11.05.2017

Syrische Chemiewaffen

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Syrische Chemiewaffen

Die UNO ermittelt, Schuldige nennt sie nicht

von Akram Belkaïd

Chan Scheichun am 5. April 2017 AMMAR ABDULLAH/reuters
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Am frühen Morgen des 4. April 2017 kamen bei einem Chemiewaffenangriff in Chan Scheichun 87 Menschen ums Leben, die meisten von ihnen Zivilisten. Fast 600 weitere wurden verletzt. Die syrische Regierung bestätigte den Luftangriff gegen die Stadt in der Provinz Idlib, 20 Kilometer von der Front entfernt, an der sich die reguläre syrische Armee und bewaffnete Rebellengruppen gegenüberstehen. Allerdings habe der Angriff mittags stattgefunden und ohne Einsatz von Giftgas.

Die Assad-Regierung verwies darauf, dass sie sich im September 2013 dazu verpflichtet hatte, keine C-Waffen mehr zu verwenden, und beteuerte, dass ihr gesamtes Arsenal zwischen Herbst 2013 und Mitte 2014 von der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OVCW) vernichtet wurde. Damaskus beschuldigte überdies die al-Qaida-nahe Dschabhat Fatah asch-Scham – die ehemalige Al-Nusra-Front, die Öffentlichkeit zu manipulieren.

In einem Interview mit der Nachrichtenagentur AFP am 13. April 2017 bezeichnete Staatschef Baschar al-Assad den Angriff als „zu hundert Prozent konstruiert“ und sprach davon, dass die USA „die ganze Geschichte erfunden“ hätten. Er bezichtigte den Westen der Komplizenschaft mit den „Terroristen“, wie er die bewaffnete Opposition gewöhnlich nennt, und verurteilte Trumps Vergeltungsschlag gegen den syrischen Luftwaffenstützpunkt al-Schairat, von dem, laut Washington, der Giftgasangriff ausgegangen sei.

Der Vorfall erinnert an den Sarin­gasangriff in Ghuta, einem Vorort von Damaskus, am 21. August 2013. Damals waren unterschiedlichen Quellen zufolge (darunter die Organisation Médecins du Monde) zwischen 300 und 2000 Menschen ums Leben gekommen. Die Ende August 2013 von der UNO in Auftrag gegebene Untersuchung des Falls benennt, anders als allgemein angenommen, keinen Schuldigen. Die UN-Inspekteure, die mit Zustimmung der syrischen Regierung vor Ort recherchierten, fanden zwar „klare Beweise“ für den massiven Einsatz von Saringas. Aber sie hatten kein Mandat, der Frage nachzugehen, wer für die Chemiewaffenangriffe verantwortlich war.

Im Januar 2014 veröffentlichten der ehemalige UN-Inspekteur Richard Lloyd und Theodore Postol, Lehrbeauftragter am Massachussetts Institute of Technology (MIT), einen Bericht, der die syrischen Rebellen belastete und das Regime von den Vorwürfen freisprach. Trotz massiver Kritik von Experten1 liefert dieses Dokument, das immerhin von einem früheren UN-Mitarbeiter stammt, den Assad-Anhängern willkommene Argumente. Denn, so ein arabischer Diplomat in Washington, der anonym bleiben möchte, „im Fall des C-Waffenangriffs in Ghuta hat die UNO keine der Parteien beschuldigt. Beim Bombenangriff auf Chan Scheichun könnte es jedoch anders kommen, da die UNO diesmal die Verantwortlichen benennen kann, zumindest theoretisch.“

Seit sich Damaskus verpflichtet hat, seine Giftgasvorräte und Produktionsanlagen für Chemiewaffen zu vernichten, überwacht die OVCW die Umsetzung dieses Versprechens. 2013 wurde die Organisation für „ihre intensiven Bemühungen zur Vernichtung chemischer Waffen“ mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Zu ihrem Auftrag gehört darüber hinaus, „Personen, Einrichtungen, Gruppen oder Regierungen ausfindig zu machen, die in der Arabischen Republik Syrien Chemikalien, einschließlich Chlor oder jeder anderen giftigen Chemikalie, als Waffen eingesetzt oder diesen Einsatz organisiert oder gefördert haben“.2 Zu diesem Zweck richtete der UN-Sicherheitsrat in der Resolution 2235 vom 7. August 2015 einen „Gemeinsamen Untersuchungsmechanismus der OVCW und der Vereinten Nationen“ ein.

Das Mandat des Gemeinsamen Untersuchungsmechanismus erlaubt ihm weder „als gerichtliche oder quasi­gerichtliche Behörde zu handeln oder zu fungieren“, noch verfügt er über die „direkte oder indirekte Autorität oder Kompetenz, eine formelle oder verbindliche richterliche Entscheidung bezüglich der strafrechtlichen Verantwortung zu treffen“.3 Und doch handelt es sich, wie der ungenannte Diplomat in Washington erläutert, „um eine Einrichtung, die mit ihren Ermittlungen Akten erstellt. Die Informationen, die sie heute vor Ort sammelt, können morgen vielleicht für eine gerichtliche Anklage herangezogen werden. Und das alles wird viel konkreter sein als die Vorwürfe, die Washington vor der Irak-Invasion 2003 gegen das Regime Saddam Husseins erhoben hat. Die Ironie der Geschichte liegt darin, dass die Waffen, die damals im Irak unauffindbar waren, im benachbarten Syrien sehr wohl existierten.“

Ein einziger UN-Inspekteur vor Ort

Der Gemeinsame Untersuchungsmechanismus von OVCW und UNO besitzt keine richterlichen Kompetenzen, die dahinterstehende Absicht ist jedoch eindeutig. Im ersten Bericht der Instanz von Februar 2016 ist zu lesen: „Alle Einzelpersonen, Gruppen, Einrichtungen oder Regierungen, die auf geringste Weise daran mitwirken, den Einsatz von Chemikalien als Waffen zu ermöglichen, müssen begreifen, dass ihre Identität ermittelt wird und dass sie für diese abscheulichen Taten zur Rechenschaft gezogen werden.“

Nach dem Angriff auf Chan Scheichun leitete die OVCW eine Untersuchung ein und bezeichnete den Vorwurf des Giftgaseinsatzes als „glaubwürdige Behauptung“. Die syrische Regierung und ihre russischen Unterstützer baten die Ermittler der Organisation, ihre Untersuchungen vor Ort durchzuführen, und ermahnten sie zur Unparteilichkeit. Laut offiziellen Quellen war die Zusammenarbeit zwischen beiden Seiten bis 2016 „beständig und intensiv“; im Mai sind weitere hochrangige Treffen geplant. Da die Mitarbeiter des Gemeinsamen Untersuchungsmechanismus in New York und Den Haag zu strenger Geheimhaltung verpflichtet sind und Kontakte zu den Medien vermeiden, ist über ihre Untersuchungen nur wenig bekannt.

Einige Informationen gehen jedoch aus den regelmäßigen Berichten des Exekutivrats der OVCW für den UN-Generalsekretär hervor: Derzeit hält sich nur ein einziger UN-Inspekteur dauerhaft in Syrien auf. Des Weiteren scheint die syrische Regierung sich an die Abmachungen des am 14. September 2013 von den USA und Russland in Genf unterzeichneten „Referenzrahmens zur Vernichtung der syrischen Chemiewaffen“ (siehe Chronologie) zu halten. Laut OVCW „wurden alle von der Arabischen Republik Syrien gemeldeten und 2014 aus ihrem Staatsgebiet entfernten Chemikalien vernichtet“.

Ende 2016 bestätigte die Organisation ebenfalls, dass „24 der 27 Produktionsstätten für chemische Waffen“, die Damaskus 2013 deklariert hatte, zerstört wurden.4 Demnach existieren zurzeit noch drei Anlagen, darunter eine Flugzeughalle, zu der die syrischen Behörden dem OVCW-Personal den Zutritt verwehrten, Begründung: Man könne ihre Sicherheit nicht gewährleisten.

Aber wo befinden sich die verbliebenen Anlagen? Liegen sie in der Nähe der umkämpften Gebiete oder sind sie womöglich in die Hände einer der vielen Rebellengruppen gefallen? Auf diese Annahme stützt sich die Propaganda des Assad-Lagers. Sie behauptet, die chemischen Waffen seien in den Besitz regierungsfeindlicher Kräfte gelangt und könnten von diesen auch eingesetzt werden. Allerdings könnte sich dieses Argument auch gegen das Assad-Regime richten, falls nachgewiesen werden sollte, dass es nicht alles unternommen hat, um die gesamten Produktionsstätten und Chemiewaffenvorräte in der vorgeschriebenen Zeit zu vernichten.

Der Gemeinsame Untersuchungsmechanismus soll auch überprüfen, inwiefern „Führungspersönlichkeiten verpflichtet wurden, die notwendigen und angemessenen Maßnahmen zu ergreifen, um zu verhindern, dass Chemikalien als Waffen zum Einsatz kommen“. Die vage gehaltene Formulierung ermöglicht es zumindest, Nachlässigkeiten auf hoher Ebene hinsichtlich der Sicherung chemischer Rüstungsstandorte vor den Rebellen zu ahnden.

Bedeutender erscheint das unterschwellige Kräftemessen zwischen UNO und dem syrischen Regime. Verschiedene Dokumente der OVCW belegen, dass der gesamte Prozess der Abrüstung der Chemiewaffen auf einer fragwürdigen Grundlage beruht. „Es war bis jetzt nicht möglich, in vollem Umfang zu überprüfen, ob die Erklärung sowie die anderen Auskünfte der Arabischen Republik Syrien zutreffend und vollständig sind“, heißt es in einem an den damaligen UN-Generalsekretär Ban Ki Moon gerichteten ­Bericht.5 Mit anderen Worten: Die Liste der Arsenale und Produktions­stätten von chemischen Kampfstoffen, die Damaskus der OVCW im September 2013 unter Zeitdruck übermittelt hatte, könnte sich als unvollständig erweisen.

Seit Frühjahr 2016 verweisen die Dokumente und Berichte der Organisation mit Nachdruck auf „Informa­tionslücken, Widersprüche und Unstimmigkeiten“ in der syrischen Erklärung. Über diese Kritik ist im Einzelnen nicht viel bekannt, abgesehen davon, dass es dabei auch um die Rolle des syrischen Zentrums für wissenschaftliche Studien und Forschung (SSRC) geht. Die diesbezüglichen Angaben stimmen laut OVCW nicht mit Umfang und Charakter der Aktivitäten überein, die das Zentrum bei der Entwicklung des Chemiewaffenprogramms hatte.

Die Kritik der OVCW gibt Anlass zu allerlei Mutmaßungen und ermöglicht letzten Endes auch Instrumentalisierungen jeglicher Art. Eine nachgewiesene Lüge wäre zunächst ein Verstoß gegen die UN-Resolution 2118 vom 27. September 2013, die allen „syrischen Parteien“, sei es der Staat oder nichtstaatliche Akteure, verbietet, chemische Waffen zu besitzen, zu erwerben, herzustellen, weiterzugeben oder einzusetzen. Auch Russland käme dadurch in eine unbequeme Lage, denn im August 2013 hatte Moskau eine militärische Eskalation zwischen den Vereinigten Staaten, Frankreich und ­Sy­rien nur dadurch verhindern können, dass es den Plan zur sofortigen Abrüstung des gesamten syrischen C-Waffen-Arsenals und der entsprechenden Produktionsstätten vorgeschlagen hatte.

Der Gemeinsame Untersuchungsmechanismus geht trotz alledem weiter seiner Arbeit nach, ohne sich auch nur im Geringsten zur Verantwortung der einen oder der anderen Seite zu äußern. Schon vor dem Angriff auf Chan Scheichun wartete die arabische Presse auf mögliche Erkenntnisse oder gar konkrete Anschuldigungen bezüglich eines früheren Giftgasangriffs auf Daraja, einen Vorort von Damaskus, am 15. Februar 2015. Die OVCW-Mission verwies unwillig auf die „hochgradige Wahrscheinlichkeit, dass einige Personen zu einem bestimmten Zeitpunkt Sarin oder einer sarinähnlichen Substanz ausgesetzt gewesen“ seien, sie könne jedoch nicht „feststellen, wie, wann und unter welchen Umständen dies geschehen“ sei.

Bis heute verzeichnet die OVCM etwa 100 mutmaßliche Fälle von C-Waffen-Einsätzen, also Verstöße gegen die Resolution 2118, und leitete mehr als 30 Untersuchungen ein. Am 17. November 2016 beschloss der UN-Sicherheitsrat, das Mandat des Gemeinsamen Untersuchungsmechanismus um ein Jahr zu verlängern. Vielleicht wird es dieser hoch angesehenen Organisation ja doch möglich sein, die Verantwortlichen für die Giftgasangriffe zu ermitteln und ihre Untersuchungsergebnisse der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

1 Eliot Higgins, „Attempts to blame the Syrian opposi­tion for the August 21st sarin attacks continue one year on“, Bellingcat, 20. August 2014: www.bellingcat.com.

2 Bericht der OVCM an den UN-Generalsekretär vom 12. Februar 2016.

3 Siehe Anmerkung 2.

4 Bericht des Generaldirektors der OVCM an den UN-Generalsekretär vom 29. Dezember 2016.

5 28. März 2016.

Aus dem Französischen von Inga Frohn

Akram Belkaïd ist Journalist und Autor. Zuletzt erschien von ihm „Être arabe aujourd’hui“, Paris (Éditions Carnets Nord) 2011. akram-belkaid.blogspot.com.

Was wann geschah

17. Juni 1925 Unterzeichnung des „Protokolls zum Verbot der Verwendung von erstickenden, giftigen oder ­anderen Gasen sowie von bakteriologischen Mitteln im Kriege“ (Genfer Protokoll). Kein Verbot zu der Produktion solcher Waffen.

22. November 1968 Die Arabische Re- publik Syrien ratifiziert das Genfer Protokoll.

3. September 1992 Verabschiedung des „Übereinkommens über das Verbot der Entwicklung, der Herstellung, der Lagerung und des Einsatzes chemischer Waffen und über die Vernichtung solcher Waffen“ (CWÜ). Syrien tritt dem Abkommen nicht bei.

29. April 1997 Inkrafttreten des Chemiewaffenübereinkommens und Gründung der „Organisation für das Verbot chemischer Waffen“ (OVCW) mit Sitz in Den Haag und einem Labor in Rijswijk.

2012 Das syrische Regime und die bewaffnete Opposition werfen sich gegenseitig vor, chemische Kampfstoffe einzusetzen.

27. März 2013 Die OVCW erklärt sich besorgt über den Einsatz chemischer Waffen im Syrien-Konflikt.

21. August 2013 Giftgasangriff in Ghuta, einem Vorort von Damaskus. Das Assad-Regime und die bewaffnete Opposition weisen sich gegenseitig die Verantwortung zu.

14. September 2013 Auf Initiative Putins unterzeichnen die USA und Russland in Genf den „Referenzrahmen zur Vernichtung der syrischen Chemiewaffen“. Die syrische Regierung verpflichtet sich, das Übereinkommen über das Verbot der Entwicklung, der Herstellung, der Lagerung und des Einsatzes chemischer Waffen sowie über die Vernichtung solcher Waffen zu respektieren.

16. September 2013 UNO und OVCW ­be­stätigen den Einsatz von Saringas in Ghuta, benennen jedoch keine Schuldigen.

19. September 2013 Die syrische Regierung gibt der OVCW eine detaillierte Liste der in ihrem Besitz befindlichen Chemiewaffen (Waffenvorräte, Stück­listen, Produktionsmittel, Forschungs- und Entwicklungseinrichtungen et cetera).

14. Oktober 2013 Der Beitritt Syriens zum CWÜ tritt in Kraft.

Ende Juni 2014 Syrien übergibt seine letzten deklarierten chemischen Kampfstoffe und Produktionsstätten an die OVCW-Inspekteure.

29. Dezember 2016 Die OVCW erklärt, dass alle von Syrien deklarierten chemischen Kampfstoffe und Produktionsanlagen zerstört wurden, dass sie die ihr übermittelten Angaben jedoch als „unvollständig“ erachtet.

4. April 2017 Giftgasangriff in Chan Scheichun.

Le Monde diplomatique vom 11.05.2017, von Akram Belkaïd