeken, Tschetschenen und Araber.
Kämpfer, Gäste, Verbündete
Doch die lokalen Stämme weigerten sich, getreu ihrem traditionellen Ehrenkodex, ihre „Gäste“ auszuliefern. Daraufhin startete die Armee kollektive Strafaktionen, wodurch sie die Stämme allerdings nur zu einer gemeinsamen Front zusammenschweißte. Auf diese Weise entstanden die pakistanischen Taliban – als Koalition ganz unterschiedlicher militanter Gruppen, die eigenständig sind und weniger diszipliniert agieren als ihre afghanischen Gesinnungsgenossen.
Stammesälteste, die ihnen im Weg standen, wurden entmachtet oder liquidiert. An die Spitze traten Männer wie der charismatische Nek Muhammad, der mit seinen 27 Jahren bereits ein prominenter Veteran des Afghanistankriegs ist – und ein eingeschworener Feind der Präsenz von US-Soldaten in Afghanistan.
Die Fata-Territorien waren schon in der Zeit des Kampfs gegen die Sowjets zur Transitregion für afghanische Rebellen und Waffen geworden, aber das hatte damals weder die Stammesstrukturen noch die Autorität der lokalen Regierung beeinträchtigt. Zu dieser Zeit habe es keine Aufständischen gegeben, erklärt Rustam Shah Mohmand, ein kluger Beobachter der Grenzregion, „denn die Politik der Regierung entsprach den Wünschen der Bevölkerung“. Mohmand nennt für die verfahrene Situation von heute drei Gründe: erstens die Entscheidung des früheren Präsidenten Pervez Musharraf, sich 2001 dem „Krieg gegen den Terror“ der USA anzuschließen; zweitens den bedingungslosen Einsatz militärischer Mittel für ein Unternehmen, das die Bevölkerung als „amerikanischen Krieg“ betrachtete; und drittens das Verschwinden beziehungsweise die als „rendition“ bezeichnete Entführung von verdächtigen – aber in vielen Fällen unschuldigen – Personen, die gegen eine Kopfprämie bei der US-Armee abgeliefert wurden.
All das trug zu der tiefen Kluft bei, die sich zwischen der öffentlichen Meinung und der Regierung in Islamabad öffnete und 2002 zu der Protestwahl in den Nordwestprovinzen führte, mit denen die MMA (Muttahida Majlis-i-Amal) an die Macht kam – eine Allianz religiöser Parteien, die sich gegen die Teilnahme am „Krieg gegen den Terror“ wandte. Noch größer wurde die Unsicherheit durch die Aushöhlung bewährter Institutionen, insbesondere des Amts des politischen Beauftragten, der seit den Zeiten des britisch-indischen Raj als Bindeglied zwischen der Zentralregierung und den Stammesoberen (maliks) fungiert hatte. Die Eigenverantwortlichkeit der Regionen wie auch die traditionellen Stammesstrukturen litten darunter.
Nach den Anschlägen auf Präsident Musharraf 2004 schickte die Regierung 5 000 Soldaten nach Süd-Waziristan, die von Kampfhubschraubern unterstützt wurden. Nach schweren Verlusten sah sich die Regierung jedoch zu einem Friedensvertrag mit Nek Muhammad gezwungen, wodurch die Feindseligkeiten für kurze Zeit beendet werden konnten – bis Muhammad am 18. Juni 2004 durch eine amerikanische Drohne getötet wurde. Die pakistanische Regierung übernahm die Verantwortung für den Angriff, dem noch viele weitere ähnliche folgen sollten, weil sie nicht zugeben wollte, dass ihre US-amerikanischen Verbündeten die Souveränität des Landes verletzt hatten.
Im August 2007 stürmten pakistanische Soldaten die von militanten Taliban-Anhängern besetzte Rote Moschee in Islamabad.1 Die Antwort war eine Serie terroristischer Anschläge der Islamisten, vor allem in den großen Städten. Darauf reagierte die Armee mit der Ausweitung ihrer Operationen auf weitere Fata-Regionen wie Bajaur, Mohmand und Khyber. Die Kämpfe waren heftig, keine von beiden Seiten wollte Boden preisgeben. Millionen Menschen wurden zu Flüchtlingen und die Wut auf die Regierung wuchs.
Im Bus nach Peschawar saß ich neben einen jungen Mann, der an der University of Punjab in Lahore englische Literatur studierte. Er fuhr nach Hause, um seine Familie aus der Khyber Agency (eine der sieben Fata-Regionen) herauszuholen. Auf die Frage, wer eigentlich die Taliban sind, antwortete er trocken: „Wir alle.“ Ein Taxifahrer zeigte auf den Strom von Flüchtlingen aus Bara in Khyber und meinte, die Taliban seien ein „Phantomfeind“, eine Erfindung der pakistanischen Herrschaftsschicht, um die ausländische Hilfe zu rechtfertigen.
Im Sommer 2007, als die Rote Moschee in Islambad belagert wurde, griff der Krieg auf die Zentralregion Pakistans über. Die anhaltenden Spannungen in der Region Malakand führten zum Einmarsch der Armee im Swat-Tal; zuvor war ein Friedensabkommen gescheitert, das die Regierung mit der lokalen Organisation Tehrik-i-Nifaz-i-Shariat-Muhammadi (TNSM) erreicht hatte. Die TNSM strebt die Rückkehr zum alten rechtlichen Status der Region Malakand an, in der drei Distrikte – Swat, Dir und Chitral – bis Anfang der 1970er-Jahre unabhängige Fürstentümer mit eigener Rechtsordnung gewesen waren.
Im Swat war diese Rechtsordnung eine lokale Version der Scharia, die nach dem Anschluss an Pakistan durch die pakistanischen Gesetze abgelöst wurde, ohne freilich eine entsprechende Infrastruktur dafür zu schaffen. Deshalb blieben Kriminalfälle und Rechtstreitigkeiten bei den lokalen Gerichten liegen, häufig auf unbestimmte Zeit. Auch deshalb häuften sich Ende der 1970er-Jahre die Forderungen nach einer Rückkehr zur alten Ordnung. Die stand auch im offiziellen Programm der islamistischen TNSM, die 1989 von Sufi Muhammad gegründet wurde.
Die TNSM ging zweimal zu bewaffneten Angriffen über, doch nach Zugeständnissen der Regierung (1994 unter Benazir Bhutto und 1999 unter Nawaz Sharif) konnte die Region wieder befriedet werden. 2002 kam das Ende der TNSM, nachdem Sufi Muhammad ein Kontingent von 10 000 Mann über die Grenze nach Afghanistan geführt hatte, wo die meisten von ihnen im Kampf gegen US-Truppen getötet oder gefangen genommen wurden. Muhammad selbst wurde bei seiner Rückkehr nach Pakistan verhaftet und verschwand in einem Gefängnis in Dera Ismail Khan.
2005 gelang es Muhammads Schwiegersohn Mullah Fazlullah, die TNSM wieder auferstehen zu lassen, und zwar in einer radikaleren Version. Neuen Zustrom erhielt die Gruppe durch islamistische Kämpfer, die vor den US-amerikanischen Drohnen aus Afghanistan über die Grenze flüchteten. Als im Dezember 2007 eine „Bewegung der Taliban Pakistans“ (Tehrik-i-Taliban Pakistan oder TTP) unter Führung von Baitullah Mehsud gegründet wurde, machte Fazlullah seine TNSM zu einer lokalen Untergruppe dieser TTP. Die neue Organisation konnte mit ihrer populistischen Rhetorik, ihrer zügigen Gerichtsbarkeit und ihrer Opposition gegen die alten Feudaleliten rasch ihren Rückhalt vor allem bei den Unterschichten ausbauen und viele unzufriedene Jugendliche rekrutieren.2
Den Grund sieht der frühere Diplomat und politische Kommentator Asif Ezdi im Versagen des Staats gegenüber der jungen Generation: „In einem Land, in dem die kleinen Leute kaum Chancen haben, die sozialen Barrieren zu überwinden, weil sie die Regierung wie das ganze politische System und die Eliten gegen sich haben, macht gerade die Kombination von revolutionärem mit religiösem Eifer die Taliban zu einer außerordentlich starken Kraft.“3
Zu radikal für die Taliban
Die wachsende Stärke der TTP machte sie auch für kriminelle Elemente attraktiv. Sie wollten sich nicht nur der Immunität gegenüber der brutalen Strafjustiz der Taliban versichern, sondern auch des Zugangs zu Waffen und der Unterstützung durch das mächtige Netzwerk der Islamisten. Damit terrorisierten sie nicht nur politische Rivalen, sondern auch die einfachen Leute. Dass zudem die Taliban, gemäß ihrer engen Interpretation des Islam, Schulunterricht für Mädchen verboten und auf hunderte von Schulen Bombenangriffe verübt wurden, kostete sie alsbald die Unterstützung, die sie anfangs im Swat genossen hatten. Die radikale Haltung der lokalen TNSM wurde sogar der Mutterorganisation TTP zu viel: Deren Sprecher Mulah Omar drängte Fazlullah, das Verbot von Mädchenschulen rückgängig zu machen.
Die nationalistische Regierung der North-West Frontier Province entließ, um den Einfluss der TTP einzudämmen, Sufi Muhammad im April 2008 aus der Haft, nachdem dieser der Gewalt abgeschworen hatte. Ihr Ziel war es, mit den Islamisten eine Friedensvereinbarung auszuhandeln, was im Februar 2009 in die Verabschiedung des Nizam-i-Adl mündete. Damit stimmte die Regierung der Gründung von Scharia-Gerichten zu, während die Islamisten als Gegenleistung in ihre Entwaffnung einwilligten. Am 14. April wurde das Gesetz nach vielen Verzögerungen abgesegnet, worauf sich die Lage im Swat für kurze Zeit einigermaßen normalisierte, obwohl beide Seiten nicht alle Punkte der Vereinbarung einhielten.
Westliche Kommentatoren – und einige einheimische Kollegen – beeilten sich, das Nizam-i-Adl-Gesetz als „Kapitulation vor den Taliban“ zu bezeichnen: Pakistan stehe am Rand des Abgrunds, seine Atomwaffen drohten in die Hände der Taliban zu gelangen, die bis auf 90 Kilometer an die Hauptstadt herangerückt waren. Die Regierung in Islamabad geriet immer stärker unter Druck. Als im Mai dieses Jahres ein Trupp von TPP-Kämpfern auf Motorrädern in das benachbarte Buner-Tal vordrangen, wurde diese Provokation von den Medien als Auftakt zum Marsch auf Islamabad dargestellt. Dann rollten die Panzer.
Der pakistanischen Armee gelang es, die islamistischen Kämpfer zu vertreiben, aber die Operation machte fast drei Millionen Menschen zu Flüchtlingen, und unter den Zivilisten, die blieben, gab es durch die Bombardierung von Wohngebieten viele Opfer. Die UNHCR sprach von der schlimmsten Flüchtlingskrise seit Ruanda, und die internationalen Hilfsorganisationen hatten Mühe, die Betroffenen zu versorgen. Mehr als 80 Prozent kamen bei Familienangehörigen, Freunden und mitfühlenden Privatleuten unter, die Übrigen konnten, wie die UNHCR eingestehen musste, nur mit einem Drittel der nötigen Hilfsgüter versorgt werden.
Keinerlei Unterstützung gab es von Seiten der pakistanischen Regierung, und ein Großteil der ausländischen Gelder landeten noch dazu in den Taschen korrupter Beamter. Die beiden größten Provinzen Sindh und Pandschab verweigerten die Aufnahme von Flüchtlingen, was die ethnische Dimension des Konflikts unterstreicht; als dessen Hauptopfer fühlen sich die Paschtunen aus dem Südwesten.
Der Vormarsch der Armee im Swat wurde – im Gegensatz zu den vorangegangenen Militäroperationen in den Fata-Regionen – von einem relativ großen Teil (41 Prozent) der Bevölkerung gebilligt und von Politikern, Militärs und einem Großteil der Medien begrüßt. Aber obwohl allgemein zugestanden wurde, dass das Einschreiten gegen die militanten und kriminellen Elemente dort unumgänglich war, hielten nicht alle Beobachter das gewaltsame Vorgehen für die einzig mögliche Lösung. So meint etwa der angesehene Journalist Rahimullah Yusufzai, dass der Krieg vermeidbar gewesen wäre: „Aber Pakistan ist kein freier und unabhängiger Akteur. Es gab massiven Druck seitens der USA und anderer Staaten, und dem konnte die Regierung nicht standhalten.“
Die Befürchtung, die islamistischen Kämpfer seien eine Bedrohung für das Land oder dessen Atomwaffen, teilt der Journalist nicht: „Die Regierung sagt selbst, dass es nicht mehr als 5 000 Taliban-Kämpfer waren; und die kontrollierten das Swat, waren in Buner einmarschiert, und da fragt man sich doch, wie viele Leute sie noch für den Marsch auf die Hauptstadt übrig hatten.“ Pakistan sei schließlich ein Land mit 173 Millionen Einwohnern, einer Armee von einer Million Mann und moderner Luftwaffe.
Über die Absichten der Taliban sagt Yusufzai: „Sie können die Hauptstadt gar nicht einnehmen, und sie wollen es auch nicht. Sie waren nur an der Malakand-Region interessiert, und selbst dort hat sich ihr Einfluss auf drei der sieben Distrikte beschränkt.“ Mit Hilfe von Sufi Muhammad hätte man die Auseinandersetzungen entschärfen und die Radikalen an den Rand drängen können.
Auch der politische Kolumnist Roedad Khan bezweifelt, dass es keine politische Alternative gegeben hatte: „Nie hat es einen Krieg gegeben, der unnötiger und schwerer zu rechtfertigen war – und noch schwerer zu gewinnen. Politische Mäßigung kann man nicht durch Bomben erzwingen, und angesichts der unkonventionellen Methoden der Aufständischen wird man mit Gewalt allein kaum Erfolg haben, denn der Gegner muss nicht gewinnen, es reicht ihm völlig, weiter zu kämpfen.“4
Die Regierung hat sich im Swat zum Sieger ausgerufen. Aber Mohmand meint, das Ganze könnte sich als Pyrrhussieg erweisen, wenn man nicht die sozialen, ökonomischen und politischen Ursachen anpackt, die zum Erstarken der Taliban geführt haben, und wenn es keinen umfassenden Wiederaufbau der Region gibt.
Einladung zur Verhaftung
Die Regierung in Islamabad hat ihren politischen Spielraum durch eine weitere kurzsichtige Aktion eingeschränkt: Im September lud sie Mitglieder des Beratungskomitees der Taliban zu Verhandlungen ein, um sie dann verhaften zu lassen. Ebenso gefährlich ist ihre Strategie, bewaffnete Milizen gegen die Taliban aufzustellen.5 Yusufzai weist darauf hin, dass dies in einer Region, in der sich Familien- und Stammesfehden über mehrere Generationen hinziehen können, nichts anderes bedeutet als die Fortsetzung der Gewalt auf unbestimmte Zeit. Die Taktik der Regierung, die Häuser von Taliban-Anhängern zu zerstören, lässt außer Acht, dass in den Grenzregionen ein Haus von einem ganzen Familienverband bewohnt wird. Wenn also der Staat ein Haus wegen der Sünden eines irregeleiteten Sohns zerstören lässt, treibt er damit den Aufständischen nur noch mehr Rekruten zu.
Heute herrscht im Swat ein prekärer Frieden. Die Zahl der Gewaltakte ist zwar zurückgegangen, aber seit dem Ende der größeren Armeeoperationen wurden mehr als 200 mutmaßliche Kämpfer oder Sympathisanten der Taliban durch außergerichtliche Hinrichtungen getötet, sei es von staatlichen Sicherheitskräften, sei es von lokalen Bürgerwehren. Die Bevölkerung lebt in ständiger Angst, berichtet Yusufzai: „Früher wurden die Leute von den Taliban terrorisiert, heute fürchten sie die Armee.“
„Jedem kann man anhängen, ein Talib zu sein“, meint er, außerdem würden manche Leute alte Rechnungen begleichen, indem sie ihre Gegenspieler fälschlich als Taliban-Sympathisanten bezeichnen: „Dann wird dein Haus zerstört und du wirst festgenommen, und am nächsten Tag findet man deine Leiche auf einem Feld. Die Leute sind sehr eingeschüchtert, sie haben Angst zu reden – und die Medien (die das Vorgehen der Armee zumeist begrüßt hatten) sind diskreditiert.“
Die Taliban blieben in der Offensive, und im Oktober griffen sie in Erwartung eines Vorstoßes der Armee nach Süd-Waziristan sogar noch häufiger an. Unter ihrem erst 28-jährigen Führer Hakimullah Mehsud starteten sie eine Serie von Bombenattentaten gegen Ziele in Hangu, Kohat, Shangla und Peschawar, die mit gezielter Grausamkeit vor allem zivile Todesopfer forderten. Mit der Ausweitung der Luftangriffe, mit denen die Armee ihre Bodenoffensive vorbereitete, nahm auch die Heftigkeit der Taliban-Angriffe zu. Deren Verbündete im Pandschab konnten sogar einen erfolgreichen Anschlag auf das Hauptquartier des Militärs in Rawalpindi verüben. Und eine Welle von Attentaten in der schwer bewachten Hauptstadt Islamabad machte vollends deutlich, wie prekär die Sicherheitslage in ganz Pakistan geworden ist.
All das schlägt sich in der öffentlichen Meinung Pakistans nieder. Nach einer Umfrage vom August 2009 sehen 59 Prozent der Befragten als größte Bedrohung die USA und nur 18 Prozent den traditionellen Rivalen Indien. Die Taliban wurde nur von 11 Prozent als größte Bedrohung genannt, wobei diese Zahl allerdings seit August gestiegen ist. Aus dieser Umfrage geht auch hervor, dass 41 Prozent die Militäroperation im Swat-Tal für richtig halten, während 43 Prozent eine politische Lösung befürworten.
Währenddessen gingen die Angriffe von US-Drohnen auf die Fata-Gebiete weiter. Von den 701 Personen, die zwischen dem 29. Januar 2008 und dem 8. April 2009 bei insgesamt 60 Luftschlägen ums Leben kamen, waren nach einem Untersuchungsbericht überwiegend Zivilisten, lediglich 14 Opfer waren mutmaßliche Kämpfer der Taliban.
Mit Obamas Politik der gezielten Tötungen in Pakistan steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sich die Taliban auf viele kleine Splittergruppen verteilen. Mohmand warnt, dass dadurch ein gefährlicherer und unberechenbarerer Gegner erwächst und ein möglicher Verhandlungspartner verloren geht, der in den verschiedenen Fraktion Einfluss besitzt. Es gibt bereits Beweise für „wilde“ Rundumschläge – wie das Attentat auf die Internationale Islamische Universität in Islamabad und den Meena-Basar in Peschawar. Die Taliban, die noch nie vor zivilen Opfern zurückgeschreckt sind, haben jede Beteiligung daran dementiert und beide Aktionen verurteilt.
Militärische Heilserwartung
Schon hat sich der Aufstand auf Teile des Pandschab ausgebreitet. Gleichwohl herrscht bei der pakistanischen Elite und bei westlichen Kommentatoren noch immer eine Art militärischer Heilserwartung. Sie glauben allen Ernstes, die islamistische Militanz einfach wegbomben zu können. Pakistans schlecht ausgerüstete Armee soll – unterstützt durch US-Hilfsgelder – das schaffen, was den USA und der Nato in Afghanistan nicht gelungen ist. Wer seine Stimme gegen den Krieg erhebt, wird schnell als Taliban-Sympathisant denunziert.
Eine solche Bereitschaft zu militärischen Lösungen ist besonders befremdlich zu einer Zeit, da in Washington der politische Konsens über den „guten Krieg“ in Afghanistan immer brüchiger wird und auch die Nato-Verbündeten ihr Engagement zu überdenken beginnen. In den USA versuchen zwar neokonservative Stimmen wie das Foreign Policy Institute (FPI), die zunehmende Kriegsmüdigkeit als mangelnde Entschlossenheit im Kampf gegen den globalen Terrorismus hinzustellen, doch ihre hauptsächliche Befürchtung ist dabei, dass ein Rückzug aus Afghanistan die Chancen auf einen Angriff gegen den Iran vermindern würde.
Ebenso falsch ist die Behauptung, dass sich Afghanistan nach einem Rückzug der westlichen Gruppen zu einem sicheren Zufluchtsort für Terroristen entwickeln könnte. Dieses Argument hält der Politikwissenschaftler Stephen Walt für reine Propaganda, denn keine Regierung in Kabul hätte auch nur das geringste Interesse, dem Westen einen weiteren Vorwand für eine neuerliche Invasion und Besetzung zu liefern. Im übrigen: Die meisten terroristischen Anschläge gegen westliche Ziele wurden im Westen geplant.6
Der Vormarsch von 28 000 pakistanischen Soldaten in Süd-Waziristan hat nun den nächsten Massenexodus ausgelöst, etwa ein Drittel der Bevölkerung befindet sich auf der Flucht. Zwar haben die pakistanischen Taliban nur noch wenige Helfer, aber ein Reporter hat berichtet, dass einige Flüchtlinge ihre Wut über die Regierung mit dem Slogan „Lang leben die Taliban“ artikulieren. Statt die Köpfe und Herzen zu gewinnen, treibt die Regierung die Bevölkerung dem Feind in die Arme.
Obwohl sich die politische Klasse alle Mühe gibt, den Krieg zu einen pakistanischen Krieg zu machen, hält sich bei den Betroffenen die Auffassung, dass die Armee den Krieg der USA führt. Und dieser Eindruck wird noch bestätigt durch Berichte, wonach sich die Pakistaner bei den Angriffen auf Waziristan auf Informationen stützten mussten, die von US-Beobachtungsdrohnen geliefert wurden.7
Ende Oktober reiste Hillary Clinton nach Pakistan, um die Unterstützung Washingtons für die Offensive der Armee zu demonstrieren. Einen Monat zuvor hatte eine Umfrage ergeben, dass 80 Prozent der Befragten die Zusammenarbeit mit den USA im Rahmen des „Antiterrorkriegs“ ablehnen. Der Zorn der Pakistaner entzündet sich vor allem an den Bedingungen, die der US-Senat an die 1,5-Milliarden-Dollar-Hilfe geknüpft hat, mit denen Washington die Unterstützung Islamabads für seine Politik erkauft.
Als Beleidigung empfand die pakistanische Öffentlichkeit auch die herablassende Äußerung, die Frau Clinton im Gespräch mit den wichtigsten TV-Journalisten des Landes machte: Die Pakistaner müssten diese Hilfe ja nicht annehmen, wenn sie die nicht wollten. Die Außenministerin musste sich ihrerseits vor einem Auditorium von Frauen die Frage gefallen lassen, ob nicht auch die Drohneneinsätze der USA eine Form von Terrorismus seien.
Clintons vermeintliche Charmeoffensive ging gründlich daneben: Wo immer sie auftrat, wurde sie kühl, wenn nicht gar feindlich empfangen. Eine Umfrage nach ihrer Abreise ergab, dass zwar eine knappe Mehrheit die Operation in Süd-Waziristan befürwortet, zugleich aber zwei Drittel der Befragten die Schuld für die Krise bei der pakistanischen Regierung oder bei den USA sehen. Nur ein Viertel gibt die Schuld den Taliban.
Nach Ansicht des Journalisten Syed Saleem Shahzad hat sich die Armee mit dem Einmarsch in Süd-Waziristan auf ein riskantes Spiel eingelassen. Die militärische Bedrohung sei auf diese Weise kaum auszuschalten: „Die letzten sieben Jahre haben vielmehr gezeigt, dass die militanten Kräfte in solchen Situationen immer profitiert haben.“ Da sich die Taliban im Swat bereits wieder formiert haben, hält er es für wahrscheinlich, dass sie in der Lage sind, „ihre alten Positionen zurückzuerobern, bevor die meisten wichtigen Versorgungswege wieder zugeschneit sind“.8 Derartige Aussichten scheinen die meisten Medien und westliche Kommentatoren nicht weiter zu beunruhigen.
Als die Raketen in Hayatabad einschlugen, stand auf einer Internetseite des Magazins Foreign Policy ein Artikel mit dem Titel „Alles wird gut in Pakistan“. Der Angriff auf den Vorort von Peschawar wurde Mangal Bah Afridi zugeschrieben, dem Führer der verbotenen Organisation Lashkar-i-Islam. Die „Soldaten des Islam“ waren einst mit der Regierung verbündet und wurden noch vor kurzem dafür gelobt, dass sie Jagd auf entflohene Häftlinge und Kleinkriminelle machten und den Nato-Konvois auf dem Weg nach Afghanistan als Geleitschutz gedient hatten. Bündnisse in diesem Teil Pakistans sind nach wie vor instabil – ein weiterer Grund, der dagegen spricht, Milizen für den Einsatz in Stellvertreterkriegen zu bewaffnen.
Am Morgen nach dem Raketenangriff ging ich zum örtlichen Markt, um Tandoori-Brot zu kaufen. Das hat früher zwei pakistanische Rupien gekostete, jetzt musste ich fünfzehn dafür bezahlen. Die Löhne sind nicht gestiegen, Inflation und Arbeitslosigkeit dagegen schon. Auf den Straßen sprach kein Mensch über die Gefahren für Leib und Leben durch die Anschläge. Aber alles klagte darüber, wie entsetzlich teuer das Leben geworden sei.
Aus dem Englischen von Niels Kadritzke
Muhammad Idrees Ahmad ist Journalist, Mitbegründer des politischen Weblogs pulsemedia.org.