11.05.2017

Eine russische Stimme für die freie Welt

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Eine russische Stimme für die freie Welt

von Maxime Audinet

Rémy Markowitsch, iWe, 2006, Kunststoff, Farbe, Licht, 150 x 120 x 80 cm
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Anfang Dezember 2015 brachte Russlands wichtigster Auslandssender RT (früher: Russia Today) zur Feier seines zehnjährigen Bestehens einen kurzen Werbefilm, in dem Chefredakteurin Margarita Simonjan die Moskauer Studios vorführt. In eine alte sowjetische Militäruniform gekleidet, inspiziert sie die Arbeit ihrer Mitarbeiter. Es treten auf: die Putzfrau Ljuba, die laut Simonjan ihre Befehle direkt aus dem Kreml erhalte; eine Journalistin, die im Studio Kriegsreporterin spielt und Arabisch von einem Teleprompter abliest; als syrische Kämpfer verkleidete Komparsen, die mit Platzpatronen um sich ballern; mehrere ausländische RT-Moderatoren, die in einem feuchten ­Gemäuer herumlungern; und der Brite Kevin Owen, der mit Handschellen an seinen Studioschreibtisch gefesselt ist.

Das selbstironische Video ist eine Reaktion auf die vielen Kritiker von RT, die den TV-Sender als Propagandainstrument des Kreml bezeichnen. Nach dem zehn Jahre währenden Bemühen, den Rückstand in Sachen „Public Di­plo­macy“ aufzuholen, erläuterte Präsident Wladimir Putin die Zielsetzung von RT wie folgt: „Es geht darum, dass unsere und Ihre Stimme Gehör findet. Nicht nur bei den Politikern, sondern auch und vor allem bei den ganz normalen Bürgern in aller Welt.“

Für die russische Außenpolitik war die Orange Revolution 2004 in der Ukraine ein Wendepunkt. Für den Kreml handelte es sich um eine Einmischung des Westens unter maßgeblicher Beteiligung von NGOs. Um seine außenpolitische Schwäche zu kompensieren, gründete Moskau kurz darauf die Mediengruppe Russia Today. Auch im Geor­gienkrieg vom Sommer 2008 wurde die Berichterstattung in den westlichen Medien als zu einseitig wahrgenommen. RT sollte fortan als globales Medium eine andere Sicht auf das Weltgeschehen verbreiten.

Die Internationalisierung der Mediengruppe kam rasch voran. 2007 nahm der arabischsprachige Sender Rusija al-Yaum seine Arbeit auf (heute: RT Arabic), 2009 der spanischsprachige Dienst, 2010 ein RT-Ableger für die Vereinigten Staaten, 2014 einer für Großbritan­nien, und im selben Jahr starteten die beiden Internetportale für das französische und das deutschsprachige Publikum.

Heute beschäftigt RT 2100 Leute in 19 Ländern. Mit wöchentlich 70 Millio­nen Zuschauern1 rangiert RT hinter dem BBC World Service, aber vor der Deutschen Welle und dem französischen Auslandssender France 24. Mit 8 Millionen in den USA und 36 Millionen in Europa belegt RT in seinen beiden wichtigsten Zielgebieten Platz fünf bei den Einschaltquoten der Auslandssender. Seit dem Start hat sich das Budget der Gruppe von 29 Millionen Euro auf 290 Millionen verzehnfacht, das ist fast ein Viertel der Summe, die der russische Staat für allen Medien des Landes aufwendet.

Im Zuge des digitalen Wandels setzt auch RT längst auf Livestreaming und Augmented Reality, bei der Zusatzinformationen wie Grafiken und Texte eingeblendet werden. Außerdem beliefert RT diverse Kanäle in den sozialen Medien, bei denen der Sender insgesamt 4,5 Millionen Abonnenten hat. Ähnlich wie der US-Nachrichtensender CNN setzt RT auf Schnelligkeit, Breaking News und Infotainment. Vorbild für die RT-Talksendung „Crosstalk“ war die 2014 eingestellte CNN-Talkshow „Crossfire“. Kein Wunder, dass man in Russland besonders stolz war, als RT den früheren CNN-Starmoderator Larry King abwerben konnte.

Die klare politische Positionierung entlastet RT von einem Problem, das viele westliche Staatsmedien haben, die oft zwischen der Erwartung der staatlichen Geldgeber und dem journalistischen Ethos hin- und hergerissen sind. Tony Hall, Generaldirektor der BBC, stellte bei der Ausweitung des BBC World Service im November 2016 seine Vision einer „selbstbewussten und weltoffenen BBC“ vor, die „unabhängigen und unvoreingenommenen Journalismus“ in bester Qualität bieten solle.

Anders die RT-Redaktion. 2014 warf die CNN-Moderatorin Chris­tiane Amanpour der US-amerikanischen RT-Moderatorin Anissa Naouai vor, der Kreml benutze RT als Instrument, um Russlands negatives Image aufzubessern. Daraufhin entgegnete Naouai: „Die Menschen wissen, woher unser Geld kommt. Stellen wir das Geschehen eher aus russischer Perspektive dar? Natürlich, und zwar weil diese Perspektive ansonsten an den Rand gedrängt wird. Allerdings ist das eine seltsame Frage von einem Medium, das seit 15 Jahren die Ansichten des US-Außenministeriums propagiert.“

Anders als die meisten westlichen Medien berichtet RT nach wie vor über die Kriege in Afghanistan und im Jemen. Am 10. Februar 2017 begann RT International seine Nachrichtensendung mit einem Beitrag über Enthüllungen der britischen Presse, wonach die Waffenverkäufe an Saudi-Ara­bien weitergingen, obwohl im Oktober 2016 bei einem irrtümlichen Bombenangriff auf eine Begräbnisfeier in Sanaa 140 Menschen getötet und Hunderte verletzt wurden.2

Zur redaktionellen Linie von RT International gehört die Anerkennung einer multipolaren Weltordnung und der staatlichen Souveränität, die Kritik am westlichen Modell, am angeblichen Hegemoniestreben der USA sowie an einer behaupteten Russophobie. Bei der Verbreitung dieser Ideen wirken die unterschiedlichsten Leute mit. Das Spektrum reicht von ehemaligen Mitgliedern des Club de l’Horloge, eines Zirkels der französischen Rechten und Rechtsextremen, bis hin zu US-amerikanischen Pazifisten. In der Sendung „SophieCo“ saßen als Talkgäste bereits Sahra Wagenknecht, Fraktionschefin der Linkspartei im Bundestag; Mi­chael Flynn, kurzzeitig Berater für Nationale Sicherheit von US-Präsident Trump; Norbert Hofer, Präsidentschaftskandidat der rechtsextremen österreichischen FPÖ; Hubert Védrine, ehemaliger sozialistischer Außenminister Frankreichs; oder die FN-Vorsitzende Marine Le Pen.

In der Sendung kommen außerdem Vertreter von Regionalmächten zu Wort, etwa Pakistans ehemalige Außenministerin Hina Rabbani Khar, der frühere Staatspräsident der Türkei Abdullah Gül oder der Unterhändler Teherans in den Verhandlungen über das iranische Atomprogramm. In der Berichterstattung über Russland wiederum wird versucht, den Eindruck massiver Zensur zu vermeiden. So fand in den Nachrichten vom 26. Februar 2017 der Jahrestag des Mordanschlags auf den Oppositionspolitiker Boris Nemzow immerhin Erwähnung.

Redaktionell bestehen zwischen RT International und den regionalen RT-Sendern beziehungsweise -Portalen gewisse Unterschiede. RT America verbreitet Kritik am Neoliberalismus und an den außenpolitischen Positionen der Neocons. Im „Keiser Report“ vom 18. Februar wurde kritisiert, dass Donald Trump ehemalige Goldman- Sachs-Mitarbeiter zu Topberatern oder zu Ministern gemacht hat.

Im US-Wahlkampf überwog bei RT die Kritik an Hillary Clinton, deren Unilateralismus im Kreml Unruhe auslöste. Dabei wurden die Verbindungen Clintons mit Neocons hervorgehoben und mehrfach – gemeinsam mit Wiki­Leaks – über belastende E-Mails der Kandidatin und ihres Chefstrategen John Podesta berichtet.

Auf RT America dagegen haben sich eher linke Talkmaster klar gegen Trump positioniert, zum Beispiel Ed Schultz, der kein Hehl aus seinen Sympathien für Bernie Sanders machte, oder der Pulitzer-Preisträger Chris Hedges, der sich selbst als Sozialist bezeichnet und in seiner RT-Sendung „On Contact“ kurz nach Trumps Wahlsieg vor der Gefahr warnte, dass „die bereits ausgehöhlten Bürgerrechte durch einen entfesselten und gnadenlosen Polizeistaat ersetzt werden“.

In der Nahost-Region, wo große internationale Sender seit Jahren hart um die Zuschauer konkurrieren, beklagt RT Arabic die Destabilisierung seit der Arabellion und verurteilt den militärischen Interventionismus des Westens, den der vom US-Kongress finanzierte Sender al-Hurra wiederum herunterzuspielen versucht.

Die Kritik an Einmischungen der USA in die inneren Angelegenheiten souveräner Staaten gehört auch zu den Lieblingsthemen des spanischsprachigen RT en Español, der sich insbesondere an das Publikum in Mexiko, Argentinien und Venezuela richtet und antineoliberale und antiimperalistische Positionen verbreitet.

Bei den Problemen in Venezuela handelt es sich aus RT-Perspektive um einen „Wirtschaftskrieg gegen Maduro“ (21. Februar 2017) – als wäre allein die Opposition schuld an der Krise. Am 14. Dezember letzten Jahres fragte die RT-Sendung „El Zoom“ immerhin auch einmal, welchen Anteil die Regierung am „schlechten Wirtschaftszustand“ des Landes hat.

Das französischsprachige Portal RT en Français bietet – wie die anderen RT-Ableger in Europa – ein deutlich konservativeres Bild. Wirtschaftliche und soziale Fragen spielen eine geringe Rolle, die Multimediaplattform konzentriert sich auf Themen der inneren Sicherheit. 2016 kamen auf einen einzigen Beitrag über Arbeitslosigkeit 17 über Terrorismus. Die „kleinen Kandidaten“ im Präsidentschaftswahlkampf erhielten vergleichsweise viel Aufmerksamkeit. Das ist eine Parallele zu den Berichten über Großbritannien: Hier durfte der ehemalige Ukip-Chef Nigel Farage zwischen 2010 und 2014 siebzehnmal bei RT UK auftreten.3

Über den als russlandfreundlich geltenden konservativen Kandidaten François Fillon, gegen den die Staatsanwaltschaft wegen des Verdachts der Scheinbeschäftigung seiner Ehefrau Penelope ermittelt, berichtete RT en Français ebenso wie über die Demonstranten, die überall im Land gegen Fillon auf die Straße gingen. Auch die Vorwürfe gegen Marine Le Pen vom Front National wurden thematisiert – die Europaabgeordnete wird von der EU-Anti-Betrugsbehörde OLAF beschuldigt, sie habe per Scheinbeschäftigung EU-Geld für Parteizwecke abgezweigt. Allerdings räumte der Sender den Ausführungen von Le Pens Anwälten und den Presseerklärungen des Front National viel Platz ein (17. und 20. Februar). Die Pressekonferenz vom 23. Februar, bei der Le Pen wie so oft erklärte, sie wolle „Russland fest an den europäischen Kontinent binden“, ist in voller Länge auf dem RT-Portal abrufbar.

Noch klarer positionierten sich die englischsprachigen RT News vom 25. April. Nach dem ersten Wahlgang gestatteten sie einem Vertreter der AfD, Le Pens zweiten Platz als großen Erfolg zu feiern und zugleich Reklame für die deutsche Schwesterpartei des FN zu machen. Dabei wurde der Mann als Abgeordneter des „Berliner Parlaments“ vorgestellt, so als ob die AfD bereits im Bundestag vertreten sei.

RT hat eine Vorliebe für Straßenproteste, zumal wenn dabei Bilder von Zusammenstößen mit der Polizei, splitternden Glasscheiben oder lodernden Flammen herausspringen. Ab und zu werden solche Szenen zu einem Best-of mehrerer Schockvideos zusammengeschnitten (30. Dezember 2016).

RT stellt die liberalen Demokra­tien als Gesellschaften dar, die am Rande des Chaos oder gar eines Bürgerkriegs stehen (12. Januar). Regelmäßig wird auch über Arbeitsunfälle berichtet, etwa über einen Brand im Maschinenraum des Atomkraftwerks Flaman­ville (9. Februar) oder über rund 50 durch Reizgas Verletzte auf dem Hamburger Flughafen (12. Februar). Mit solchen Berichten will man offensichtlich die technologische Rückständigkeit Russlands relativieren.

Sobald in einem Konflikt wichtige strategische Interessen Russlands auf dem Spiel stehen, wird RT zu einem Instrument der Propaganda, so wie es etwa bei CNN während des Irakkriegs der Fall war. Der Sender mutiert dann zum Sprachrohr des Kremls. Ein klassisches Beispiel war die Berichterstattung über Aleppo: Nach der vollständigen Einnahme der Stadt durch die syrische Armee im Dezember 2016 übertrugen die RT-Kanäle die ausgelassene Freude der Bewohner West-Aleppos, während sich fast alle westlichen Medien auf die humanitäre Krise in Ost-Aleppo konzentrierten.

Im umgekehrten Fall von Mossul präsentierte der Sender einen britischen Exdiplomaten, der sich über die „unvermeidlichen zivilen Opfer“ äußerte, die bei der Rückeroberung der Stadt durch die irakischen Truppen zu erwarten seien.

Seit die Nato im Januar 2014 in Riga das Forschungszentrum StratCom (Strategic Communications Centre of Excellence) eröffnet hat, entwickelt das Bündnis den Ehrgeiz, die Informationskampagnen seines Lieblingsfeindes Russland zu entschlüsseln. RT kann sich über solche Initiativen nur freuen. Denn so kann sich der Sender als Antisystemmedium etablieren und Zielgruppen aus diversen Protestbewegungen gewinnen.

Die Leute von RT haben inzwischen einiges Geschick entwickelt, den Vorwurf der Propaganda zu ihrem Vorteil umzumünzen. Am Ende des anfangs erwähnten Jubiläumsvideos wendet sich Chefredakteurin Simonjan mit einem Lächeln an die Zuschauer: „Hatten Sie es sich so vorgestellt? Ja, Sie haben ganz recht. Genau so arbeiten wir hier!“

1 Ergebnis einer Studie des französischen Marktforschungsinstituts Ipsos vom März 2016 in 38 Ländern.

2 Alice Ross, „Boris Johnson urged UK to continue Saudi arms sales after funeral bombing“, The Guar­dian, 10. Februar 2017.

3 Patrick Wintour und Rowena Mason, „Nigel Farage’s relationship with Russian media comes under scrutiny“, The Guardian, 31. März 2014.

Aus dem Französischen von Christian Siepmann

Maxime Audinet ist Doktorand an der Universität Nan­-

terre.

Le Monde diplomatique vom 11.05.2017, von Maxime Audinet