Kriegsgeheul in der Ägäis
Griechenland sieht sich durch territoriale Ansprüche der Türkei bedroht
von Niels Kadritzke
Es war einer der bizarrsten Zwischenfälle im Mittelmeer seit Jahren, und die Kontrahenten waren zwei Nato-Länder. Am 29. Januar dieses Jahres unternahm der türkische Generalstabschef Hulusi Akar, begleitet von den Kommandeuren aller Waffengattungen, nahe der Dodekanes-Insel Kalymnos eine demonstrative Spritztour in griechische Territorialgewässer.
Auf dem Raketenschnellboot „Meltem“ umrundeten die hohen Militärs zwei unbewohnte Inseln, die auf Griechisch Imia (offiziell: Limnia) und auf Türkisch Kardak heißen. Zu der Flottille gehörten zwei ultramoderne Sturmboote, die für das Absetzen von Kommandotrupps geeignet sind. Mit dem Unternehmen Imia wollte die Türkei ein doppeltes Zeichen setzen.
Zum einen war es eine Reaktion auf die Entscheidung des obersten Gerichts in Athen, acht türkische Soldaten, die nach dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 nach Griechenland geflohen waren, nicht an die Türkei auszuliefern.1 Zum Zweiten war es eine mahnende Erinnerung an das Nachbarland, exakt 21 Jahre nach der ersten „Imia-Krise“, die fast einen kleinen Ägäiskrieg ausgelöst hätte.
Begonnen hatte die Krise an Weihnachten 1995. Ein türkischer Frachter war bei Imia auf Grund gelaufen und wollte sich nicht von der griechischen Küstenwache abschleppen lassen. In Ankara erklärte die Regierung Çiller, die Inseln seien türkisches Territorium. Dann trat der Bürgermeister von Kalymnos in Aktion. Begleitet vom Polizeichef und dem örtlichen Popen, pflanzte er auf der größeren Insel die griechische Flagge auf. Daraufhin flogen zwei türkische Journalisten der Zeitung Hürriyet mit einem gemieteten Hubschrauber los, holten das blau-weiße Tuch ein und zogen die rote Halbmond-Flagge hoch.
Die Szene lief im Hürriyet-Fernsehen. Der selbst produzierte Scoop ließ die Krise eskalieren. Am 31. Januar 1996 landete ein griechisches Kommando auf der größeren und ein türkisches auf der kleineren Insel. Beide Seiten schickten ein Dutzend Kriegsschiffe los; auf griechischer Seite gab es drei Tote, als ein Marinehubschrauber abstürzte. Entschärft wurde die Krise durch die Intervention der USA. Bill Clintons rasender Krisenmanager Richard Holbrooke erfand die Kompromissformel „no ships, no troops, no flags“, die eine Rückkehr zum Status quo ante bedeutete.2
Aus Sicht Athens ist die aktuelle Eskalation gefährlicher als der Showdown von 1996. Zum einen ist Griechenland heute verwundbarer, weil es gleich zwei Krisen zu bewältigen hat: die ökonomische Überlebenskrise und die Flüchtlingskrise. Sollten sich die Spannungen mit Ankara weiter verschärfen, wäre das eine Krise zu viel. Zumal der türkische Präsident Erdoğan in seinem Streit mit den EU-Ländern angedroht hat, wieder mehr Migranten auf die griechischen Inseln zu „schicken“.
Der zweite Grund für die griechischen Sorgen ist, dass die türkische Politik heute weniger berechenbar erscheint. Erdoğan heizt die nationalistische Stimmung an, um für das Referendum vom 16. April zu mobilisieren, das sein autoritäres Regime verewigen soll. Dabei umwirbt er gezielt die Anhänger der ultranationalistischen MHP, die schon in der ersten Imia-Krise die Kriegsstimmung angeheizt hatte. Auch jetzt fordert der MHP-Vorsitzende Devlet Bahçeli, die „Besetzung“ türkischer Inseln müsse ein Ende haben. Und droht in Anspielung auf den Kleinasienkrieg von 1919 bis 1922, die Türkei werde den Griechen erneut eine historische Lektion erteilen: „Wenn sie wieder ins Meer gejagt werden wollen, herzlich willkommen: Die türkische Armee ist bereit.“3
Solche Töne sind von Erdoğan nicht zu hören. Dennoch fragt man sich in Athen, wie die künftige Außenpolitik des Staatspräsidenten aussieht, der seit einiger Zeit die „osmanische Vergangenheit“ der Türkei beschwört. Besonders bedrohlich klingt Erdoğans Kritik am Lausanner Vertrag von 1923. In den letzten Monaten hat er das Dokument, das die Gründungsurkunde der modernen Türkei darstellt, mehrfach als schlechten Deal bezeichnet.
Wenn Erdoğan erklärt, dieser Vertrag sei für ihn kein „heiliger Text“, sehen viele Beobachter darin vor allem den unverhohlenen Anspruch auf den Nordirak (mit Mossul und Kirkuk), auf den Atatürk 1923 verzichten musste. Damit will Erdoğan offensichtlich den „Vater der Türken“ delegitimieren, um sich in den Köpfen künftiger Generationen selbst als neuer Staatsheiliger zu etablieren.
Es geht auch um die Außengrenze der EU
Aber Erdoğan bemängelt auch explizit, in Lausanne habe man die griechischen Inseln „weggegeben“, die so nah vor der türkischen Küste liegen, „dass wir eure Stimmen hören können, wenn ihr herüberruft“. Und weiter: „Diese Inseln gehörten uns. Wir haben dort Werke, Moscheen und eine Geschichte.“4
In Athen denkt niemand, dass die Türkei große, bevölkerungsreiche Inseln wie Lesbos, Chios, Samos oder Kos erobern will. Aber sie könnte versucht sein, mit kleineren, nicht besiedelten Inseln anzufangen. So interpretiert man jedenfalls die Wiederbelebung eines Konflikts, der seit 21 Jahren eingefroren war.
Die Imia-Expedition der türkischen Militärführung hat – genau wie 1996 –eine Eskalation von Imponiergesten und wechselseitigen Drohgebärden ausgelöst. Daraus hat sich inzwischen ein regelrechter Propagandakrieg entwickelt, der nicht nur auf den Webseiten der Militärführungen ausgetragen wird.5
Drei Tage nach der Aktion der türkischen Militärs flog der griechische Verteidigungsminister Kammenos mit einem Hubschrauber in Richtung Imia, um einen Kranz zum Gedenken der drei Toten von 1996 ins Meer zu werfen.6 Daraufhin überflog einer Staffel türkischer F-16-Kampfflugzeuge mehrmals beide Imia-Inseln und sogar die weiter westlich gelegene Insel Kalolimnos. An diesem 1. Februar verletzten türkische Jets den griechischen Luftraum nicht weniger als 138 Mal.
Für eine weitere Eskalation sorgte der türkische Außenminister Çavuşoğlu. Der hatte den neuen Imia-Streit am 1. Dezember 2016 eröffnet, als er in der Zeitung Milliyet die Kardak-Eilande samt 17 weiteren Inseln für die Türkei reklamierte. Am 24. Februar legte er nach und erklärte in Richtung Athen, der türkische Generalstabschef könne jederzeit „seinen Fuß auf das eigene Territorium“ setzen. Prompt feuerte Kammenos, der Çavuşoğlu „Cowboymentalität“ vorgeworfen hatte, aus der Hüfte zurück: „Mal sehen, wie sie von der Insel wieder runterkommen, wenn sie dort landen.“ Die griechischen Streitkräfte könnten jede türkische Provokation beantworten.7
Im Krieg der Worte mischt auch der türkische Regierungschef Yıldırım mit, der längst von 130 „herrenlosen“ Felseninseln spricht und bilaterale Verhandlungen zur Klärung der Besitzverhältnisse fordert. Genau das kommt für die griechische Seite nicht infrage. In der Ägäis gebe es keine „grauen Zonen“, erklärt Regierungschef Alexis Tsipras kategorisch, mithin gebe es nichts zu verhandeln. In Athen sieht man mit Sorge, dass Ankara ständig neue territoriale Streitfragen erfindet, um bilaterale Verhandlungen zu erzwingen, bei denen am Ende nicht das Völkerrecht, sondern das Recht des Stärkeren obsiegt.
Das Misstrauen ist berechtigt. Die eigentliche Wurzel des Ägäiskonflikts ist die Weigerung der Türkei, alle Bestimmungen des Internationalen Seerechts anzuerkennen, die ihren Interessen zuwiderlaufen. Es ist kein Zufall, dass die Strategen in Ankara die „grauen Zonen“ im Jahr 1995 entdeckten, um einen Streit loszutreten, der bis dahin nicht existiert hatte.
Im November 1994 trat das 1982 verabschiedete Internationale Seerechtsübereinkommen in Kraft. Seitdem hat Griechenland theoretisch das Recht, seine nationale Hoheitszone (Territorialgewässer) in der Ägäis von 6 auf 12 Seemeilen (etwa 22 Kilometer) auszudehnen. Das will die Türkei, die das Seerechtsabkommen nicht unterzeichnet hat, um jeden Preis verhindern, und zwar aus zwei Gründen. Die Ausweitung der griechischen Küstenzone auf 12 Seemeilen würde erstens bewirken, dass die Passage in der Mitte der Ägäis unter griechische Hoheit gerät, womit ihr Charakter als internationale Wasserstraße infrage gestellt wäre. Zweitens könnte damit die – noch ausstehende – Abgrenzung der von beiden Ländern beanspruchten Ausschließlichen Wirtschaftszonen (AWZ) in der Ägäis zugunsten Griechenlands beeinflusst werden.8
Beide Bedenken sind in der Sache fragwürdig, aber aus Sicht Ankaras so gravierend, dass die Türkei die Frage der 12-Meilen-Zone zum Casus Belli erklärt hat: Das türkische Parlament ermächtigte damals die Regierung, militärische Mittel gegen Griechenland einzusetzen, falls Athen seine Hoheitszone in der Ägäis auf mehr als 6 Seemeilen ausdehnen sollte. Dieser Beschluss vom 8. Juni 1995 stellt eine Androhung von Gewalt dar, die gegen die UN-Charta (Art.1, Abs. 4) verstößt. Ein halbes Jahr später erhob das türkische Außenministerium erstmals Anspruch auf griechisches Territorium: auf die Doppelinsel Imia/Kardak.
Der Grund war offensichtlich. Nach geltendem Völkerrecht hat noch das winzigste Eiland eine eigene Hoheitszone. Deshalb will Ankara möglichst viele der kleinen, meist unbewohnten Inseln, die zwischen den großen ostägäischen Inseln (wie Chios, Kalymnos, Kos) und der türkischen Küste liegen, für sich beanspruchen. So ließe sich die Seegrenze zwischen beiden Ländern, und damit die EU-Außengrenze, erheblich nach Westen verschieben.
Der potenzielle Raumgewinn für die Türkei lässt sich an zwei Beispielen zeigen (siehe Karte). Im Fall Imia/Kardak verliefe die Grenzlinie nicht zwischen Imia und der türkischen Insel Çatal, sondern zwischen der griechischen Insel Kalolimnos und Kardak/Imia – also knapp 4 Kilometer weiter westlich.
Noch größer wäre der Gewinn bei der Insel Farmakonisi, die 28 Kilometer nördlich von Imia liegt. Wäre sie türkisch, würde sich die Seegrenze um 18 Kilometer nach Westen, in Richtung der griechischen Insel Leros verschieben. Der Effekt käme zustande, weil Farmakonisi 23 Kilometer von Leros, aber nur 12 Kilometer von der türkischen Küste entfernt liegt.
Es ist kein Zufall, dass Ankara in der aktuellen Krise auch die Spannungen um Farmakonisi anheizt. Am 16. Februar kündigte die türkische Marine ein Manöver knapp östlich der Insel an. Tags feuerte ein türkisches Patrouillenboot erstmals mit scharfer Munition innerhalb griechischer Hoheitsgewässer (wenn auch in Richtung Osten), ehe es von einem griechischen Kanonenboot abgedrängt wurde.9
Ein drittes Beispiel illustriert eine andere Facette des Ägäis-Problems: die Rolle der Medien und den nationalen Konsens in der türkischen Gesellschaft. Am 7. März besuchte der griechische Staatspräsident Pavlopoulos die Dodekanes-Insel Pserimos, die zur Gemeinde Kalymnos gehört. Pserimos ist im Sommer ein beliebtes Ausflugsziel für Urlauber aller Herren Länder, die von der Nachbarinsel Kos übersetzen. Niemand von ihnen hätte den geringsten Zweifel, dass Pserimos eine griechische Insel ist. Anders die viertgrößte türkische Tageszeitung Sözcü: Sie meldete am 10. März auf ihrer Titelseite, Pavlopoulos habe eine der „besetzten türkischen Inseln“ namens Keçi besucht.
Das Bemerkenswerte ist in diesem Fall, dass die Zeitung der kemalistischen Oppositionspartei CHP nahesteht und für ein „Nein“ bei Erdoğans Referendum plädiert. In der Ägäis-Frage liefert sich die CHP, ähnlich wie die rechtsextreme MHP, einen Überbietungswettbewerb mit der Regierung. Ende November 2016 forderte der CHP-Vorsitzende Kemal Kılıçdaroğlu den AKP-Ministerpräsidenten zu einer beherzteren Politik auf: „Wir haben 18 Inseln vor unserer Nase verloren. Und jetzt frage ich Binali Yıldırım: ‚Wirst du die Inseln zurückholen oder nicht? Bist du ein Nationalist oder nicht?‘ “
Kurz darauf tönte der CHP-Abgeordnete Tanju Özcan im Parlament: „Wenn’s sein muss, werde ich selbst auf die Inseln fahren, die türkische Fahne hissen und die griechische Fahne zusammenfalten und sie per Kurier an die griechische Regierung schicken.“10
Bei seinem Besuch in Pserimos erklärte Präsident Pavlopoulos in Richtung Ankara, dass man in Athen „aufrichtige Freundschaft, gute Nachbarschaft und Zusammenarbeit in schwierigen Zeiten“ wolle. Zugleich stellte er jedoch klar, Griechenland werde sein Territorium und seine Souveränität auch auf den Dodekanes-Inseln verteidigen. Unter Berufung auf internationales und europäisches Recht erklärte er, es gebe nirgends in der Ägäis „graue Zonen“, wie sie „einige Leute aus Unkenntnis oder sogar vorsätzlich erfinden“.
Die griechische Position im Fall Dodekanes ist rechtlich unangreifbar. Gerade in der südlichen Ägäis ist die Seegrenze seit 85 Jahren exakt definiert. Am 28. Dezember 1932 unterzeichneten die Türkei und Italien, das die Inselgruppe von 1912 bis 1947 in Besitz hatte, ein gemeinsames Protokoll, das die Seegrenze mittels 37 Referenzpunkten festlegte. Unter Punkt 30 ist explizit vermerkt, dass die Imia-Felsen auf der italienischen Seite liegen (siehe Karte).
Das Protokoll von 1932 sollte ausdrücklich jegliche Infragestellung des Grenzverlaufs in diesem Teil der Ägäis verhindern. Als Italien mit dem Pariser Vertrag von 1947 die Inselgruppe an Griechenland abtrat, ging der 1932 definierte territoriale Besitzstand – also auch unbewohnte Inseln wie Imia und bewohnte wie Pserimos – automatisch an den Nachfolgestaat über.11 Da dies ein völkerrechtliches Grundprinzip ist, wird seitdem die griechisch-türkische Seegrenze von aller Welt anerkannt.
Auch Ankara hat die Linie 70 Jahre lang nie angezweifelt. Noch 1994 publizierte ein deutscher Verlag eine Türkeikarte, die auf den Angaben des Verteidigungsministeriums in Ankara beruhte. Auf ihr ist Imia als „N. Limnia“ ausgewiesen, wobei N. für Nisos, das griechische Wort für Insel steht. Als dieselbe Karte 1997 neu aufgelegt wurde, war „N. Limnia“ durch „Kardak Ad.“ (Ada) ersetzt. Diese kartografische Usurpation wurde allerdings von keiner der internationalen Ägäis-Karten übernommen.12
Mit welchen rechtlichen Argumenten begründet die türkische Seite ihren Anspruch auf Territorien, die sie selbst jahrzehntelang als griechisch anerkannt hat? Im Grunde hat sie keine, genauer: Sie postuliert ein Völkerausnahmerecht alla turca. Im März 1996 verkündete die Regierung Çiller, die Türkei fühle sich in der Ägäis nur an internationale Übereinkommen gebunden, die sie selbst als gültig anerkennt und die von Griechenland und der Türkei unterzeichnet wurden.13
So gesehen könnte die Türkei die Souveränität Griechenlands über sämtliche Dodekanes-Inseln bestreiten. Heute negiert Ankara nicht nur die Gültigkeit der türkisch-italienischen Grenzregelungen von 1932, sondern auch das Internationale Seerechtsübereinkommen von 1982, dem die Türkei bis heute nicht beigetreten ist.14 Das erklärt zugleich, warum sie nicht bereit ist, die Ägäis-Problematik vor den Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag zu bringen. Ankara zieht es vor, im rechtsfreien Raum zu operieren.
Zwei Nato-Staaten duellieren sich
Das hindert die türkische Seite nicht, sich in anderer Sache auf einen Vertrag zu berufen, den sie nicht unterschrieben hat. Ankara pocht bis heute auf eine Bestimmung des Pariser Vertrags von 1947, der einen entmilitarisierten Status für den Dodekanes vorsieht. Unter Berufung auf diesen Vertrag beschwerte sich das türkische Außenministerium am 4. März über die „Aktivitäten“ des griechischen Militärs auf Kos, das dort seit Langem stationiert ist.15
Der Hinweis ist berechtigt, denn tatsächlich hat Griechenland auf den Dodekanes-Inseln – wie in der gesamten Ostägäis – eine beträchtliche militärische Präsenz aufgebaut. Legitimiert wird diese Aufrüstung mit dem völkerrechtlichen Anspruch auf Selbstverteidigung. Athen verweist dabei auf die Tatsache, dass die Türkei seit der Zypernkrise von 1974 an der türkischen Gegenküste die sogenannte Ägäis-Armee stationiert hat. Die umfasst auch eine Flotte von Landungsbooten, die in der Lage wäre, die gegenüberliegenden griechischen Inseln zu erobern.
Präsident Pavlopoulos hat sich bei seinem Auftritt in Pserimos auf das Recht zur „prophylaktischen Verteidigung“ gegen die Türkei berufen, das zu den Grundprinzipien des internationalen Rechts gehört. Der Hinweis erscheint heute legitimer denn je. Und ironischerweise ist es gerade die Türkei, die mit ihrer Casus-Belli-Drohung und Provokationen wie im Fall Imia dem Ägäis-Nachbarn die Rechtfertigung dafür liefert, die Entmilitarisierung von Inseln wie Kos und Kalymnos zu verweigern.
Die Eskalation des Ägäiskonflikts verschärft die Spannungen zwischen zwei Nato-Ländern, die innerhalb des Bündnisses zur Kooperation verpflichtet sind. Zum Beispiel im Rahmen der Übung „Dynamic Manta“ im Seegebiet um Sardinien, bei der im März zwei Wochen lang die gemeinsame U-Boot-Bekämpfung geprobt wurde. Zu den zehn beteiligten Ländern gehörten die Türkei und Griechenland, deren U-Boote in der Ägäis zur gleichen Zeit ein Katz-und-Maus-Spiel betreiben. Im Oktober 2016 beschwerte sich der griechische Generalstab offiziell bei der Nato, dass türkische U-Boote mehrfach in die Hoheitszonen von Ägäis-Inseln wie Limnos, Lesbos, Chios und Rhodos eingedrungen seien.16
Damit muss die Nato auf eine Konfrontation gefasst sein, die sich bislang nur im Luftraum über der Ägäis abgespielt hat. Die griechische Seite beklagt seit Jahrzehnten permanente Verletzungen ihrer Hoheitszone durch türkische Kampfflugzeuge, die regelmäßig von griechischen Jets abgefangen werden. Dabei entwickeln sich immer wieder „Dogfights“, also Scheinduelle, in denen die Kampfpiloten beider Seiten eine Chance zur professionellen Fortbildung unter realistischen Bedingungen sehen.17
Seit einigen Monaten hat sich der Charakter dieser „Trainingsduelle“ allerdings verändert. Die griechische Luftwaffe ist zunehmend besorgt über gefährliche Manöver der türkischen Kollegen. Seit dem gescheiterten Putschversuch in der Türkei im Juli 2016 beobachtet sie, dass immer jüngere Piloten mit geringer Flugpraxis zum Einsatz kommen. Militärexperten sehen den Grund in der Säuberung der türkischen Luftwaffe, deren Führung maßgeblich an dem gescheiterten Staatsstreich beteiligt war. Seitdem wurden etwa 40 Prozent der aktiven Piloten verhaftet oder suspendiert.18
Die Konfrontation im Luftraum über der Ägäis ist allerdings das Resultat eines völkerrechtlichen Streits, bei dem das Legitimationsproblem auf griechischer Seite liegt. Athen beansprucht sei 1931 um jede Insel eine Lufthoheitszone von 10 Seemeilen. Dies ist der weltweit einmalige Fall einer Differenz zwischen der 6-Meilen-Zone auf Meeresebene und der Hoheitszone, die im Luftraum beansprucht wird. Innerhalb dieser 4 Extrameilen in der Luft finden die meisten „Dogfights“ zwischen griechischen und türkischen Piloten statt.
Mit der Missachtung dieser Zone steht die Türkei nicht allein. Auch die anderen Nato-Partner erkennen die völkerrechtliche Anomalie nicht an. Bei einer Klage vor dem Internationalen Gerichtshof würde Athen wahrscheinlich aufgefordert, sich mit seinem Nachbarn schiedlich zu einigen. Informierte Kreise in Athen lassen wissen, dass sich bei früheren Sondierungsgesprächen mit Ankara ein Kompromiss abzeichnete, wonach die griechische Hoheitszone in der Luft wie auf Meeresebene 8 oder 9 Seemeilen betragen, also unterhalb der 12-Meilen-Grenze bleiben soll. An die Formalisierung eines entsprechenden Übereinkommens ist in der gegenwärtigen Atmosphäre jedoch nicht zu denken.
Das griechische Militär hat eine weitere Sorge, die mit der langfristigen Rüstungsbalance zu tun hat. Die Türkei hat in den USA mit dem F-35 die neueste Generation von Mehrzweckkampfflugzeugen bestellt, die allerdings erst 2021 einsatzfähig sein wird. Zunächst will Ankara 30, auf lange Sicht aber 100 von diesen jeweils rund 160 Millionen Dollar teuren Tarnkappenjets kaufen.
Auch aus Athen kommen nationalistische Töne
Das finanziell klamme Griechenland kann da nicht mithalten und muss sich damit begnügen, seinen modernsten Flugzeugtyp – die F-16 Viper – technologisch aufzurüsten. Allerdings ließ das Athener Verteidigungsministerium kürzlich durchsickern, dass man die F-35 auf anderem Wege beschaffen wolle. Angeblich will Verteidigungsminister Kammenos die Lieferung von 20 Exemplaren als US-Militärhilfe beantragen.19
Dass solche Aufrüstungsträume mit dem Namen Kammenos verbunden sind, ist kein Zufall. Der Verteidigungsminister der Regierung Tsipras ist zugleich Parteichef der rechtspopulistischen Anel (Unabhängige Griechen). Sein erkennbarer Ehrgeiz, im Streit mit Ankara den Nebenaußenminister zu geben, beunruhigt nicht nur die Syriza-Führung, sondern auch viele Griechen, die in der Ägäiskrise kühlen Kopf bewahren wollen.
In einem Interview mit Skai-TV am 26. Februar kritisierte Kammenos rückblickend ganz offen die Regierung Simitis, die durch ihre besonnene Haltung eine Eskalation der Krise von 1996 verhindert hat. Das Maulheldentum des Verteidigungsministers irritiert sogar die Militärführung, die sich in der Imia-Krise deutlich zurückhaltender und diplomatischer äußerte als der Minister.20
Dass Kammenos in Krisenzeiten die Chance zur persönlichen Profilierung sieht, ist auch deshalb beunruhigend, weil er keine Berührungsängste mit staatsfeindlichen Rechtsextremisten kennt. Anfang Dezember nahm er zwei Mitglieder der Neonazi-Partei Chrysi Avgi auf eine Tour nach Kastellorizo mit. Von der östlichsten griechischen Insel, die nur drei Kilometer vor der türkischen Küste liegt, tönte er in Richtung Feindesland: „Die Botschaft der Einmütigkeit des griechischen Volkes stärkt die hohe Moral der bewaffneten Streitkräfte.“
Mit einem solchen Verständnis von nationaler Einmütigkeit haben tumbe Populisten die griechischen Extremisten immer wieder zu Patrioten geadelt. Wobei es sich bei der Chrysi Avgi um eine Partei handelt, zu deren Programm die „Rückkehr nach Konstantinopel“, sprich nach Istanbul gehört.21
Ein griechischer Kommentator hat kürzlich vor Politikern gewarnt, die mit der „Kontrabande des Patriotismus“ handeln. Um keine Zweifel zu lassen, wer gemeint ist, fügte er hinzu: „Schwafeleien für das heimische Publikum sind den nationalen Interessen weder förderlich noch dienlich.“
Auf solche Bauchpatrioten kann man in Ankara setzen, wenn man den Ägäiskonflikt weiter anheizen will. Eine solche Eskalation ist aus griechischer Sicht – unabhängig vom Ausgang des türkischen Referendums – nicht auszuschließen. Bis vor Kurzem dominierte in Athen die Befürchtung, Erdoğan könnte auf eine Niederlage in seinem Referendum über die Verfassungsänderung mit einem Ägäis-Abenteuer reagieren.
Inzwischen hat die AKP-Regierung angekündigt, dass sie nach dem 16. April den Konsens mit den anderen patriotischen Kräften über eine nationale Ägäis-Politik suchen will. Angesichts der Positionen, die sowohl die ultranationalistische MHP als auch die kemalistische CHP im Fall Imia propagieren, ist das für die Griechen keine beruhigende Aussicht.
3 Zitiert nach: „The Greek Reporter“, 28. Februar 2017.
4 Zitiert nach: Süddeutsche Zeitung, 24. November 2016.
6 Das griechische Video zeigt, dass Kammenos das Inselterritorium nicht überflogen hat.
7 Interview mit Skai-TV, 26. Februar 2017.
9 Kathimerini, 17. Februar 2017.
10 Zitate nach: „Keep talking Greece“, 30. November 2016; Kathimerini, 9. Dezember 2016.
16 Kathimerini, 15. März 2017 und 8. Oktober 2016.
17 Bei Hunderten von „Dogfights“ pro Jahr gab es bisher nur zwei Abstürze.
18 So der Militärexperte Metin Gurcan in CNN, 31. Januar 2017.
19 Kathimerini, 8. Februar 2017 und 3. Dezember 2016.
© Le Monde diplomatique, Berlin