11.05.2017

Russlands gefährliche Schwäche

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Russlands gefährliche Schwäche

Asymmetrische Machtverhältnisse, die Fehler des Westens und der Frust im Kreml

von Tony Wood

Rémy Markowitsch, Flaubert’s Frog, La Légende de Saint Julien l’Hospitalier, 2011/14, Bronze, Pumpe, Motor, Papier
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Russland spielt im politischen Leben der USA derzeit eine so bedeutsame Rolle wie zuletzt in der Reagan-Ära. Auf den Schock des Trump-Triumphs folgten Anschuldigungen, die Russen hätten die US-Präsidentschaftswahlen beeinflusst. Dann tauchten alarmierende Meldungen auf, wonach wichtige Trump-Leute enge Beziehungen zum Kreml unterhielten. Der Nationale Sicherheitsberater Michael Flynn musste schon nach drei Wochen seinen Posten aufgeben, und im Kongress wurde eine umfassende Untersuchung eingeleitet.

Nicht nur die Aufregung von Politikern, auch die Rhetorik wichtiger Medienleute erinnert an vergangene finstere Zeiten. Im November 2016 verbreitete eine obskure Onlinegruppe namens PropOrNot eine Liste, die im Stil der McCarthy-Ära bestimmte Websites aufzählte – beziehungsweise verunglimpfte –, die angeblich „getreulich russische Propaganda verbreiten“. Der TV-Sender Fox News fiel gleich ganz in das Vokabular der 1960er Jahre zurück und meldete im Januar 2017, die gehackten Dokumente der Demokratischen Partei kämen nicht aus einer „sowjetischen Quelle“. Sogar der New York Review of Books unterlief die Frage: „War Snowden ein sowjetischer Agent?“ (Die anachronistische Wortwahl wurde jedoch schnell korrigiert).

Auch in Russland schießen die offiziellen Medien seit Jahren Breitseiten antiwestlicher Rhetorik ab, die sich mit der Ukraine-Krise und den Wirtschaftssanktionen noch deutlich verschärft hat. Trumps Wahlsieg war zwar im russischen Parlament mit Jubel und Champagner gefeiert worden, aber die anfängliche Begeisterung kühlte sich sehr schnell ab. Und seit dem US-Luftangriff in Syrien vom 7. April tönt aus Moskau wieder die vertraute Konfrontationsrhetorik.

All das trägt zu dem Eindruck bei, dass wir eine verquere Neuauflage des Kalten Kriegs durchleben. Natürlich lag der Gedanke an eine neuerliche Konfrontation der Supermächte schon seit Anfang der 1990er Jahre in der Luft und wurde in unzähligen Thinktank-Dokumenten und Filmen durchgespielt. Doch erst in den letzten zehn Jahren ist diese Vorstellung so plausibel geworden, dass sie als willkommener Bezugsrahmen für die Analysen der wachsenden Spannungen zwischen Russland und dem Westen dient.

Das entscheidende Datum war der Krieg zwischen Russland und Georgien im August 2008. Für eine bestimmte Denkschule war dies ein weiterer Beweis dafür, dass Russland unter Putin in alte Verhaltensmuster zurückgefallen ist, dass es also wie die UdSSR und vorher das Zarenreich die Dominanz über seine Nachbarn anstrebt. Aus dieser Sicht handelt es sich um die Neuauflage der alten geopolitischen Konfrontation zwischen der autoritären Macht im Osten und dem demokratischen Lager im Westen.

Eine gemäßigtere Variante der These vom „neuen Kalten Krieg“ interpretiert das jüngste Tief in den russisch-amerikanischen Beziehungen nicht einfach als Rückfall in alte Muster, sondern vergleicht die aktuelle Entwicklung eher mit der Phase der Polarisierung unmittelbar nach 1945, die dann schrittweise in den Kalten Krieg überging. Nach Robert Legvold, Spezialist für postsowjetische Außenpolitik, liegen die beunruhigenden Ähnlichkeiten etwa darin, dass beide Seiten die Schuld einzig und allein beim Gegner sehen und glauben, die Konfrontation könne nur durch „einen grundlegenden Wandel oder den Zusammenbruch der anderen Seite“ beendet werden.1

Schon in dem Begriff „Kalter Krieg“ ist eine Art verbaler geopolitischer Drohung angelegt: Wenn unter den Mächtigen die Zahl derer wächst, die sich in einem solchen Krieg wähnen, wird es ernst. Allerdings gibt es grundlegende Unterschiede zwischen dem historischen Kalten Krieg und den aktuellen Spannungen zwischen Russland und dem Westen: Von einem auch nur annähernd vergleichbaren ideologischen Wettstreit kann heute keine Rede sein: Die Zahl der Beteiligten ist deutlich geringer, und auch die geografische Dimension des Konflikts ist klarer umgrenzt und beschränkt sich im Wesentlichen auf den Osten Europas (von der traurigen Ausnahme Syrien abgesehen).

Auf diese Unterschiede verweist der einstige sowjetische Karriereoffizier Dmitri Trenin. Für Trenin haben sich Russland und der Rest der Welt so grundlegend verändert, dass kein einziges Merkmal des Kalten Kriegs auf die aktuelle Situation zutrifft.2 Beruhigend sei das nicht, bedeute es doch nur, dass die heutige Rivalität zwischen Washington und Moskau „instabiler und weniger vorhersehbar“ sei als früher.

Unterschiedliche Ansichten über den Gang der Ereignisse seit 1989 bestimmen dabei die Debatte. Im Westen dominiert folgende Version: Gorbatschow und Jelzin haben innenpolitisch große Schritte in Richtung Demokratie und freie Marktwirtschaft gemacht und zugleich auf internationalen Ebene eine neue Qualität der Kooperation mit dem Westen entwickelt. Der Aufstieg von Putin dagegen wird in diesem Narrativ als Umkehrung dieser Tendenzen gedeutet.

Ausgewogenere Analysen verweisen dagegen auf eine Reihe verfehlter Aktionen auf beiden Seiten. So sieht es auch Peter Conradi, der von 1988 bis 1995 für die Sunday Times aus Moskau berichtet hat.3 Aus russischer Sicht gehört dazu die Unterstützung der USA für die Protestbewegungen, die zu einem Regimewechsel in ehemaligen sowjetischen Republiken geführt haben, sowie die Versuche der USA und der EU, Geor­gien und die Ukraine in das westliche Lager zu ziehen. Aus westlicher Sicht stehen im russischen Sündenregister die Unterdrückung von Dissidenten und manipulierte Wahlen; Angriffe auf das Prinzip des Privateigentums, speziell bei der Zerschlagung des Yukos-Konzerns; die Invasion in Georgien, die Annexion der Krim und die militärischen Aktivitäten in der Ostukraine; dazu neuer­dings die Indizien für eine Beeinflussung der US-Wahlen.

Legvold meint, dass „beide Seiten gemeinsam an diesen Punkt gekommen sind“, deshalb könne „der Weg aus der heutigen Sackgasse nur gemeinsam beschritten werden“. Autoren wie Conradi und Legvold gelten in dem aktuell herrschenden Klima sicherlich als „Putinversteher“. Problematisch sind ihre Analysen allerdings aus einem anderen Grund: Sie übersehen das gewaltige Ungleichgewicht an realer Macht und ökonomischem Potenzial, das für das Verhältnis zwischen Russland und den USA seit dem Ende des Kalten Kriegs entscheidend ist.

Wer auf dieses Faktum verweist, wird heute von vielen als Kreml-Fan abgestempelt, als würde man damit automatisch die schwächere Seite unterstützen. Nun trifft es zwar zu, dass Putin merkwürdige Sympathisanten – aufseiten der Rechten wie der Linken – gefunden hat. Und einige seiner Fans sehen ihm sogar seine Verbrechen nach, etwa wenn sie die Bombardierung der Zivilbevölkerung in Syrien als eine Strategie der „Gegenhegemonie“ darstellen. Aber es ist politisch wie ethisch ein gewaltiger Unterschied, ob man Aussagen über die tatsächliche Macht Russlands macht oder ob man rechtfertigt, wie Putin seine Macht einsetzt.

Die Rede vom „neuen Kalten Krieg“ bewirkt unter anderem, dass diese beiden Fragen vermischt werden. Das geopolitische Kalkül beider Seiten beruht aber genau auf der Analyse dieses Machtungleichgewichts. Das gilt für den Drang des Westens, seine Überlegenheit durch die Expansion der Nato zu demonstrieren, ebenso wie für die wachsende Frustration der Russen über ihre Unfähigkeit, diese Expansion aufzuhalten oder rückgängig zu machen.

Sowjetagent Snowden

Im März 2009 machte US-Außenministerin Hillary Clinton ihrem russischen Kollegen Sergei Lawrow ein symbolisches Geschenk: eine gelbe Plastikbox mit einem roten Schaltknopf, auf dem das englische Wort „reset“ stand. Doch bei der russischen Bezeichnung war dem US-Außenministerium ein Fehler unterlaufen: statt peresagruska stand da peregruska, was „überladen” bedeutet. Diese peinliche Übersetzungspanne hat unfreiwillig eine Metapher hervorgebracht, die für die gesamte Entwicklung der Beziehungen zwischen den beiden Ländern seit Ende des Kalten Kriegs stehen könnte.

Nach der Auflösung der Sowjetunion 1991 kam in Moskau der Gedanke auf, das Ende des Kommunismus würde zugleich das Ende der Rivalität zwischen den Supermächten bedeuten, so dass Russland irgendwann zum Vollmitglied der kapitalistischen Weltordnung werden könnte. Im Westen hatte man allerdings eigene Prioritäten, die sich mit dem Ende des Kalten Kriegs keineswegs erledigt hatten. Der Westen konnte seine strategischen Ziele sogar noch ausweiten und praktisch widerstandslos umsetzen. Was sich in den letzten zehn Jahren anbahnte, ist also weniger eine Eskalation von Spannungen als vielmehr die – zeitweilig aufgeschobene oder verdeckte – Kollision unvereinbarer Interessen.

Für die sowjetische und die russische Führung war der Westen natürlich schon immer die wichtigste Bezugsgröße – sei es als zentraler Gegner, sei es als bewundertes Vorbild. Die jüngste Hinwendung begann unter Gorbatschow, der von einem „gemeinsamen europäischen Haus“ träumte, sprich von einem harmonischen Gebilde aus quasi sozialdemokratischen Staaten. Diese Idee einer Art Großskandinavien wandelte sich unter Jelzin zu dem Plan, Russland in eine „normale“ liberale Demokratie unter Obhut der USA zu überführen. Aber der spärliche Rückhalt, den diese Politik im Volk hatte, wurde durch die katastrophalen Folgen der ökonomischen Schocktherapie vollends untergraben. 1996 wurde der Hauptvertreter dieser Linie, Außenminister Kosyrew, durch den früheren Chef des Auslandsgeheimdienstes SWR, Primakow, abgelöst. Der lockerte die Abhängigkeit vom Westen und wandte sich 1999 – jetzt als Regierungschef – entschieden gegen die Intervention der Nato im Kosovo, die ohne Zustimmung der UN erfolgt war.

Putin hingegen war zunächst ein Anhänger der „Westorientierung“: Im März 2000, als er nach dem Rücktritt Jelzins schon als Präsident fungierte, äußerte er in einem BBC-Interview den Wunsch nach einer Partnerschaft und wollte sogar eine Mitgliedschaft Russlands im westlichen Bündnis „nicht ausschließen“.4 Nach den Attacken vom 11. September 2001 sah Putin die Chance für eine „Antiterror“-Allianz mit der Regierung Bush. Schließlich hatte er selbst im Februar 2000 eine „Operation gegen den Terrorismus“ in Tschetschenien angeordnet, mit der die Hauptstadt Grosny in Trümmer gelegt wurde.

Putin öffnete den russischen Luftraum für US-Flugzeuge und überredete Usbekistan und Kirgistan, die westlichen Operationen in Afghanistan zu unterstützen. Aber der einseitige Ausstieg der USA aus dem bilateralen ABM-Vertrag (zur Begrenzung von Raketenabwehrsystemen) im Juni 2002 kündigte an, dass Washington auf die Annäherungsversuche nicht eingehen würde. Dennoch hielt Putin bis zum Ende seiner zweiten Amtszeit als Präsident im Frühjahr 2008 an seiner Idee einer Allianz mit dem Westen fest. Auf die berief sich auch der neue Präsident Dmitri Medwedjew, als er im Juni 2008 in Berlin eine „Neue Europäische Sicherheitsarchitektur“ vorschlug und zugleich eine engere wirtschaftlichen Inte­gra­tion in einem „euroatlantischen Raum von Vancouver bis Wladiwostok“ anregte.

All diese Initiativen fanden im Westen keine Resonanz. Es gab ja auch wenig Grund, Rücksicht auf die russischen Interessen zu nehmen. Die Clinton-Regierung begriff die Osterweiterung der Nato, von der sich die ehemaligen Mitgliedstaaten des Warschauer Pakts eine Sicherheitsgarantie versprachen, eher als politisches Ins­tru­ment denn als militärische Verpflichtung: Der Köder des Nato-Beitritts diente dazu, die Regierungen in Osteuropa zu beschleunigten marktwirtschaftlichen Reformen zu drängen. Aber natürlich wurde die Nato-Erweiterung auch mit der strategischen Notwendigkeit begründet, das durch den sowjetischen Rückzug entstandene Vakuum – von Clinton als „graue Zone“ bezeichnet – auszufüllen. Von einer „russischen Bedrohung“ sprach damals noch niemand: Die Nato konnte ja gerade deshalb expandieren, weil Russland so schwach war.

In Washington galt die Ausdehnung der Nato, die schon vor der Auflösung der UdSSR auf der Agenda stand, seit 1994 als beschlossene Sache. Offen war nur, wie man die Russen dazu bringen konnte, das Ganze zu schlucken – „ihren Spinat aufzuessen“, wie es die Stabschefin im US-Außenministerium Victoria Nuland ausdrückte.5

Die Regierung Jelzin sondierte mehrfach die Idee eines russischen Nato-Beitritts. Doch der wurde vom Westen niemals ernsthaft erwogen. Die Zusammenarbeit mit Moskau schien bereits durch andere Instrumente garantiert: durch die 1994 begründete „Partnerschaft für den Frieden“ und seit 1997 durch den „Gemeinsamen Ständigen Nato-Russland-Rat“, der 2002 zum „Nato-Russland-Rat“ (NRR) wurde. Im Juni 2000 fand in Moskau ein Gipfeltreffen der Präsidenten Putin und Clinton statt. Als Putin den US-Amtskollegen fragte, wie er auf einen russischen Nato-Beitritt reagieren würde, blickte Clinton hilfesuchend auf seine anwesenden Berater. Da Außenministerin Madeleine Albright so tat, „als beobachte sie eine Fliege an der Wand“, und der Nationale Sicherheitsberater Sandy Berger „überhaupt nicht reagierte“, musste sich Clinton auf die Bemerkung beschränken, er persönlich würde einen Beitritt unterstützen. Wobei er das Wort „persönlich“ zur Sicherheit dreimal wiederholte.6

Zu den Gründen, warum für Russland kein Platz innerhalb der euroatlantischen Strukturen vorgesehen war, gehörte die schlichte Tatsache, dass das Land – auch in seinem geschwächten Zustand – einfach zu groß ist, um problemlos absorbiert zu werden. Und schon gar nicht von einem System, das sich um eine einzige dominante Ordnungsmacht gruppiert. Der Wiederaufstieg Russlands geht einher mit einem großen Widerspruch: Man weigert sich, die Prioritäten Washingtons zu übernehmen, ist aber noch nicht in der Lage, dem Westen frontal entgegenzutreten. Das heutige Russland kann es weder militärisch noch wirtschaftlich noch ideologisch mit einem der größeren Nato-Mitgliedsländer aufnehmen, geschweige denn mit der geballten Allianz.

Der Kollaps der Planwirtschaft stürzte die gesamte ehemalige Sowjetunion – die dem Westen ohnehin schon hinterherhinkte – in eine ökonomische Depression. 1999 hatte Putin gesagt, Russland benötige ein kräftiges Wirtschaftswachstum über 15 Jahre, um das damalige Bruttoinlandsprodukt pro Kopf von Portugal zu erreichen. Diese Marke war zwar schon 2011 erreicht, aber zu diesem Zeitpunkt hatte das portugiesische BIP pro Kopf wiederum zugelegt und lag trotz der krisenbedingten Rezession um 63 Prozent höher als das russische.7

Die russischen Militärausgaben beliefen sich 2015 etwa auf ein Zehntel der US-amerikanischen, etwa gleichauf mit denen Großbritan­niens. Pro Kopf waren die Ausgaben etwas geringer als die von Deutschland oder Griechenland. Diese Summe entspricht nur etwa 8 Prozent der Militärausgaben der Nato insgesamt, von denen 70 Prozent auf die USA entfallen. Die russische Armee ist noch immer eine der größten der Welt, was die Zahl der Soldaten betrifft; allerdings sind viele davon Wehrpflichtige im Teenageralter. Am Georgien-Krieg von 2008 zeigte sich, wie sehr das russische Militär in technologischer wie organisatorischer Hinsicht ins Hintertreffen geraten war. Seitdem hat es seine Waffensysteme gründlich überholt und nachgerüstet. In Syrien wird diese neue Streitmacht nun getestet.

Eine militärische Bedrohung für seine Nachbarländer stellt Russland weniger aufgrund der Stärke seiner Streitkräfte dar, als vielmehr wegen seiner Bereitschaft, diese zur Durchsetzung politischer Ziele einzusetzen. Dass die Russen in Geor­gien so schnell die militärische Karte zogen, ist gerade ein Indiz dafür, dass ihnen nur ziemlich plumpe Mittel zu Gebote stehen; dass sie also außerstande sind, ihre Ziele durch diplomatische Überzeugungsarbeit oder wirtschaftlichen Druck – oder auch Anreize – zu erreichen. Trenin formuliert es so: Die unübersehbare machtpolitische Asymmetrie gegenüber den USA bringt die Russen dazu, „sich auf das zu verlegen, was ihnen eher liegt – militärische Aktionen“.

Eurasische Zivilisation

Wie diese Dynamik funktioniert, zeigte sich in der Ukraine. In der Krise von 2014 war der westliche Hauptakteur die EU. In Brüssel allerdings, schreibt Trenin, war man unfähig, „die geopolitische, ökonomische und auch psychologische Bedeutung der Ukraine für die Führung und das Volk Russlands einzuschätzen“. Das EU-Projekt der „Östlichen Partnerschaft“ wurde vorangetrieben, ohne die langfristigen Folgen zu bedenken. Als sich die Krise verschärfte, übernahm Washington das Kommando und die EU trat quasi von der Bühne ab.

Einer der Gründe, warum der Kreml im Fall der Ukraine so aggressiv reagierte, war die Befürchtung, der Maidan von Kiew könnte Nachahmer im eigenen Land inspirieren. Ebenso bedeutsam war ein zweiter Faktor. Die russische Entscheidung, der Ukraine weder eine engere Integration in die EU noch den Nato-Beitritt zu gestatten, erfolgte im vollen Bewusstsein der eigenen Schwäche: Man hatte weder das ökonomische Potenzial, um Kiew ein deutlich besseres Angebot als die EU zu machen, noch die politische Macht, um Brüssel und Washington daran zu hindern, die Ukraine in die westliche Einflusssphäre hinüberzuziehen. Mit der Annexion der Krim und der Unterstützung der Separatisten im Donezbecken verfolgte der Kreml mehrere Ziele. Eins davon war, die Popularität Putins bei der eigenen Bevölkerung zu stärken. Das russische Vorgehen war eher improvisierend und taktierend als Teil eines vorgefassten Plans, die Ukrai­ne zu zerstückeln. Der Nato-Beitritt der Ukraine sollte blockiert werden, indem man größere Teile des Landes zur Kriegszone oder zu umstrittenen Territorien machte. Das Kalkül ging zwar auf, aber die Ukraine ist damit endgültig aus der russischen Einflusszone ausgeschieden. Daher bedeutet die Entwicklung seit 2013 für Putin unzweifelhaft eine gigantische strategische und politische Niederlage. Und zugleich eine Epochenwende: das Ende der Fantasien von einer Einbindung oder gar Integration in den Westen.

Noch im Februar 2013 hatte das offizielle „außenpolitische Konzept“ des Kremls Russland als „integralen und untrennbaren Teil der europäischen Zivilisation“ definiert; entsprechend lagen die Prioritäten bei „den Beziehungen zu den euro­atlantischen Staaten, die jenseits der Geografie, der Ökonomie und der Geschichte auch tiefe gemeinsame kulturelle Verbindungen mit Russland haben“. In der jüngsten Fassung dieses Dokuments vom Dezember 2016 sind solche Bezüge getilgt und durch eine Betonung des „eurasischen Integrationsprozesses“ ersetzt. Das bezieht sich unmittelbar auf das Projekt eines EU-ähnlichen Handelsblocks, dem Russland und mehrere Staaten der früheren UdSSR angehören sollen. Dahinter steckt eine Idee, die nicht nur innerhalb der politischen Klasse Moskaus immer mehr Anklang findet: Russland als Zentrum einer eurasischen „Zivilisation“, die sich von der ihrer Nachbarn in Europa, Asien und Nordamerika unterscheidet.

Im Kern ist das eine reaktionäre Idee, die auf die Bewahrung vage definierter „kultureller Traditionen“ und „Werte“ setzt, ganz zu schweigen von Bezügen zu den Rasselehren des 19. Jahrhunderts. Die Verbreitung des „Eurasianismus“ in Russland zeigt nicht nur einen politischen Rechtsruck an. Sie ist auch der bewusste Versuch, das ideologische Vakuum auszufüllen, das durch das Scheitern des Projekts einer Annäherung an den Westen entstand. Es handelt sich also um eine alternative Antwort auf die Frage nach der Stellung Russlands in der Welt – buchstäblich, im geografischen Sinn wie auch strategisch.

Trenin schätzt die Lage nüchtern ein: Russland habe „weder die Ressourcen noch den wirklichen Willen“, ein neues Eurasisches Reich zu gründen, und auch nicht „den Ehrgeiz, benachbarte EU- oder Nato-Staaten zu erobern und dafür einen Krieg mit den USA zu riskieren“. Für ihn ist das autoritäre System Putins ein innenpolitisches Projekt und kein „Exportprodukt“. Sein ökonomisches Modell tauge nicht zur Nachahmung, seine Ideologie sei nationalistisch und nicht internationalistisch, sein Potenzial zur Beeinflussung westlicher Gesellschaften eher bescheiden.8

Und doch werde das Land dank seiner schieren Ausdehnung, seiner zahlreichen und gut ausgebildeten Bevölkerung – und auch dank seines nuklearen Arsenals und seiner Bodenschätze – noch lange ein „einflussreicher globaler Player“ bleiben. Trenin zufolge kann Russland auch in einem von den USA und China dominierten internationalen System nach wie vor eine Schlüsselposition behaupten, wenn es sich mit Washington oder Peking verbündet oder aber ein Gegengewicht zu beiden aufbaut, indem es Bündnisse mit anderen Staaten eingeht.

Einige Kreml-Strategen dürften ähnliche Vorstellungen haben, die den Bündnissen und Rivalitäten zwischen den imperialistischen Blöcken des 19. Jahrhunderts ähnlich sind. Sie gehen davon aus, dass sich nach einer vorübergehenden unipolaren Dominanz der USA eine multipolare oder polyzentrische internationale Ordnung herausbilden werde. Als Vorboten einer solchen globalen Machtverschiebung sieht man in Moskau das absehbare Scheitern der westlichen Intervention im Nahen Osten und die Tatsache, dass man den Konfliktverlauf in Syrien offenbar selbst zu beeinflussen vermochte. Eine solche nachamerikanische Epoche liegt allerdings noch in weiter Ferne.

Das innenpolitische Schicksal Putins oder seiner Nachfolger wird immer stärker von seinen außenpolitischen Entscheidungen abhängen – und damit weitgehend auch vom Verhalten des Westens. Nach der Wahl Trumps überschlugen sich die Spekulationen über eine Annäherung an Russland. Aber die Aussichten auf einen Ausgleich mit Moskau schwanden bereits vor der Entscheidung Trumps, einen Flughafen in Sy­rien zu bombardieren. Beide Seiten werden sich sehr genau überlegen, ob sie sich auf eine engere Ko­ope­ration einlassen können.

Die Möglichkeit eines dauerhaften Annäherung hängt ohnehin nicht von kurzfristigen Erwägungen ab, sondern von den tatsächlichen Machtverhältnissen, die das strategische Denken auf beiden Seiten bestimmen. Und in dieser Hinsicht ist der Vorsprung der USA heute so groß, dass sie die Interessen Russlands nach Belieben berücksichtigen oder ignorieren können. Auf der anderen Seite ist im Kreml das alte Großmachtdenken noch so verbreitet, dass man gewillt ist, auf Gewaltmittel zu setzen, obwohl man die grundlegende Machtbalance nicht aktiv beeinflussen kann. Solange dieser Zustand andauert, sind weitere Konflikte wahrscheinlich, die überall in den russischen Grenzregionen oder erneut im Nahen Osten ausbrechen können.

Angesichts einer unipolaren Welt, in der die einzige Supermacht permanent Kriege führt – derzeit bombardiert sie sieben Länder gleichzeitig –, fällt es leicht, eine multipolare Welt als Fortschritt zu empfinden. Aber der Übergang von der alten zu der neuen Welt könnte lang und furchtbar sein. Und auch die multipolare Welt könnte auf ganz eigene Weise eine destruktive sein. Die Hoffnung, die Zukunft möge nicht wie Falludscha und Mossul aussehen, garantiert keineswegs, dass sie nicht irgendwann wie Donezk oder Aleppo aussieht.

1 Robert Legvold, „Return to Cold War“, Cambridge (Polity) 2016.

2 Dmitri Trenin, „Should we Fear Russia?“, Cambridge (Polity) 2016. Trenin diente 20 Jahre lang als Offizier in der sowjetischen beziehungsweise russischen Armee und leitet heute das Moskauer Büro der Carnegie-Stiftung.

3 Siehe Peter Conradi, „Who Lost Russia? How the World Entered a New Cold War“, London (Oneworld) 2017.

4 Interview mit David Frost vom 5. März 2000.

5 Nuland war später US-Botschafterin bei der Nato und 2013 Vizeaußenministerin mit Zuständigkeit für Europa und Eurasien mit großem Einfluss auf die Regierungsbildung in der Ukraine. Im Februar 2014 machte sie Schlagzeilen mit der Äußerung „Fuck the EU“.

6 So Peter Conradi in: „Who Lost Russia?“, siehe Anmerkung 3.

7 Das portugiesische BIP pro Kopf lag 2016 bei 19 758 US-Dollar, das russische bei 8838; https://de.statista.com/.

8  Vgl. Dmitri Trenin: „The End of Eurasia“ (2002) und „Post-Imperium: A Eurasian Story“ (2011), beide bei der Carnegie-Stiftung.

Aus dem Englischen von Niels Kadritzke

Tony Wood ist Redakteur bei der New Left Review, London.

©London Review of Books; für die deutsche Übersetzung, Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 11.05.2017, von Tony Wood