Alltag in Donezk
Russisches Geld, Moskauer Zeit und das Grollen der Artillerie
von Loïc Ramirez
Das ganze Kiewski-Viertel ist vom Krieg im Donbass gezeichnet. Zerstörte Gebäude und von Granatsplittern beschädigte Fassaden zeugen hier wie in anderen Randbezirken von Donezk von der Intensität dieses Konflikts, der seit April 2014 nahezu 10 000 Menschenleben gefordert hat.
„Ich konnte bis zum letzten Moment nicht glauben, dass unsere eigene Armee auf uns schießt“, empört sich Sascha, während er sich einen Weg durch die mit Kratern übersäten Straßen des Viertels bahnt. Während beide Seiten ihre Toten zählen, wird es immer unwahrscheinlicher, dass die selbstproklamierten Volksrepubliken Donezk (VRD) und Lugansk (VRL) der inoffiziell von Russland unterstützten Separatisten sich wieder unter die Kontrolle der Regierung in Kiew begeben werden, wie es das Minsker Abkommen vom Februar 2015 vorsieht.
Die am 11. Mai 2014 per Referendum bestätigte VRD wird von keinem Mitgliedstaat der Vereinten Nationen anerkannt, nicht einmal von Russland. Dennoch wird „die Republik“, wie man die VRD hier nennt, mit jedem Tag konkreter. An den öffentlichen Gebäuden hängt nicht mehr die gelb-blaue ukrainische Flagge, sondern die schwarz-blau-rote Trikolore der VRD mit dem russischen Doppeladler.
In der Eingangshalle der Schule Nummer 61 im Kiewski-Viertel hängen Fotos der im Großen Vaterländischen Krieg (1941–1945) gefallenen Helden – und direkt daneben die Porträts junger Milizionäre, die im aktuellen Konflikt ums Leben gekommen sind. „Alles Ehemalige dieser Schule“, sagt Andrei Udowenko, der Direktor. Er erzählt, dass 2014/2015 sechs Monate lang Fernunterricht stattfand, weil die Schule bei Bombenangriffen beschädigt worden war. „Die Eltern und wir Lehrer haben in freiwilliger Arbeit geholfen, sie wiederaufzubauen.“ Die Lehrer erhielten seit September 2014 von der VRD 3000 Hrywnja im Monat (130 bis 180 Euro, je nach Wechselkurs). Vor dem Krieg waren es 4000 Hrywnja. Inzwischen zahlt die VRD ein Gehalt von 10 000 bis 12 000 Rubel (161 bis 193 Euro).
Im Zentrum von Donezk schlendern Verliebte Hand in Hand durch die Straßen, in den Parks tollen Kinder auf Plastikdreirädern herum. Nur ein paar Pfeile und die Aufschrift „Schutzraum“ an Hausfassaden stören den Eindruck von Frieden. Plötzlich hört man eine Explosion, dann noch eine. Gewehrfeuer erinnert daran, dass die Front nur ein paar Kilometer entfernt ist.
Mit Einbruch der Nacht leert sich die Stadt. Zwischen 23 und 6 Uhr herrscht eine Ausgangssperre für die Zivilbevölkerung. Zu hören sind nur noch die Detonationen. Am nächsten Morgen erwacht die Stadt im Lärm der Autos und Busse zu neuem Leben. Später füllen sich die Cafés mit jungen Leuten, die in der Mittagspause an ihren Mobiltelefonen kleben.
Die Direktorin der Hochschule für Verwaltungswesen erzählt, dass knapp ein Drittel der Studierenden und der Lehrkräfte zu Beginn des Kriegs das Institut verlassen hatten. „Die Studierenden sind wieder da, im Gegensatz zu einem Teil der Dozenten.“ Auch ihr Vorgänger ist im Dezember 2014 gegangen. Auf die Frage, warum sie hiergeblieben sind, antworten zwei der Studierenden ganz selbstverständlich: „Weil wir hier zu Hause sind.“
Weil Führungskräfte fehlen, sind viele Schlüsselpositionen mit Personen ohne einschlägige Berufserfahrung besetzt worden. Auch der Präsident der VRD, Alexander Sachartschenko, ein gelernter Elektriker, nutzte die sich bietende Gelegenheit zum Aufstieg. Ebenso die ehemalige Lehrerin Maia Peragowa, die früher „aus Spaß“ Zeitungsartikel schrieb. Heute leitet sie eine Abteilung des Informationsministeriums. Peragowa resümiert den improvisierten Neuanfang in den ersten beiden Jahren des Konflikts: „Als die Leitung des lokalen TV-Senders K61 floh, nahmen Angestellten den Sender selbst in die Hand.“ Nun ist er Kanal 1 der Republik. Gleiches geschah im Printsektor. „Die leitenden Redakteure gingen, die Journalisten übernahmen die Blätter, ohne Gehalt. Am Anfang trugen sie ihre Zeitungen sogar eigenhändig aus, weil die Post nicht mehr zugestellt wurde.“
1,6 Millionen Bewohner der Krim und des Donbass sind nach Angaben des ukrainischen Sozialministeriums geflohen. Wie viele Menschen aktuell in den selbstproklamierten Republiken leben, lässt sich nicht sicher sagen. Die VRD und die VRL umfassen die am dichtesten bevölkerten Gebiete einer Region, in der vor dem Krieg 6,5 Millionen Menschen lebten und in der nach Schätzungen der UNO gegenwärtig 2,3 Millionen Personen humanitäre Hilfe benötigen.
Geld nur über die Schwarzbank
Im November 2014 stoppte Kiew die Rentenzahlungen an alle Bewohner der Krim und anderer nicht unter ukrainischer Kontrolle stehender Gebiete. Inzwischen gibt es eine Sonderregelung für Vertriebene.1 „Damals meldeten sich manche Rentner bei Verwandten auf der ukrainischen Seite an. So bezogen sie zwei Renten, eine aus der Ukraine, eine aus der VRD“, berichtet ein junger Bauarbeiter namens Andrei. Inzwischen komme dies seltener vor, da die ukrainischen Behörden die Kontrollen verschärft hätten. Die Rentner müssten sich ihr Geld nunmehr alle drei Monate persönlich am Schalter auszahlen lassen. Insgesamt überqueren zwischen 800 000 und 1 Million Menschen, die offiziell als Vertriebene registriert sind, regelmäßig einen der fünf Kontrollpunkte.
Im Mai 2014 begannen die in Donezk ansässigen ukrainischen Banken ihre Filialen zu schließen und stellten den Betrieb schließlich in der gesamten abtrünnigen Region ein. Wer keinen Passierschein für das Territorium der Ukraine besaß, musste Geldgeschäfte über improvisierte Schwarzbanken erledigen, die für jede Transaktion 10 Prozent Gebühren verlangten.2 „Bargeld kriegte man nur über Mittelsmänner: Nach einer Internetüberweisung bekam man die Summe abzüglich Gebühr. Die Vermittler hoben das Geld auf ukrainischen Territorium ab“, erinnert sich Andrei.
Daraufhin gründete die VRD am 7. Oktober 2014 die „Zentralbank der Republik“. Über sie laufen vor allem die Erstattung von Wohnkosten und die Altersrenten, die in Rubel ausgezahlt werden. Seit Frühjahr 2015 wurden annähernd 90 Prozent aller Transaktionen in der russischen Währung getätigt. Im Mai desselben Jahres eröffnete die Donezker und Lugansker Zentralbank ein internationales Konto bei einem Finanzinstitut in Südossetien , der sezessionistischen Teilrepublik Georgiens, die von Moskau anerkannt wird. Über diesen Kanal erfolgt mutmaßlich auch die finanzielle Unterstützung der VRD.
Der Kreml erkennt die „Volksrepubliken“ zwar offiziell nicht an, doch Präsident Putin unterzeichnete im Februar ein Dekret, das eine temporäre Anerkennung von Pässen, Nummernschildern, Geburts- und Heiratsurkunden und anderen Dokumente vorsieht, solange das Minsker Abkommen nicht umgesetzt ist.
Die Russifizierung des Alltags betrifft sogar die Uhrzeit: Es gilt Moskauer Zeit. Auch in den Schulen dominiert das Russische mehr denn je. Und sie betrifft den Bildungssektor. „Seit dem Schuljahr 2014 hat uns Kiew keine neuen Schulbücher mehr geschickt. Also haben wir uns entschlossen, mit russischen Lehrwerken zu arbeiten“, sagt Schuldirektor Andrei Udowenko. „Wir haben jetzt mehr Russischstunden, für den Abschluss der Sekundarstufe ist Russisch jetzt obligatorisches Prüfungsfach, Ukrainisch nicht mehr. Im Literaturunterricht werden verstärkt russische Autoren gelesen, aber nach wie vor auch ukrainische. Und in Geografie haben wir Karten über das Donezbecken hinzugefügt.“
Die Eltern entscheiden über die Unterrichtssprache ihrer Kinder. „Seit Oktober 2014 ist die Zahl der ukrainischsprachigen Klassen von 15 auf 4 Prozent eingebrochen“, fährt der Direktor fort. „Bei uns wollte nur einer von 80 Erstklässlern zum Schuljahresbeginn 2016 auf Ukrainisch unterrichtet werden. Wir haben ihm eine nahe gelegene andere Schule empfohlen, wo es eine geeignete Klasse gab.“ Auf die Frage nach einer eventuellen Reintegration der VRD in die Ukraine antwortet er: „Nicht, solange in Kiew die aktuelle Regierung an der Macht ist.“
„Hier hat das Volk das Sagen“, liest man im Zentrum von Donezk auf großen Werbebannern. Die Hauptstraße ist geschmückt mit hunderten Porträts von Michail Tolstych, besser bekannt als Giwi. Berühmt wurde der am 8. Februar durch ein Attentat getötete Kommandant der Separatisten beim Kampf um den Flughafen Donezk im Herbst 2014. Die makellosen Polizeiautos sind farblich auf die VRD-Flagge abgestimmt, ebenso wie die Abzeichen der Polizisten. Auch in den Geschäften sind einige Waren, wie Kekse und Wurst, mit einem Siegel in den Farben der „Volksrepublik“ versehen: „Hergestellt in der VRD“.
Es ist ein offenes Geheimnis, dass die Institutionen der VRD auf Subventionen aus Moskau angewiesen sind. Aber die neuen Machthaber haben schnell begonnen, auf ihrem Territorium selbst finanzielle Ressourcen abzuschöpfen. Luis Hernando Muñoz leitet seit 30 Jahren eine in Donezk ansässige Firma, die Kaffee aus Kolumbien importiert. In seinen Sessel versunken erzählt er, dass in der ersten Phase des Kriegs von 2014 bis 2015 mehrere Läden beschlagnahmt wurden, um damit die neue Kette „Erster Republikanischer Supermarkt“ aufzubauen, die inzwischen aufgrund ihrer moderaten Preise sehr beliebt ist.
„Ich weiß, dass mit den Einnahmen dieser Läden unter anderem die Renten finanziert werden. Damit soll die Lage stabilisiert werden“, behauptet der Unternehmer. Über die unmittelbaren Profiteure und sonstige Verwendungen des rudimentären Steuerwesens schweigt er. Die Leiterin eines UN-Entwicklungsprogramms, die anonym bleiben möchte, berichtet, dass kleine und mittlere Unternehmen unter Druck gesetzt werden. Sie sollen sich registrieren lassen und Steuern an die Republik zahlen.
Bis Kiew die Kontrolle entglitt, waren die meisten Bergwerke und Industriebetriebe der Region offiziell in der Ukraine registriert, wo sie auch Steuern zahlten, um sich den Zugang zum ukrainischen Markt zu sichern. Produkte wie Erz, Kohle oder Stahl überquerten die Konfliktlinie noch bis vor Kurzem in beide Richtungen.
Als militante ukrainische Nationalisten Anfang des Jahres diese Transporte blockierten, übernahm die VRD kurzerhand 43 Unternehmen. Betroffen waren vor allem Bergwerke und Metallbetriebe, die Rinat Achmetow gehörten. Dieser Oligarch aus dem Donbass3 hatte zunächst die Separatisten unterstützt, bevor er auf die Linie Kiews umschwenkte. Nach Daten der ukrainischen Steuerverwaltung zahlten 8 der 43 besetzten Unternehmen zusammen knapp 1,3 Milliarden Hrywnja (45 Millionen Euro) Steuern pro Jahr an den ukrainischen Staat.
Aus Donezker Perspektive scheint die zunehmende Annäherung an Moskau weniger durch nationalistischen Elan motiviert als eher durch die neueren Bestrebungen Kiews, den Graben zwischen der Ukraine und den selbstproklamierten Teilrepubliken zu vertiefen. „Verstaatlichung ist weder eine gute noch eine schlechte Sache, sondern eine Notwendigkeit, um Arbeitsplätze zu sichern und die Geschäftstätigkeit aufrechtzuerhalten“, argumentiert Jana Chomenko vom Fachbereich Internationale Wirtschaft an der Nationalen Technischen Universität Donezk. Und ihre Chefin Ludmilla Tschabalina fügt hinzu: „Die ukrainische Blockade zwingt uns, unsere Waren nach Russland abzusetzen.“
Luis Hernando Muñoz sagt, er musste zu Beginn des Konflikts 2014 für jeden Lastwagen, der die Kontrollposten der nationalistischen Milizen passieren wollte, 10 000 Dollar bezahlen. Seit die Kontrollen 2015 verschärft wurden, sei es „unmöglich, etwas über die Grenze zu bekommen“. Daher führe er seine Waren inzwischen „ganz legal“ über Russland ein.
Am 14. März 2017 verkündeten die Machthaber der VRD, die ersten Kohlelieferungen nach Russland seien auf den Weg gebracht. Die ukrainische Regierung gab ihrerseits bekannt, Anthrazitkohle aus Südafrika importieren zu wollen. Für Russland, den sechstgrößten Kohleförderer der Welt, besteht eigentlich keinerlei Notwendigkeit, diesen Rohstoff zu importieren.
„Es handelt sich um eine rein politische Entscheidung“, glaubt der Kaffeehändler Muñoz. „So soll verhindert werden, dass hier alles zusammenbricht und Russland am Ende einen Scherbenhaufen direkt vor seiner Haustür erbt.“ Ein Teil der exportierten Kohle aus dem Donbass gelangt über den Umweg über Russland letztlich sogar wieder in die Ukraine. Wie der Internetsender Radio Svoboda unlängst aufdeckte, wird die Kohle für das Metallkombinat Azovstal bei Mariupol (im von Kiew kontrollierten Gebiet) inzwischen mit Frachtkähnen aus Russland geliefert. Doch die Kohle stammt einer lokalen Quelle zufolge aus Gruben in den Separatistengebieten.4
Die ukrainische Politik, weit davon entfernt, die Autonomiebestrebungen der VRD zu bremsen, drängt die Region weiter in den Osten. Und für die Bewohner des Donbass scheint der große russische Nachbar Stabilität zu garantieren, während der Abstand zu Kiew mit jedem Tag ein wenig wächst. An der Fassade des riesigen Regierungsgebäudes der VRD, in dem vorher die Regionalregierung ihren Sitz hatte, erkennt man noch die hellen Konturen eines Dreizacks: die Umrisse des abgerissenen ukrainischen Wappens.
„Man lernt viel über ein Volk, indem man sich seine Statuen anschaut“, sagt Miquel Puertas, ein spanischer Hochschullehrer in Donezk. „Hier steht der ukrainische Lyriker Taras Schewtschenko und daneben, deutlich größer, Lenin. Der Wichtigste aber ist Artjom.“
Der bolschewistische Revolutionär, der mit richtigem Namen Fjodor Andrejewitsch Sergejew hieß, gilt als Gründer der kurzlebigen Sowjetrepublik Donezk-Kriwoi Rog, die im Februar 1918 als Folge der Oktoberrevolution in Petrograd proklamiert wurde. Im Russischen Bürgerkrieg wurde die Ukraine zwischen der Roten Armee, den Truppen des ukrainischen Nationalisten Petljura, der Weißen Armee Denikins und der anarchistischen Machno-Bewegung ukrainischer Bauern zerrissen. Im Jahr 1919 erfolgte schließlich die Eingliederung der autonomen Republik Donezk-Kriwoi Rog in die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik, die 1922 dann in die Sowjetunion integriert wurde. Miquel Puertas schlussfolgert: „Die aktuellen Geschehnisse hier haben eben eine lange Vorgeschichte.“
Aus dem Französischen von Richard Siegert
Loïc Ramirez ist Journalist.