11.05.2017

Lagerwelten

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Lagerwelten

Provisorischer Dauerzustand für Geflüchtete

von Michel Agier

Zaatari, 28. März 2017 AMMAR AWAD/reuters
Lagerwelten
Kasten: Der Containerverkäufer

Seit den 1990er Jahren spielen in der Berichterstattung aus allen Ländern der Welt Begriffe wie Lager für Geflüchtete oder Vertriebene, Migrantencamp, Wartezone für Personen ohne Aufenthaltsstatus, Transitlager, Abschiebezentrum, Erstaufnahmeunterkunft, Ghetto, Dschungel und Hotspot eine wichtige Rolle. Dabei leben Millionen Menschen zum Teil schon seit Jahrzehnten in Lagern. Dieses Leben ist ihr Alltag. Die Flüchtlingscamps sind ein wichtiger Teil der Weltgesellschaft und führen zugleich vor, wie die Weltregierung das Unerwünschte verwaltet.

Nach dem Ende des Kalten Kriegs und nach unzähligen politischen, ökologischen und ökonomischen Erschütterungen hat die Unterbringung von Geflüchteten in Lagern gewaltige Ausmaße angenommen. Es handelt sich bei diesem Phänomen auch um ein Produkt der globalen Deregulierung im 21. Jahrhundert: Lokale, nationale oder internationale Behörden entscheiden über Menschen und bringen sie für unbestimmte Zeit in irgendeine Art Lager unter oder zwingen sie, sich selbst dorthin zu begeben.

Im Jahr 2014 lebten weltweit 6 Millionen Menschen – vor allem Völker im Exil wie die Karen aus Myanmar in Thailand, die Sahrauis in Algerien oder die Palästinenser im Nahen Osten – in einem der 450 offiziellen Flüchtlingslager, die internationale Behörden wie das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) oder das UN-Flüchtlingshilfswerk für Palästina (UNWRA), seltener auch nationale Behörden, verwalten.

Diese Lager wurden oft unter Zeitdruck errichtet, ohne dass man erwartet oder gar geplant hatte, dass daraus einmal dauerhafte Einrichtungen entstehen könnten. Manche Lager existieren seit 20 Jahren (wie in Kenia), seit 30 Jahren (in Pakistan, Algerien, Sambia, im Sudan) oder sogar seit 60 Jahren (im Nahen Osten). Im Laufe der Zeit haben einige das Aussehen riesiger, dicht bevölkerte Stadtrandsiedlungen angenommen.

Hinzu kommen mehr als 1000 Lager für Binnenvertriebene, in denen 2014 etwa 6 Millionen Menschen lebten, und mehrere tausend kleine selbst­im­provisierte Camps mit 4 bis 5 Mil­lio­nen Bewohnern, vor allem sogenannte illegale Migranten. Diese vergänglichen und meist unauffälligen provisorischen Ansiedlungen findet man vielfach am Rand der Städte oder entlang der Grenzen, auf Brachland oder in Ruinen, Baulücken und leer stehenden Gebäuden.

Und schließlich werden inzwischen mindestens 1 Million Migranten mindestens einmal in einem der weltweit 1000 Abschiebehaftzentren (400 in Europa) gewesen sein. Wenn man die Iraker und Syrer mitzählt, die in den letzten drei Jahren aus ihren Ländern geflohen sind, leben heute schätzungsweise 17 bis 20 Millionen Menschen in Lagern.

Bei aller Verschiedenheit haben die Lager drei Gemeinsamkeiten: ihre ­Exterritorialität, das Ausnahmeregime und die Ausgrenzung. Es sind räumlich abgegrenzte Sonderzonen, Nicht­orte, die oft auf keiner Karte verzeichnet sind. Obwohl in dem kenianischen Flüchtlingslager Dadaab zwei- bis dreimal so viele Menschen leben wie im ganzen Departement Garissa, in dem

das riesige Camp liegt, findet man es auf keiner Karte des Departements.

Alle Lager unterliegen eigenen Gesetzen und definieren den Grad der politischen Gleichheit zwischen den Staatsbürgern und den Lagerinsassen, deren Bewegungsfreiheit die Lagerverwaltung willkürlich aufheben, verzögern oder einschränken kann. Diese Form der Unterbringung bedeutet per se soziale Ausgrenzung: Sie signalisiert und kaschiert zugleich, dass die Geflüchteten als ganze Bevölkerungsgruppe überschüssig und zu viel sind.

Die Tatsache, dass die Bewohner eines wie auch immer gearteten Lagers sich offenkundig von den übrigen Bürgern des Landes unterscheiden und insofern auch nicht integrierbar sind, bestätigt ihr Anderssein, das wiederum ein Resultat ihrer juristischen und territorialen Ausgrenzung ist.

Die Lager beherbergen jeweils eine bestimmte Gruppe von Menschen – von Haftzentren für Migranten ohne Aufenthaltstitel bis zu sogenannten humanitären Einrichtungen für Geflüchtete. Die offiziellen Kategorien zur Identifikation sind wie Masken, die den Schutzsuchenden vorübergehend übers Gesicht gelegt werden.

So wurde beispielsweise aus einem Binnenvertriebenen in Liberia, der 2002/2003, also auf dem Höhepunkt des Bürgerkriegs, in einem Lager am Stadtrand der Hauptstadt Monrovia lebte, ein Flüchtling, nachdem er jenseits der Grenze in der Region Waldguinea in ein UNHCR-Lager gekommen war und registriert wurde. Kaum hatte er jedoch das Lager verlassen, um sich in Guineas Hauptstadt Conakry einen Job zu suchen, galten er und seine Landsleute im Liberierviertel von Conakry als Illegale. Von dort aus wird er vielleicht versucht haben, über das Meer oder quer durch den Kontinent auf den Transsahara-Routen nach Europa zu gelangen.

Nehmen wir an, er schafft es bis nach Frankreich und landet dort in einer der 100 Wartezonen für Personen ohne Aufenthaltstitel, die in den Häfen oder Flughäfen eingerichtet wurden. Dann ist er erst mal nichts anderes als ein Häftling, solange er sich nicht als Asylbewerber registrieren lassen kann, wobei die Wahrscheinlichkeit groß ist, dass sein Antrag abgelehnt wird. Bis ­alle Formalitäten für seine Ausweisung erledigt sind, befindet er sich in Abschiebehaft. Wenn er nicht offi­ziell ausgewiesen werden kann, wird er „frei­gelassen“ und taucht vielleicht irgendwann in Calais oder am Stadtrand von Rom wieder auf – als illegaler Migrant, der in einem Zeltlager oder in einem von afrikanischen Migranten besetzten Haus Unterschlupf gefunden hat.

Die Zeiten, in denen Flüchtlingslager nur in fernen Weltgegenden vorkamen, den „unterentwickelten Ländern“ des Südens, sind endgültig vorbei. Seit 2015 sind durch die Ankunft der Geflüchteten aus dem Nahen Osten auch in Europa verschiedene Lagertypen entstanden, die unterschiedliche Funktionen haben. In Italien, in Griechenland, an der Grenze zwischen Mazedonien und Serbien oder zwischen Ungarn und Österreich wurden zahlreiche Aufnahme-, Registrierungs- und Verteilzentren für Migranten errichtet. Sie stehen unter polizeilicher oder Zivilverwaltung und werden von nationalen Behörden, der Europäischen Union oder privaten Institutionen betrieben.

Die allmähliche Umgestaltung zur Stadt

Anfangs wurden die Geflüchteten in leer stehenden Lagerhallen, ehemaligen Militärkasernen oder Wohncontainern auf Brachland untergebracht. Doch der Platz reichte nicht für die vielen Menschen, und so entstanden gleich daneben wilde Lager, verwaltet von NGOs, Anwohnern oder den Geflüchteten selbst. So lief es etwa in Moria auf der griechischen Insel Lesbos ab, dem ersten Hotspot, den die Europäische Union im Oktober 2015 an der Außengrenze des Schengenraums errichtet hat, um Geflüchtete zu identifizieren und ihre Fingerabdrücke zu nehmen.1 So kann aus einem improvisierten und eigentlich nur für ein paar Dutzend Personen ausgelegten Hotspot bald ein richtig großer Slum werden.

In Griechenland lebten in einem Zeltlager neben dem Hafen Piräus zeitweise über 5000 Personen; bis zu 12 000 Menschen hausten in Idomeni an der griechisch-mazedonischen Gren­ze wie in einer riesigen Wartezo­ne.2 Auch in Frankreich wurden in den letzten Jahren zahlreiche Ankunfts­zentren für Asylbewerber und Notunterkünfte errichtet. Und auch hier herrscht chronischer Platzmangel, sodass sich in der unmittelbaren Umgebung wilde Unterkünfte gebildet haben. Migranten, die nicht mehr in das Lager aufgenommen werden, das die Stadt Paris im Herbst 2016 an der ­Porte de la Chapelle eröffnet hat, müssen in Zelten, auf dem Bürgersteig oder unter der Hochbahn schlafen.

Was passiert mit den Lagern? Bislang gibt es drei Möglichkeiten. Entweder versucht man dafür zu sorgen, dass sie verschwinden, indem man sie gewaltsam räumt und zerstört, wie 2009 das Migrantenlager im griechischen Patras und 2016 den „Dschungel“ von Calais, oder sie werden wiederholt geräumt wie die Roma-Camps vor den Toren von Paris und Lyon. Wenn ein Lager aber schon sehr lange existiert, wie etwa Maheba in Sambia, dann lässt es sich nicht einfach beseitigen. Maheba wurde 1971 eröffnet. 2002 sollte das Lager geschlossen werden; aber das ist unmöglich. Die meisten der inzwischen 58 000 Angolaner leben schon seit zwei oder sogar drei Generationen hier.

Ein zweiter Weg ist die langfristige Umgestaltung, die bis zur Anerkennung und einer Art Stadtrecht führen kann, wie im Fall der Palästinenserlager im Nahen Osten oder bei der allmählichen Integration der Lager für Binnenvertriebene aus dem Südsudan in die Peripherie von Khartum. In der dritten und gegenwärtig häufigsten Variante wird einfach nur abgewartet.

Dabei wären andere Szenarien durchaus vorstellbar. Die Lager sind nichts Unvermeidbares. 2014 und 2015 war längst abzusehen, dass in Zukunft noch mehr Menschen aus dem syrischen Kriegsgebiet fliehen werden. Seit 2012 appellieren UN-Behörden und Hilfsorganisationen vergeblich an die Staatengemeinschaft, sich mehr zu engagieren, Geflüchtete aufzunehmen und geordnete und würdige Bedingungen für sie zu schaffen.

Doch was geschah? Die vermeintlich plötzliche Massenankunft löste bei den unvorbereiteten Regierungen Panik aus und ihre Sorge übertrug sich auf die Bevölkerung. Die humanitäre Katastrophe lässt sich politisch instrumentalisieren, um rigorose Maßnahmen zu rechtfertigen. Aber die Einsperrung und Ausweisung der Migranten wirkt wie eine inszenierte Verteidigung des Vaterlands. Im Grunde hatte die Entfernung des „Dschungels“ von Calais im Oktober 2016 die gleiche symbolische Funktion wie die Errichtung neuer Grenzanlagen oder das EU-Abkommen mit der Türkei vom März 20163 : Diese Maßnahmen sollen nur suggerieren, dass der Staat für die Sicherheit seiner Bürger sorgen kann.

2016 ging die Zahl der Migranten, die nach Europa kamen, gegenüber 2015 um zwei Drittel zurück. Mehr als 6000 Menschen kamen bei der Flucht über das Mittelmeer und den Balkan4 ums Leben. Inzwischen hat der Kontinent die Flüchtlingsfrage auf die Türkei und Nordafrika abgewälzt – und viele weitere Lager aufgebaut.

1 Siehe Niels Kadritzke, „Hotspot Griechenland“, Le Monde diplomatique, April 2016; und Niels Kadritzke, „Wutbürger in Lesbos und anderswo“, Griechenland-Blog auf monde-diplomatique.de vom 23. September 2016.

2 Siehe Migreurop (Hg.), „Atlas des migrants en Europe. Géographie critique des politiques migratoires“, Paris (Armand Colin) 2012; und Babels, „De Lesbos à Calais. Comment l’Europe fabrique des camps“, Neuvy-en-Champagne (Le Passager clandestin, coll. „Bi­blio­thèque des frontières“) 2017.

3 Alle Flüchtlinge, die in Griechenland kein Asylrecht erhalten, sollen in die Türkei zurückgeschickt werden. Im Gegenzug wird dieselbe Anzahl anerkannter Asylbewerber von der Türkei direkt in aufnahmewillige EU-Länder ausgeflogen.

4 Siehe Babels, „La Mort aux frontières de l’Europe. Retrouver, identifier, commémorer“, Neuvy-en-Champagne (Le Passager clandestin, coll. „Bibliothèque des frontières“) 2017.

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Michel Agier ist Ethnologe und Autor von: „Borderland: Towards an Anthropology of the Cosmopolitan Condition“, Cambridge (Polity Books) 2016, und „Managing the Undesirables: Refugee Camps and the Humanitarian Government“, Cambridge (Polity Books) 2011.

Der Containerverkäufer

Antoine Houdebine ist stellvertretender Direktor der französischen Firma Logistic Solutions, die eingerichtete Container als Migrantenunterkünfte verkauft. Als die Räumung des „Dschungels“ von Calais bevorstand, wurde die Einrichtung eines Provisorischen Aufnahmezen­trums (CAP) öffentlich ausgeschrieben. Den Zuschlag erhielt Logistic Solutions. Seine Sicht auf diesen speziellen Markt erklärte Houdebine am 15. Februar 2016 im Interview mit dem Journalisten und Dokumentarfilmer Nicolas Autheman (siehe auch seinen Artikel auf Seite 6)

„Für mein Unternehmen ist dieses Lager zu einem idealen Referenzobjekt geworden. Ich habe Anfragen aus anderen Ländern, Belgier haben mich angerufen und Türken. In ein paar Wochen besuche ich die Messe für humanitäre Hilfe in Dubai. Da kann ich auch auf das Lager in Calais verweisen. Es ist so ähnlich wie in den 1970er Jahren, als Frankreich Weltmeister beim Bau von Atomkraftwerken wurde, oder wie mit dem Hochgeschwindigkeitszug TGV: Wir exportieren, wir schaffen Arbeitsplätze, wir schaffen Arbeit. Wir ziehen den Markt nach oben. Es gibt eine Menge Lager, die aus Baracken bestehen, das ist nicht der gleiche Komfort. Wir haben ein typisch französisches Lager gebaut, ein schönes Lager aus Containern. Dafür gibt es einen Markt. Nicht alle fahren ein Luxusauto, aber es gibt einen Markt für Luxusautos. Und so gibt es auch einen Markt für schöne Lager aus Containern.

Ich glaube nicht, dass das geplant war, aber es ist ein wunderbarer Nebeneffekt, dass Frankreich inzwischen zu einer Art Referenz geworden ist: Engländer oder Belgier, alle kennen Calais. Auf der Messe für humanitäre Hilfe werde ich den Film von Calais zeigen, dafür ist es natürlich gut, dass sie den Ort schon kennen.

Wir haben da einen gut durchgeführten, intelligent geplanten, schnell durchgezogenen und bestens organisierten Bau hingestellt. Das ist schließlich eine neue Erfahrung, eine zu 100 Prozent ­französische Geschichte, abgesehen von den Migranten, die voll in die richtige Richtung läuft.

Ich finde das Ergebnis absolut in Ordnung. Von außen macht es Eindruck, die Beschilderung hat echt Pepp. Ich finde, es sieht sehr sauber aus. Und drinnen haben sie etwas Anständiges, Stahlbetten – es ist ja nicht, um darin zu leben, sondern um im Warmen zu schlafen. Das Ziel ist also erreicht, das Design und der Komfort sind absolut korrekt. Ich bin sicher, dass die Migranten in anderen Ländern sich freuen würden, so was zu haben.“

Le Monde diplomatique vom 11.05.2017, von Michel Agier