China rockt
In den coolen Clubs geht es um Pogo und Bier, nicht um Korruption
von Léo de Boisgisson
Heavy Metal wurde in den 1980er Jahren nach China eingeschmuggelt und erlebte in den 1990er Jahren dank Bands wie Black Panther, Cobra oder Tang Dynasty eine kurze Hochphase. Mit dem Album „A Dream Return to Tang Dynasty“, erschienen 1991 beim taiwanesischen Label Magic Stone, erreichte Tang Dynasty Verkaufszahlen in Millionenhöhe. Doch der Erfolg war nicht von Dauer. Die Songs über die glorreiche Vergangenheit kamen nicht mehr an bei einer Jugend, die sich vor allem für Geldverdienen, Konsum und Karaoke interessierte.
Ohne Zugang zu Vertriebskanälen überdauerten die Rocker in den rechtsfreien Räumen der Hauptstadt. Die westlichen Medien stürzten sich derweil auf die noch junge Punk-Bewegung. Auf dem chinesischen CD-Markt passierte nicht viel. Erst mit dem Aufschwung des globalen Handels veränderte sich die Sachlage. Auf dem chinesischen Schwarzmarkt wurden plötzlich massenhaft CDs aus Lagerbeständen in Europa und den USA angeboten. Millionen Jugendliche entdeckten so unterschiedliche Musiker wie David Bowie, Guns N’ Roses, Nirvana oder die Beatles. Diese CDs, dakou (gelocht) genannt, beeinflussten den Musikgeschmack neuer Zielgruppen und wurden zur Inspirationsquelle für viele Musiker.
Peking wurde zum Zentrum eines kreativen Aufbruchs, es entstanden neue Labels wie Modern Sky von Shen Lihui. 1997 in einer alten Druckerei gegründet, verlieh Modern Sky, inzwischen Chinas größtes Indie-Label, dem Rock mit Gruppen wie New Pants bald ein moderneres Image. Nach den Olympischen Spielen 2008 nahm trotz schwindelerregender Immobilienpreise, administrativer Hürden und polizeilicher Überwachung auch die Zahl der Rockbühnen in Peking deutlich zu. Heute steht Peking Städten wie London oder Paris kaum noch nach. In den wichtigsten Clubs School, Temple, Yugong Yishan, DDC und Fruity Space treten jede Woche Punk-, Post-Rock-, Noise-, Folk- oder Metal-Bands vor einem szenigen Publikum auf.
Die 2010er Jahre standen im Zeichen einer Generation von Einzelkindern, die mit dem Internet aufgewachsen waren, die Möglichkeiten der digitalen Musikproduktion kannten, sich in sozialen Netzwerken tummelten und die nun auch die in mittelgroßen Städten aufkommenden Livekonzerte besuchten.
In Peking experimentieren inzwischen unzählige Gruppen, jede mit unverwechselbarem Sound, rund um Psychedelic Rock und Elektro. Die meisten dieser Gruppen stehen bei Modern Sky oder Maybe Mars unter Vertrag, den beiden Labels, die die Indie-Szene dominieren. Andere produzieren ihre Platten lieber selbst.1
Am Entstehen dieser Alternativszene waren auch Laowai (umgangssprachlich für: Ausländer) beteiligt: Als Clubbesitzer, Agenten oder Künstler bauten sie Brücken zwischen Peking, Europa und den USA. Inzwischen begegnet man in Peking, Schanghai, Chengdu oder Wuhan nicht nur Konzertplakaten von Metallica oder Public Image Limited (PIL), sondern auch von Gruppen wie J.C. Satàn, die ein hochspezialisiertes Nischenpublikum anziehen.
Rockmusik made in China macht auch außerhalb der Staatsgrenzen von sich reden. Nicht umsonst gibt es seit zwei, drei Jahren zahlreiche internationale Festivals und Messen, bei denen Kontakte geknüpft werden. Dank dieser Netzwerke treten inzwischen viele chinesische Gruppen auf Festivals wie Glastonbury im Südwesten Englands oder den Trans Musicales in Rennes auf – ohne dass die chinesische Regierung sich einmischt oder irgendwelche Zuschüsse zahlt.
Nur wenige Musiker wagen sich allerdings an kritische Themen. Schließlich droht immer noch Zensur: Konzerte werden verboten oder Clubs geschlossen. Liu Fei ist Manager der School Bar, ihr Slogan „Bad education“ prangt in dicken roten Lettern auf seinem T-Shirt. Er sagt, selbst die Texte der Punks, die bei ihm auftreten, seien nicht wirklich politisch, es gehe mehr um Pogo und Bier als um Korruption.
Ein paar Störenfriede trauen sich trotz allem, auf die Schwachstellen des modernen chinesischen Traums aufmerksam zu machen. Der rebellischste und bekannteste von ihnen ist Zuo Xiaozuzhou (geboren 1970), der oft der „chinesische Leonard Cohen“ genannt wird. Er bezieht Position zu Themen wie Umweltverschmutzung, Enteignungen oder willkürlichen Verhaftungen. Sein Weibo-Account (das chinesische Pendant zu Twitter) mit knapp 2 Millionen Followern wurde schon einmal von der Zensur gesperrt. Auch der junge Rapper MC Dawei gibt nicht klein bei. Er kommentiert in bissigen improvisierten Texten die scheinheilige Unterwürfigkeit reicher Chinesen gegenüber der Einheitspartei und verfasst elliptische Gedichte über das Konsumkoma, in das sein Land gefallen sei. Sein jüngstes Album heißt: „Wollust und Narben des verunglimpften Menschen“.
In den letzten zehn Jahren erlebte die chinesische Rockmusik einen Kreativitätsschub. Das Modern-Sky-Festival ist das beste Beispiel für umtriebiges Unternehmertum in der Branche: Das Festival öffnete sich dem Pop, lockte mit aggressivem Sponsoring junge Leute aus der wohlhabenden Mittelschicht an und expandierte in kürzester Zeit in ganz China und sogar bis nach New York und Helsinki.
Modern-Sky-Chef Shen Lihui will eine Verbindung aufbauen zwischen dem Live-Erlebnis bei einem Festival und dem digitalen Musikgenuss der Verbraucher. Inzwischen verfügt der „Jack Ma der Musik“ (nach dem milliardenschweren Gründer des chinesischen Onlinehändlers Alibaba) über eine Investitionssumme von 130 Millionen Yuan (17,6 Millionen Euro), die ein Konzern aus Schanghai zur Verfügung gestellt hat. Shen Lihui hat Geld in das britische Festival Liverpool Sound City investiert und Apps zum Onlineticketkauf und zum Streaming von Konzerten auf den Markt gebracht. Und nebenbei managt er noch etwa 30 Musiker.2
MC Dawei rappt über Wollust
Dank der Summen, die in die Musikszene fließen, stehen den Künstlern heute viel mehr Möglichkeiten offen. Andererseits setzen die oft aus der Technologiebranche kommenden Geldgeber vor allem auf die Bedürfnisse der Verbraucher. Yu Yang, verantwortlich für das Programm auf dem Midi Modern Music Festival, sagt: „Seit ein paar Jahren denken manche Leute aus der Musikbranche mehr ans Geld als an alles andere. Die Musiker werden manipuliert. Sie unterzeichnen Knebelverträge und müssen ihre Urheberrechte auf Lebenszeit an diese Unternehmen abtreten. Für die ist die Musik bloß Content, den man zu Geld machen kann, nicht die Frucht künstlerischer Arbeit. Das ist verheerend für die Indie-Szene.“
Das China der 2010er Jahre hat Ähnlichkeiten mit den USA der 1990er Jahre. Die Internetblase brachte viele Start-ups hervor, von denen sich einige zu Branchenriesen entwickelten, wie Tencent (soziale Netzwerke, WeChat, der Sofortnachrichtendienst QQ) oder der Onlinehändler Alibaba. Daneben existieren zahlreiche kleinere Plattformen (wie Kugou, NetEase oder Letv), die um ihren Anteil an dem riesigen chinesischen Binnenmarkt kämpfen (700 Millionen User, von denen 90 Prozent ein Smartphone haben).
Global spielt Chinas Musikindustrie noch keine allzu große Rolle (2014 belegte sie Platz 21 auf der Weltrangliste), weil sie bislang kein wirtschaftliches Modell hat, mit dem sie erfolgreich sein kann. Für die User ist alles kostenlos, während die unabhängigen Musiker von den Streamingdiensten fast keine Vergütung bekommen. Yin Liang, der Chef der Plattform Letv, geht davon aus, dass der digitale Markt erst in fünf Jahren rentabel sein wird: wenn die Raubkopien aus dem Netz verbannt sind und „Paketlösungen“ angeboten werden können. Dann wird die Musik nur eine Komponente unter anderen sein, neben Videoclips, Filmen und interaktiven Angeboten. Der Markt ist offenbar vielversprechend.
Und doch gehören Zensur und Konzertabsagen zur Realität, vor allem seit Xi Jinping 2013 an die Macht kam. Der Staatspräsident möchte die „sozialistischen chinesischen Werte“ neu beleben, und die Rockmusik gehört nicht wirklich dazu. 2015 wurden einige große Festivals abgesagt, vor allem in Peking. Insbesondere das Midi Festival und das Modern Sky Festival mussten in die Provinz ausweichen. Lieder, die als gefährdend für die Stabilität des Landes eingestuft wurden, darunter viel US-amerikanischer Rap, aber auch taiwanische Popsongs, wurden von den Plattformen entfernt.
Doch trotz der ganzen Propaganda können junge Musiker, die im Zeitalter der Öffnung und der globalen Vernetzung aufgewachsen sind, mit den sozialistischen Werten nicht mehr viel anfangen. Zwischen ideologischen Empfindlichkeiten und den Anforderungen des Markts muss so jeder Künstler seinen eigenen Weg finden.
2 Siehe „Bienvenue dans l’empire Modern Sky“, Asialyst.com, 19. August 2015.
Aus dem Französischen von Cordula Didion
Léo de Boisgisson ist Journalist und arbeitet als Konzertveranstalter in China.