Der zweite Tod des Hugo Chávez
Die Proteste in Venezuela werden immer heftiger, und die Regierung antwortet mit massiver Repression, anstatt Neuwahlen anzusetzen. Der Abschied vom Sozialismus des 21. Jahrhunderts hat aber schon vor vielen Jahren begonnen.
von Sandra Weiss
Hugo Chávez war gerade gewählt, als Fidel Castro ihn nach Havanna einlud und auch seinen Freund Gabriel García Márquez um seine Meinung zu dem venezolanischen Oberstleutnant bat. Venezuela mit seinen immensen Vorkommen an Erdöl, das Kuba immer schon gefehlt und in die Abhängigkeit von der Sowjetunion getrieben hatte, war eine lang gehegte Obsession Fidels. Schon 1967 war eine von Kuba unterstützte Invasion von Guerilleros in Muchurucuto an der venezolanischen Karibikküste gescheitert.
Nachdem der kubanische Regierungschef Chávez wohlwollend begutachtet hatte, flog der kolumbianische Autor mit dem Venezolaner von Havanna nach Caracas. Der Artikel, den García Márquez über seinen Reisegefährten schrieb, trägt den Titel: „Das Rätsel der zwei Chávez“. Der Beitrag für die Zeitschrift Cambio, an vielen Stellen von Sympathie für den „Underdog“ geprägt, endet allerdings zwiespältig: „Als er zwischen seinen Freunden und Leibwächtern verschwand, überkam mich der Eindruck, dass ich mich mit zwei unterschiedlichen Männern unterhalten hatte. Mit einem, dem das Schicksal die Gelegenheit gibt, sein Land zu retten. Und mit einem Schlangenbeschwörer, der als ein weiterer Despot in die Geschichte eingehen könnte.“1
Nie wieder hat García Márquez danach Venezuela betreten, nie wieder hat er sich über den später engen Verbündeten seines Freunds Fidel geäußert. „Ich will nicht manipuliert werden“, sagte er einem anderen guten Freund, dem venezolanischen Altlinken Teodoro Petkoff.2 Der Exguerillero war Mitbegründer der Bewegung zum Sozialismus (MAS), für die er Abgeordneter, Minister und Präsidentschaftskandidat war, bis er 1998 austrat. Grund dafür war der Parteibeschluss, die Präsidentschaftskandidatur von Chávez zu unterstützen.
„Mir gefiel seine autoritäre, militaristische Art nicht, die von linken Werten weit entfernt war“, sagte Petkoff später. Dabei sah er klar, dass Chávez die Antwort auf das Scheitern der beiden großen Parteien Venezuelas war. Die christdemokratische Copei und die sozialdemokratische AD hatten sich 40 Jahre an der Macht abgewechselt und waren zu korrupten Wahlmaschinen verkommen, ohne soziale Ambitionen oder langfristige Visionen. Südamerikas stabilste Demokratie, die sich nach dem Sturz von Marcos Pérez Jiménez 1958 etabliert und selbst die turbulenten Jahre des Kalten Kriegs überstanden hatte, als sich die Nachbarländer in Bürgerkriegen und Militärdiktaturen aufrieben, hatte ihre Legitimität verspielt. Chávez trat an, diese „Vierte Republik“ zu begraben.
Nur wenige teilten damals Petkoffs Bedenken. Sowohl in Venezuela als auch im Ausland flogen Chávez die Herzen zu. Bald schon sahen viele Linke in dem charismatischen Politiker, der mit Petrodollars außenpolitische Allianzen gegen die USA schmiedete und deren Vorhaben einer Gesamtamerikanischen Freihandelszone (FTAA) platzen ließ, einen zweiten Befreier Südamerikas. Der verhasste Neoliberalismus schien überwunden. Plötzlich wurden Vorhaben umgesetzt, von denen viele Linksintellektuelle immer geträumt hatten, für die es zuvor aber weder Geld noch politische Rückendeckung gegeben hatte: für den multistaatlichen Fernsehsender Telesur, für Spiel –und Dokumentarfilme unabhängiger Künstler, für das Internationale Forschungszentrum Francisco de Miranda, unter der Leitung des späteren Mitbegründers der spanischen Partei Podemos, Juan Carlos Monedero.
Die fetten Jahre der Bolivarischen Revolution
Ein lateinamerikanisches Land nach dem anderen wurde von Parteien und Kandidaten der Linken oder der linken Mitte erobert. Begünstigt wurde diese „rosa Welle“ dadurch, dass sich die USA in diesen Jahren wenig in Lateinamerika engagierten und den Schwerpunkt ihrer Außenpolitik in den Nahen und Mittleren Osten verlegten. Gemeinsam schmiedeten die Linksregierungen politische und wirtschaftliche Bündnisse.
Darüber hinaus erkaufte sich Chávez Sympathien durch verbilligte Erdöllieferungen an die notorisch mit Energieengpässen kämpfenden mittelamerikanischen und karibischen Staaten, von El Salvador und Nicaragua bis Jamaika und Haiti. Keiner aber bekam so viel wie Kuba, das mit täglich 90 000 Barrel Rohöl versorgt wurde und zudem noch Honorare kassierte für tausende nach Venezuela entsandte Militärberater, Geheimdienstler, Ärzte, Sporttrainer und Techniker. Die venezolanische Hilfe nahm den finanziellen Druck von der kubanischen Führung und ermöglichte ihr, den internen Reformprozess ihrer sozialistischen Mangelwirtschaft zu dosieren.
In den Armenvierteln von Venezuela wurden derweil auf kubanischen Rat hin Gesundheitsposten eingerichtet, Hospitäler und Schulen gebaut und Alphabetisierungskampagnen gestartet. Firmen und Landgüter wurden enteignet, kollektive Stadtgärten und Gemeindezentren errichtet und Kooperativen ins Leben gerufen. Der in der Geschichte Venezuelas beispiellose Höhenflug der Erdölpreise in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts lieferte Chávez den Treibstoff für seine „Bolivarische Revolution“. Zwischen 1999 und 2014 spülte das schwarze Gold knapp eine Billion US-Dollar in die Staatskassen.
Im Jahr 1936 hatte der Schriftsteller und Politiker Arturo Uslar Pietri seinen berühmten Artikel „Erdöl säen“ veröffentlicht, indem er forderte, mit den Öleinnahmen die anderen, produktiven Sektoren des Landes zu unterstützen, um eine ausgewogene Entwicklung zu erreichen. Die Idee geisterte seither durch die Politik, um jedoch bald in Sozialhilfemaßnahmen zu münden, die nur das Ziel hatten, die Wähler bei der Stange zu halten, ohne deren soziale Not langfristig zu verbessern. Auch Chávez nannte eines seiner Sozialprogramme „Erdöl-Saat“. Venezuela kam dadurch zunächst voran. Die Armut verringerte sich laut der UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika zwischen 2002 und 2012 von 49 auf 27 Prozent, die Bevölkerung wurde der Unesco zufolge alphabetisiert, Kindersterblichkeit und Unterernährung sanken auf historische Tiefstwerte.
Es waren die Jahre der Euphorie. Die Bolivarische Revolution versprach, da anzuknüpfen, wo die Kubanische Revolution gescheitert war: am Aufbau eines wirtschaftlich erfolgreichen Tropen-Sozialismus, 100 Prozent demokratisch legitimiert. Doch die Macht zu erobern und die Macht zu verwalten, waren zwei grundverschiedene Herausforderungen, wie sich bald herausstellen sollte.
Als Chávez an die Macht kam, hatte er zwar schon erfolgreich 15 Jahre hinter den Kulissen des Militärs intrigiert und zusammen mit Waffenkameraden wie Felipe Acosta, Jesús Urdaneta und Raúl Baduel einen Geheimbund zur Rettung des Vaterlandes geschmiedet. Doch politische Erfahrung oder einen konkreten Regierungsplan hatte er nicht. Großen Einfluss auf ihn hatte sein Bruder Adán, der Kommunist war und das Feindbild des bösen Kapitalisten prägte. Dies mischte sich mit nationalem Gedankengut, inspiriert von Simón Bolívar, dem Kämpfer für die Unabhängigkeit Südamerikas im 19. Jahrhundert.
Zu Beginn seiner Präsidentschaft empfing Chávez jeden, von dem er sich Inspiration versprach, vom neofaschistischen Argentinier Norberto Ceresole bis hin zum postmarxistischen deutschen Soziologen Heinz Dieterich, der den Begriff vom „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ prägte, in dem nicht mehr individuelle Lohnarbeit und Angebot und Nachfrage vorherrschen, sondern Kollektive und nach „wissenschaftlichen Kriterien“ festgesetzte Preise.
Doch Chávez war kein Theoretiker, sondern ein – wie ihn sein Biograf Alberto Barrera Tyszka definiert – unorthodoxer Autodidakt. Und ein genialer Taktiker mit Machtinstinkt. „Schon mit 19 wollte er Präsident werden“, hat Barrera beim Studium von Chávez Tagebüchern entdeckt. „Einmal an der Macht, stellte er den Staat in den Dienst seines persönlichen Projekts.“ Verschanzt hinter einem modernen, linken Diskurs, hat er ein immer autoritäreres System geschaffen. Kabinettssitzungen arteten in Monologe aus, wie sich ehemalige Minister erinnern. Kaum eine Entscheidung wurde delegiert – aber ihre Umsetzung befohlen, so abstrus sie auch anmutete. Auf Widerspruch, Kritik oder technische Einwände reagierte der Präsident ungehalten.
Mit Vorliebe regierte er live und in direktem Kontakt mit dem Volk, etwa in seiner Sondersendung „Aló Presidente“. Dort wurden Botschafter abgezogen, Minister gefeuert, Häuser verschenkt, Banken enteignet – meist ohne irgendeine Vorwarnung. 2370 Stunden, 59 volle Wochen seiner 14-jährigen Amtszeit hat Chávez einer Studie zufolge vor Fernsehkameras verbracht.3 „Chávez ist die Neuerfindung des lateinamerikanischen Militärcaudillos – mit Twitter und Internet“, sagt Barrera.
Im Kabinett herrschte derweil eine vergiftete Stimmung. „Telefongespräche wurden aufgezeichnet und Korruptionsdossiers über Kollegen erstellt“, erzählt der ehemalige Koordinator der verfassunggebenden Versammlung, Ernesto Alvarenga. Jeder versuchte sich beim Präsidenten einzuschmeicheln. Und Chávez spielte mit den Ambitionen seiner Untergebenen, setzte sie ab oder um, wie es ihm gerade beliebte. Bis auf wenige enge Vertraute konnte sich niemand seiner Position sicher sein. Alvarenga vergleicht das System mit einer „Religion, gestützt auf einen Partei- und Propagandaapparat“, und Chávez mit dem Vorsitzenden einer „Aktiengesellschaft, in der die Juniorteilhaber sich ständig untereinander zu übervorteilen versuchen“.
Instinktiv verstand Chávez, dass die konsumverwöhnte venezolanische Gesellschaft wenig Interesse an einem Arbeiter- und Bauernstaat hatte. „Sozialismus ist, dass ich mir im Sambil (dem größten Einkaufszentrum von Caracas) das kaufen kann, was mir gefällt“, fasste ein chavistischer Stadtteilaktivist seine Vorstellung vom Sozialismus zusammen. Es ging um Kaufkraft, Konsum und sozialen Aufstieg. „Chávez hat unseren Traum von Erdölmillionären wieder aufleben lassen. Die Vorstellung, dass wir ein reiches Land sind, in dem man nicht arbeiten muss, sondern nur den Reichtum umverteilen“, so Barrera Tyszka. Die internationale Konjunktur spielte Chávez in die Hände: 1999 übernahm er die Macht im Land bei einem Erdölpreis von 20 Dollar pro Barrel; Anfang des neuen Jahrtausends kletterte er im Zuge des chinesischen Wirtschaftswunders auf über 100 Dollar. Die Bevölkerung konnte dank des warmen Petrodollar-Regens ihren Konsum um 40 Prozent steigern.
Chávez, der Mischling aus ärmlichen Verhältnissen, war auch das Symbol für die Rache der Ausgeschlossenen. Dieses Gefühl schlachtete er in seinen Brandreden gegen die „Oligarchen und Kapitalisten“ gekonnt aus. Und es ging ja auch aufwärts für die Armen. Es gab neue Krankenhäuser, Sozialwohnungen, bolivarische Universitäten. In den Kooperativen und in enteigneten oder neu gegründeten Firmen entstanden Jobs für die Unterstützer des Präsidenten an der Basis. Zugleich weitete Chávez die Staatsbürokratie auf 2,8 Millionen Angestellte aus. Damit wurde der Staat zum größten Arbeitgeber. Politische Loyalität war bei der Besetzung der Posten wichtiger als Kenntnisse, Arbeitsmoral oder Effizienz.
Chávez tat Dinge, die keiner vor ihm gewagt hatte: Er begann etwa, Steuern einzutreiben. In den ersten Jahren konnte er so auch wirklich die Einnahmen außerhalb des Erdölsektors im Haushalt beträchtlich erhöhen. Unter Industrieminister Víctor Álvarez gab es Versuche, die Wirtschaft zu diversifizieren und mit den Unternehmern zu paktieren: „Wir vergaben billige Kredite, Zollbefreiungen für Importe von Investitionsgütern und Subventionen an die Unternehmer. Da war der Erdölpreis noch niedrig, und es war durchaus im Interesse der Regierung, die heimische Industrieproduktion anzuregen, auch um mehr Steuern einzunehmen“, sagte Álvarez.
Die soziale Umwälzung lief der Elite und dem Großteil der Mittelschicht aber zuwider. Das Gespenst des Kommunismus ging um. Ungefähr ein Viertel der Venezolaner waren und blieben überzeugte Antichavisten. Ihr Widerstand mündete 2002 in einen Streik im Ölsektor und einen dilettantischen Putschversuch. Das war der entscheidende Bruch: Chávez antwortete mit Enteignungen und war von da an besessen von der Idee, die Elite in die Knie zu zwingen. Er baute systematisch die Rolle des Staates in der Wirtschaft aus – etwa durch Bankenübernahmen oder Devisenkontrollen, die dem Staat in einem so importabhängigen Land wie Venezuela ein enormes Kontrollinstrument in die Hand gaben.4
Chávez’ Informationsminister prägte die Doktrin von der „Kommunikationshegemonie“. Die Regierung gründete Staatsmedien und vergab neue Konzessionen an ihre Sympathisanten, während sie unliebsamen Medien wie RCTV entzogen wurden. Andere wurden mit Strafen und Drohungen so lange schikaniert, bis die Eigentümer an regierungsnahe Investoren verkauften (Globovisión, Cadena Capriles). Regierungskritischer Journalismus findet seit 2012 vorrangig im Internet statt, auf Portalen wie Armando.info, La Patilla, Efecto Cocuyo und anderen.
Der gescheiterte Putsch verlieh Chávez nicht nur die Aura des Unbesiegbaren, sondern brachte nach entsprechenden Säuberungen auch den staatlichen Erdölkonzern PDVSA und das Militär unter seine Kontrolle. Als die Opposition 2005 die Wahlen wegen „fehlender demokratischer Garantien“ boykottierte, war der Weg frei für die Hegemonie der Chavisten über die Institutionen des Landes: Mitglieder des Wahlrats und des obersten Gerichts werden vom Parlament ernannt. Die Loyalität des Militärs erkaufte sich Chávez mit wirtschaftlichen Vorteilen – die Offiziere bekamen Posten, bei denen sich gut in die eigene Tasche wirtschaften ließ (Steuer- und Zollbehörde, Aufsicht über Flughäfen und Lebensmittelausgaben). Als zweites Standbein schuf er eine Miliz zur Verteidigung der Revolution, der rund eine halbe Million bewaffnete Zivilisten angehören, darunter auch die berüchtigten Motorradgangs „colectivos“, die zum Teil mit dem organisierten Verbrechen verbunden sind. Nach Erkenntnissen der International Crisis Group gehören Drogenhandel, Schutzgelderpressung und Waffenhandel zu ihren Finanzierungsquellen.4
Venezuelas Staatsapparat galt als traditionell korrupt. Chávez versuchte daher, ihn so weitgehend wie möglich zu umgehen. 2005 schuf er den Fonden (Fondo de Desarrollo Nacional), einen nicht im Haushalt verbuchten Fonds, auf dem die Hälfte der Deviseneinnahmen aus dem Erdölgeschäft landete. Daraus finanzierte er Sozialprogramme, die er „Missionen“ nannte, vom Gesundheitsposten über Alphabetisierungsprogramme bis zu Rentenzahlungen. Im Grund war dies jedoch ein riesiger Parallelhaushalt, der sich der parlamentarischen Kontrolle und auch sonst jeder Aufsicht durch unabhängige Dritte entzog.
Aus dem Ausland wurden Berater eingeflogen, um die staatlichen oder verstaatlichten Dienstleister auf Vordermann zu bringen. Die Uruguayer beispielsweise versuchten das Chaos der Stromversorgung zu lichten, die ursprünglich in der Hand öffentlicher und privater Regionalversorger waren und von Chávez per Dekret 2007 in der staatlichen Gesellschaft Corpoelec zusammengeführt wurden. „Es gab Gegenden, wo niemand Strom bezahlte oder große Firmen einen Sondertarif bekamen“, erzählte einer der Berater. Doch selbst die Uruguayer, erfahren im effizienten Management von Staatsfirmen, scheiterten am Schlendrian und der Korruption. Unter Chávez verschlimmerte ein weiterer Faktor die Situation: Vetternwirtschaft und politische Intrigen. Viel zu niedrige Strompreise, null Energiesparen, mangelnde Wartung der bestehenden Anlagen und fehlende Investition in alternative Energiequellen sind für die seit 2014 häufigen Stromausfälle verantwortlich.
Die einzige Abstimmung, die der Präsident je verlor
Der Versuch, den Staat zum Unternehmer zu machen, scheiterte komplett. 2009 lancierte Chávez ein eigenes, in Venezuela gefertigtes Billighandy namens „vergatario“. Die Produktion kam nie richtig in Schwung, die Nachfrage nach dem minderwertigen Produkt hielt sich in Grenzen, und ein Jahr später schloss die Staatsfirma wieder, nachdem sie gerade 24 Prozent der ursprünglich anvisierten Geräte gefertigt, aber das komplette Investitionskapital verpulvert hatte. Ähnlich erging es den Joint-Ventures mit dem Iran zum Bau von Autos und (den in Venezuela gänzlich unüblichen) Fahrrädern oder dem zusammen mit Kuba errichteten Zuckerkombinat „Ezequiel Zamora“ in Chávez’ Heimatstaat Barinas. Zweimal steckte der Staat umgerechnet knapp 300 Millionen US-Dollar in den Bau, beim ersten Mal wurde davon nicht viel mehr als das Fundament gelegt, beim zweiten Mal eine Fabrik hingestellt, die ständig mit Ausfällen zu kämpfen hat und nicht einmal 20 Prozent des Plansolls erfüllt.
Später stellte sich heraus, dass die für den Bau verantwortlichen Militärs zusammen mit zwei Buchprüfern fast 290 Millionen Dollar unterschlagen hatten. Der für die Bauaufsicht verantwortliche General Delfín Gómez, der die Unregelmäßigkeiten an die Zentralregierung gemeldet hatte, wurde zu sieben Jahren Haft verurteilt und anschließend in den Ruhestand versetzt. Er sei zum Sündenbock gemacht worden, erklärte er, verantwortlich sei Geschäftsführer Antonio Albarrán. Doch der – ein Busenfreund von Chávez’ Bruder Adán, dem Gouverneur von Barinas – hatte sich politisch abgesichert. Die Gelder waren nicht nur in private Taschen geleitet worden, sondern auch in den Wahlkampf der Sozialistischen Partei (PSUV). Albarrán hatte danach noch verschiedene Funktionen in der Partei und der Regionalregierung von Barinas inne.
Nach Berechnungen kritischer Beobachter sind insgesamt rund 300 Milliarden US-Dollar in dunklen Kanälen verschwunden, zumeist auf ausländischen Konten von Regierungsanhängern. „Es gab viele Wege der Unterschlagung. Der Fonden war ein solches Fass ohne Boden“, sagt der ehemalige Gouverneur und Mitbegründer der MAS, Carlos Tablante, der zwei Bücher über die Korruption im Sozialismus geschrieben hat.5
Ein anderer Mechanismus waren die Wechselkurskontrollen. Über Beziehungen bekamen der Regierung nahestehende Importeure Dollars zum Vorzugspreis, die sie dann auf dem Schwarzmarkt um das 400-Fache weiterverkaufen konnten.6 Oft importierten sie gar nichts oder nur einen Bruchteil der angegebenen Waren. Auch mit dem Schmuggel von billigem Benzin und preisgebundenen Lebensmitteln zwischen Kolumbien und Venezuela konnte die Mafia – unter Beteiligung der Sicherheitskräfte – zum Teil höhere Gewinnspannen erzielen als mit dem Drogenhandel. Wegen Drogengeschäften laufen unter anderem in den USA Verfahren gegen hohe Militärs. Für Tablante ist klar, wer die Verantwortung trägt: „der Staat, der dafür die Strukturen geschaffen hat und den Kriminellen Straffreiheit garantiert, sofern sie politisch loyal sind.“
Der Chávez-Biograf Barrera erklärt: „Eine gute und effiziente Regierungsführung hat Chávez nie interessiert. Er wollte in die Geschichte eingehen.“ Das hatte zur Folge, dass die Spannungen wuchsen zwischen seinen venezolanischen Beratern von der Universidad Central, die ihn drängten, die Korruption zu bekämpfen, und seinen kubanischen Beratern, die sie im Namen des Machterhalts tolerierten. Zum Bruch kam es 2007. Schon im Vorfeld des Referendums im Dezember, bei dem Chávez die Bevölkerung unter anderem über die Möglichkeit seiner unbegrenzten Wiederwahl entscheiden ließ, warnten ihn die venezolanischen Berater, dass es dafür weder Verständnis noch ausreichenden Rückhalt in der Bevölkerung gebe. Sie behielten recht. Das Nein siegte knapp mit 51 Prozent. Es war die einzige Abstimmung, die Chávez je verlor. „Seither hat er uns nie wieder kontaktiert“, erzählt der Biologe Alex Fergusson, der zu dem Intellektuellenzirkel um Edgardo Lander gehörte und die Regierung damals in Umweltfragen beriet.
Chávez hat den Ausgang seines Experiments selbst nicht mehr erlebt. Nach seinem frühen Krebstod im März 2013 wurde er im Cuártel de la Montaña bestattet, einem Militärmuseum auf einer Anhöhe, umgeben von Armensiedlungen, die einst seine Hochburgen waren. Kurz vor seinem Tod ernannte er noch seinen langjährigen Minister Nicolás Maduro zum Vizepräsidenten. Doch auch in Venezuela zeigte sich, dass die Nachfolgeregelung einer der großen Schwachpunkte charismatischer Führersysteme ist, denn politisches Talent lässt sich gar nicht und Legitimität nur begrenzt übertragen.
Erneut wurde deutlich, wie der Erdölpreis und politische Zyklen zusammenhängen. Wie die Vierte Republik mit dem Verfall der Erdölpreise in den 1980er Jahren in die Krise kam, ergeht es nun Chávez’ Fünfter Republik seit 2014. Zusätzlich zum Preisverfall sank auch noch die Fördermenge von einst 3 Millionen auf rund 2 Millionen Barrel am Tag. Nach 15 Jahren „sozialistischer“ Experimente lag auch die heimische Industrie- und Lebensmittelproduktion darnieder. Venezuelas Einnahmen reichten nicht mehr, um die Importe zu finanzieren. Unter Maduro verschuldete sich das Land rasant, vor allem bei Partnern wie China und Russland, denen es sein Erdöl verpfändete. Aber auch an die Schweiz wurden Goldreserven verscherbelt. Venezuelas Erdölreichtum verwandelte sich in eine vom Schuldenberg erdrückte Mangelwirtschaft, in der allein der Schwarzmarkt blühte.
Die Realität ist brutal: Rezession und eine Inflation von um die 700 Prozent haben die Gehälter pulverisiert. Ein Universitätsprofessor, der vor 30 Jahren ein Einstiegsgehalt von 2200 US-Dollar hatte, erhält heute den Gegenwert von 350 US-Dollar. Die Armut ist auf über 80 Prozent gestiegen.7 Rund 1,5 Millionen Venezolaner, vor allem der Mittelschicht, haben das Land in den letzten 20 Jahren verlassen. Caracas ist mit 120 Morden auf 100 000 Einwohner die gefährlichste Stadt der Welt außerhalb von Kriegsgebieten. Morgens um vier sind die Kleinbusse voller Menschen, die in der Hoffnung auf Medikamente und Grundnahrungsmittel schon Stunden vor den Öffnungszeiten lange Schlangen vor Apotheken und Supermärkten bilden. Hunderttausende leben davon, dass sie die rationierten Waren später auf dem Schwarzmarkt weiterverkaufen. Knapp 5000 Industriebetriebe haben dichtgemacht, nur 3 Millionen der insgesamt 14 Millionen erwerbsfähigen Venezolaner haben noch einen festen Arbeitsplatz.
Als bei den Parlamentswahlen im Dezember 2015 der damalige Vizepräsident Jorge Arreaza, Schwiegersohn von Chávez, in der Schule unweit des Cuártel de la Montaña seine Stimme abgab – eskortiert von bewaffneten Bodyguards auf nagelneuen BMW-Motorrädern ohne Kennzeichen –, warteten keine jubelnden Menschenmassen mehr wie früher. Aus einem vorbeifahrenden klapprigen Ford winkte eine Frau und rief lauthals den Wahlslogan der bürgerlichen Opposition.
Die verbale Ohrfeige entsprach dem Wahlergebnis: Die Opposition errang zwei Drittel der Sitze. Eine Mehrheit, die – wie sich schon bald herausstellte – zu nichts nütze war, denn Maduro regiert seither per Dekret, gestützt vom Militär und der gleichgeschalteten Justiz. Umfragen zufolge wollen 80 Prozent der Venezolaner Neuwahlen. Doch die Kamarilla der Privilegierten fürchtet sich vor Strafverfolgung und ist deshalb unter keinen Umständen zu Wahlen bereit, was das Land an den Rande eines Bürgerkriegs geführt hat. Die Sicherheitskräfte verteidigen mit Panzerwagen, Wasserwerfern und Tränengas das Stadtzentrum von Caracas, in dem sich die Regierung verschanzt hat, gegen oppositionelle Demonstranten. In früheren chavistischen Hochburgen brennen nun Tag und Nacht die Barrikaden und plündernde Banden verbreiten Angst und Schrecken.
1 Cambio, Bogotá, 1. Januar 1999: www.voltairenet.org/article120084.html.
2 konzapata.com/2016/03/el-enigma-de-los-dos-chavez-que-teodoro-petkoff-ayudo-a-despejar/.
4 es.insightcrime.org/analisis/colectivos-izquierda-venezuela-criminales-revolucionarios.
5 elgransaqueo.com/libro-el-gran-saqueo.
6 Vgl. Gregory Wilpert, „Venezuelas Öl und der Klassenkampf“, Le Monde diplomatique, Dezember 2013.
7 Vgl. latina-press.com/news/234110-venezuela-82-prozent-der-haushalte-leben-in-armut/.
Alle wörtlichen Zitate mit Ausnahme des Auszugs aus dem Text von García Márquez stammen aus Interviews mit der Autorin.
Sandra Weiss ist Politologin und Journalistin in Puebla, Mexiko.
© Le Monde diplomatique, Berlin