06.04.2017

Die Angst vor den Vielen

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Die Angst vor den Vielen

Über die alten und neuen Verächter der Masse

von Angela Nagle

Bettina Blohm, Souvenirs, 2015, Öl auf Leinwand, 101,5 x 101,5 cm
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Während wir in ein schönes neues Zeitalter des rechten Populismus abdrehen, greift bei der Opposition eine nervöse Verachtung für die Massen um sich. Demoralisierte US-Liberale, die sich immer noch nicht vom Debakel der Präsidentschaftswahl erholt haben, träufeln den Balsam metaphysischer Überlegenheit auf ihre Wunden.

An dieser rhetorischen Verschiebung ist vieles kurios. Zunächst einmal, dass sich der Populismus über die gewohnten ideologischen Gräben hinweg ausbreitet. Während Donald Trump mit seinem nationalistischen Antieinwanderungskurs erst die Republikanische Partei und dann die Präsidentschaft übernahm, begann der Senator Bernie Sanders als Kandidat einen linkspopulistischen Kreuzzug.

Mit seinen Heilsversprechen erreichte Sanders die Arbeiterschaft – indem er Bildung in staatlicher Hand, Zugang zu Gesundheitsversorgung oder Abschaffung der bestehenden Steuer­ungerechtigkeiten forderte. Unterdessen stimmten die Briten für den Brexit, ein Votum gegen die Globalisierung, das die rechtsnationalistische Ukip angeführt hatte. Zur gleichen Zeit warf Labour-Chef Jeremy Corbyn die neoliberalen Prinzipien von New Labour über Bord, die im Herzen der Linken Großbritanniens schon seit den Tagen von Tony Blair vor sich hin gärten.

Man hätte meinen können, die entfesselten Kräfte des angelsächsischen Linksliberalismus würden nun auf einen praktikablen linken Populismus setzen. Einen Populismus der wirtschaftlichen Vielfalt, der dem konfrontativen und fremdenfeindlichen kulturellen Populismus der Rechten etwas entgegensetzen könnte. Aber damit läge man völlig falsch.

Die heutigen Liberalen reagieren zunehmend allergisch auf normale Leute. Ein Beispiel dafür liefert der Fernsehmoderator und Comedian Bill Maher. Der sagte zu Kellyanne Conway, damals noch Sprecherin von Trumps Wahlkampfteam, dass ihr Kandidat nur an Zustimmung gewinne, „weil die Leute blöd sind“.

Ähnlich herablassende Töne findet man in angesehenen (links-)liberalen Medien. So reagierte die Zeitschrift Foreign Policy auf die Erfolge der populistischen Rechten in Großbritan­nien und den USA mit der Veröffentlichung eines Essays, der den vielsagenden Titel trug: „Es ist Zeit, dass die Eliten gegen die ignoranten Massen aufstehen“. Und auf der Historikerplattform „History News Network“ stellte in der Frühphase des republikanischen Vorwahlkampfs ein Autor die schmerzliche Frage: „Wie dumm sind wir eigentlich?“

Solche Ausbrüche sind zumindest eines: ehrlich. Merkwürdig an diesen Reflexen ist allerdings, dass es vor dem Aufstieg von Trump und dem Brexit die Rechte war, die derart bösartige und menschenverachtende Gefühle geschickt zu hegen wusste, während es nun auch die Linke ist.

Bis die Trump-Anhänger ihr Interesse für den kleinen Mann entdeckten – da hörten sie sich auf einmal fast wie begeisterte Unterstützer ebenjener Gewerkschaften an, die sie jahrzehntelang hatten zerschlagen wollen –, klangen ihre Slogans oft unverhohlen elitär. Der ultrarechte Blogger Milo Yiannopoulos etwa posierte einst mit einem T-Shirt, auf dem stand: STOP BEING POOR. Das war, bevor er als Trump-Jünger und professioneller rechter Schwuler einen Buchvertrag abschloss, für den er eine sechsstellige Summe einstreichen sollte.

Auch die nimmermüde rechte Provokateurin Ann Coulter – früher stets eine Außenseiterin – war plötzlich voll auf Linie mit dem neuen konservativen Mainstream. An der Verachtung für den Mob, die unter privilegierten Eliten Tradi­tion ist, beteiligt sich Coulter schon lange. Und sie sorgt für eine neue Variante der moralischen Panik, die ihre Klasse seit der frühen Moderne umtreibt: die Angst vor den alles überschwemmenden, sich im Übermaß vermehrenden, emo­tio­nal schwankenden und leicht einzuschüchternden Massen der Menschheit.

In ihrem 2011 veröffentlichten Buch „Demonic“ erklärte Coulter, „wie der liberale Mob Amerika gefährdet“. Sie pries das Werk von Gustave Le Bon,1 dem ersten Franzosen, der die Schädel nepalesischer Bauern vermaß, um damit den imperialistischen und ökonomischen Projekten aus Europa pseudowissenschaftliche Glaubwürdigkeit zu verleihen. Hitler lobte Le Bons einflussreiches Buch „Psychologie der Massen“ von 1895, das als verlässlicher Prüfstein für Misanthropen und Eugeniker gilt.

Der gesamte Antieinwanderungsdiskurs, den nun Trump mit seinen „Baut diese Mauer“-Rufen anführt, ist durchtränkt vom Erbe Le Bons und derer, die das Gewimmel der Massen und die Ungewaschenen immer schon gefürchtet haben – unabhängig davon, ob es sich um ausländische oder einheimische handelte. In der Regel richtete sich ihr alarmistisches Geschrei zunächst gegen die hart arbeitenden weißen Massen der westlichen Gesellschaft. Erst später entdeckten sie in den ethnischen Minderheiten aus dem Ausland ein neues Ziel. Dabei gleichen sich die Aussagen über „die Arbeiter“ und „die Ausländer“ auf bemerkenswerte Weise: Es gibt einfach zu viele von ihnen, heißt es. Sie bekommen zu viele Kinder. Sie werden unsere knappen Ressourcen verschlingen. Es gibt nicht genug Platz. Sie verderben unsere Kultur und zerstören sie.

Erstaunlich ist allerdings, wie austauschbar diese Stimmungen in unserer neuen politischen Ordnung geworden sind. Anders ausgedrückt: Hätte Hillary gewonnen oder wäre der Brexit abgeschmettert worden, dann bekämen wir von den Liberalen mehr Populismus zu hören und von den Rechten mehr Menschenfeindlichkeit.

Noch irritierender ist, wie die Subkultur der neuen digitalen Rechten im Netz auftritt, wo sie offen einen weißen Separatismus vertritt und sich „Alt-Right“ nennt. Jeden, der ihren pubertären Impuls nicht teilt, sich vom verhassten Mainstream der Gesellschaft zu unterscheiden, bezeichnen sie hämisch als „Normie“ oder als „Basic Bitch“ – als handle es sich bei weißem Separatismus um irgendeinen obskuren Punkstil.

Wie ein roter Faden ziehen sich Verachtung und Verhöhnung der Massen durch die Netzbeiträge der weißen Nationalisten. Je länger man diese reaktionären Kräfte beobachtet, die sich hinter dem milliardenschweren US-Präsidenten aufgestellt haben, desto opportunistischer wirkt dessen Wende hin zum Populismus.

Eugenik und Fotografie

Die Gegenstände der Panik haben sich mit der Zeit verändert. Vom Ende des 19. Jahrhunderts bis weit ins 20. Jahrhundert hinein waren es vor allem die Massenmedien, die die westeuropäische Intelligenzija in Angst und Schrecken versetzten. Ebenjenen Massenmedien verdanken die hetzerischen Kommentatoren von heute ihre Macht und ihr Ansehen.

In den 1930er Jahren schrieb der britische Literaturkritiker F. R. Leavis gegen „Filme, Zeitungen und Öffentlichkeit in jeder Form“ an. Er machte die Alphabetisierung der breiten Massen und die neuen Technologien verantwortlich dafür, dass „die Kultur in einer Krise steckt“, und zwar in einer von bislang ungekanntem Ausmaß. Und der französische Lyriker Charles Baudelaire verdammte die Fotografie als „Sakrileg“, das „der widerlichen Menge“ ermögliche, „das eigene triviale Bild zu betrachten“. Man kann sich lebhaft vorstellen, wie entsetzt er angesichts der heutigen Selfie-Kultur gewesen wäre.

Den menschenverachtenden Intellektuellen damals war allerdings weniger die zunehmende Alphabetisierung der Massen ein Dorn im Auge als vielmehr die Tatsache, dass viele Menschen neue und suspekte Formen von Kultur aufsogen. Ende des 19. Jahrhunderts hatten die Bildungsreformen schließlich zur universellen Grundbildung aller geführt. Nach Ansicht des Literaturkritikers John Carey entstand erst mit dieser neuen lesenden Öffentlichkeit die Nachfrage nach Boulevardzeitungen und damit nach genau den Blättern, die im Sprachgebrauch der meinungsbildenden Klassen mit der „Masse“ in Verbindung gebracht wurden. Der englische Lyriker T. S. Elliot bezeichnete Zeitungsleser als eine „selbstgefällige, voreingenommene und gedankenlose Masse“.

Der Schriftsteller D. H. Lawrence forderte dazu auf, das Problem bei der Wurzel zu packen: „Lasst alle Schulen gleichzeitig schließen“, schlug er vor, denn „die große Masse der Menschheit sollte nie lesen und schreiben lernen.“ Und Aldous Huxley, der 1932 den berühmten Roman „Schöne neue Welt“ publizierte, schrieb, universelle Bildung habe „eine sehr große Klasse von Leuten hervorgebracht, die ich die Neuen Dummen nenne“. Die Bezeichnung ist nicht sehr geistreich, und sie klingt schwer nach Bill Maher.

Eine besonders wichtige Rolle spielte offenbar die Angst vor dem Bevölkerungswachstum. Zwischen 1800 und 1914 wuchs die Einwohnerzahl in Europa von 180 Millionen auf 460 Mil­lio­nen. Dieser Anstieg, verstärkt durch die Angst vor dem kulturellen Verfall, versetzte die Intelligenzija in hellen Aufruhr. Auf ihrem Höhepunkt verschmolz die Angst vor der Kultur der Massen mit einer protofaschistischen Politik, den eugenischen Plänen und genozidalen Fantasien.

Der englische Science-Fiction-Autor H. G. Wells nannte den Zuwachs an menschlichen Wesen in dieser Zeit „den verschwenderischen Schwarm neuer Geburten“ und „das grundlegende Desaster des 19. Jahrhunderts“. Bald entstand ein eigenes Genre von alarmistischen Büchern über die Massen.

In seinem 1930 veröffentlichten Essay „Der Aufstand der Massen“ führte der spanische Philosoph José Ortega y Gasset die beiden Hauptzüge der elitären Panik zu einem einzigen Argument zusammen: Die hehre Tradition der westlichen Hochkultur werde vom animalischen Massenpublikum bis an die Grenze der vollständigen Auslöschung gedrängt.

Es ist ziemlich schockierend zu entdecken, dass bedeutende Wegbereiter der literarischen Moderne in Europa die überwiegende Mehrheit der Menschen im Grunde für Untermenschen hielten. Wenig überraschend ist dagegen, dass Friedrich Nietzsche warnte, „eine Kriegserklärung der höheren Menschen an die Massen ist nötig“, um „die Überflüssigen“ zu unterjochen.

Doch auch der irische Literaturnobelpreisträger William Butler Yeats fand, Nietzsches Ideen seien „eine Maßnahmegegen die Ausbreitung demokratischer Vulgarität“. Yeats, der Mitglied der Britischen Eugeniker-Gesellschaft war, schrieb: „Früher oder später müssen wir die Familien der unintelligenten Klassen beschränken. Seit etwa 1900 haben die besseren Bestände sich in geringerer Anzahl reproduziert, während die dümmeren und weniger gesunden sich deutlich vermehrt haben.“

Der französische Schriftsteller Gustave Flaubert fand, „dass die Menge, die Masse, die Herde immer abscheulich sein wird“. Der amerikanische Dichter und spätere Mussolini-Verehrer Ezra Pound sah in der Menschheit eine „Masse von Deppen“, und Virginia Woolf, die ­Grande ­Dame der englischen Literatur, klagte über „dieses anonyme Monster, den Mann auf der Straße“. Die Massengesellschaft beschrieb sie als „ein gewaltiges, eigenschafts- und fast formloses Gelee menschlichen Materials“, das „gelegentlich in die eine oder andere Richtung wabert, wenn irgendein Trieb des Hasses, der Rache oder Bewunderung darunter hochkocht“.

Heutzutage hält der kulturelle Durchschnittskonsens solche selbstbezüglichen Tiraden für den Gipfel des Elitedenkens – oder für die faschistoide Klage über den „kulturellen Niedergang“. Erstaunlicherweise hat die gegenwärtige Massenkultur aber viele dieser Auslöschungsfantasien längst in sich aufgesogen. Die gleichen Massenmedien, die dieser Sichtweise zufolge einst die Tyrannei des Mobs anfachten, gaben den Hass auf die Massen schon bald an die Massen weiter.

Hundert Jahre nach dem Erscheinen von Le Bons Grundlagenwerk sind diese Ansichten in vielerlei Hinsicht wirkmächtiger denn je. Die entscheidende Wende fand in den 1990er Jahren statt. Damals stieg Bill Maher zur Fernsehberühmtheit auf, und die Verachtung für die menschliche Gattung erhielt eine gewisse abgebrühte Coolness. Eine Pose der Gegenkultur wurde Teil des Mainstreams. Kurt Cobain, der Sänger der Kultband Nirvana, der heute für seine Sensibilität und seine progressiven kulturellen Ansichten verehrt wird, sagte einmal: „Menschen sind dumm. Ich schäme mich, Mensch zu sein.“

Der Comedian Bill Hicks, der ebenfalls in den 1990ern einen kometenhaften Aufstieg hinlegte, punktete mit Pointen wie: „Wir sind ein Virus mit Schuhen.“ Er hielt längliche Monologe über das „Wunder der Geburt“ und unterlegte seinen ätzenden menschenverachtenden Klassenhass mit Soundeffekten: „Es ist kein Wunder, wenn x-beliebige Yin-Yangs alle neun Monate diesen Ausschuss quengelnder Kohlköpfe auf unseren Planeten fallen lassen können. Bom! Nur falls ihr die jüngsten Statistiken über alleinerziehende Mütter nicht gesehen habt: Das Wunder breitet sich aus wie ein Waldbrand. Halleluja! Wohnwagensiedlungen auf der ganzen Welt werden gerade gefüllt mit diesen kleinen Wundern. Bom! Schaut euch all meine kleinen Wunder an. Bom! In meinem Wohnwagen ist es so eng wie in einer Sardinenbüchse. Bom! Wisst ihr, was ein echtes Wunder wäre? Wenn ich mich an den Namen deines Vaters erinnern würde, verdammt noch mal. Bom! Ich glaube, ich muss dich Trucker Junior nennen. Bom! Da ist dein Bruder, Pizzabote Ju­nior. Da ist dein Bruder, Kammerjäger Junior. Da ist dein Bruder, Arbeite-für-Essen Junior.“

Sehnsucht nach einer neuen Sintflut

Und wieder findet sich die gleiche Rhetorik auch auf den elenden Internetforen der Rechtsextremen. Sie ist geprägt von einem tief sitzenden Hass auf den gebärenden weiblichen Körper, egal ob er schwarz ist, Hispanic oder weiße Unterschicht.

Tool, die US-Heavy Metalband des denkenden Mannes, waren begeisterte Fans von Hicks. In ihrem 1996 veröffentlichten Song „Aenima“ auf dem gleichnamigen Album vergleichen sie die Einwohner ihrer Stadt mit dem Inhalt einer Kloschüssel: Sie verdienten es, hinuntergespült zu werden, in einer obszönen säkularen Version der biblischen Sintflut. „Hier in diesem hoffnungslos verfickten Loch, genannt L. A.“, schrie Tool-Frontmann Maynard James Keenan, „ist runterspülen die einzige Art, es klarzukriegen.“ Ganze Heerscharen in der Grunge- und Metal-Szene schlugen ähnliche Töne an, ein Kasperltheater des Menschenhasses.

In deren pseudorebellischem Gehabe klingen ähnliche Stimmungen an, wie sie D. H. Lawrence einst ausdrückte: „Es wäre schön, der Herr würde noch eine Flut schicken und die Welt ertränken“, um die Gebete derer zu erhören, die „das laichende Menschenwesen widerlich finden“. Kurz bevor eine reale politische Bewegung in Nazideutschland solche Fantasien in grauenhafte Taten ­umsetzte, wollte D. H. Lawrence sogar „drei Hochrufe auf die Erfinder des Giftgases“ erklingen lassen.

Die menschenverachtende Pose der 1990er Jahre fand auch auf der anderen Seite des kulturkämpferischen Schützengrabens ein Echo – nämlich in der unerlaubten Abscheu apokalyptischer Hassprediger wie Fred Phelps, der bis zu seinem Tod 2014 Kopf der fundamentalistischen Westboro Baptist Church war. Phelps bekannte, dass er das verdiente Ende begrüße, das Gott für die oberflächlichen, herumwimmelnden, weltlichen und abstoßend körperlichen Massen Amerikas vorgesehen habe.

Mit derlei Endzeitfantasien liebäugelte auch der christlich-konservative Prediger Jerry Fal­well: Kurz nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 sinnierte er in der Fernsehsendung „Club 700“ darüber, ob Gott der Opferung tausender Menschen an diesem Tag wohl zu­gestimmt habe – als Strafe, weil in Amerika Sünden wie Homosexualität und Abtreibung erlaubt sind.

Viel früher verlieh ein anderer Pfarrer, Thomas Malthus, in seinem düsteren und einflussreichen Aufsatz „Das Bevölkerungsgesetz“ von 1798 der Furcht vor unkontrollierter Fortpflanzung moralische und philosophische Legitimität.

Der 2006 verstorbene US-amerikanische Anarchist Murray Bookchin bezeichnete Malthus’ Aufsatz als „ideologische Tirade gegen die humanistische Tradition der Aufklärung“ und „pessimistische Attacke auf die egalitären Ideale“ seiner Gegner. Malthus habe für die grausamen Zustände in den Armen- und Waisenhäusern während der industriellen Revolution ein wissenschaftliches Deckmäntelchen geliefert. Und der Malthusianismus habe im Laufe seiner langen, hässlichen Karriere immer wieder Alibis geliefert – beim Aufstieg des Sozialdarwinismus, der Eugenik, der genozidalen Politik des imperialen Europas und schließlich beim Holocaust, als die von Malthus entwickelte „Rettungsboot-Ethik“ darauf hinauslief, dass Millionen Menschen über Bord gestoßen werden mussten, um „die Stärksten“ zu retten.

In den 1990er Jahren gewannen die Ideen von Malthus auch in linken Kreisen an Attraktivität. Zuvor waren sie in der Nachkriegszeit über die ökologische Subkultur in den Diskurs eingesickert. „Die Bevölkerungsbombe“, ein malthusianisch inspiriertes Traktat, das der deutsche Arzt Paul Ehrlich 1968 verfasst hatte und das eine verkaufte Auflage von 2 Millionen Exemplaren erreichte, machte Überbevölkerung zu einem modischen Ökothema.

Ganz im Stile von Malthus und mit kaltem Herzen sprach Ehrlich sich dafür aus, Mittel zur Massensterilisation zu entwickeln. Sein Gefühl, dass der Planet übervölkert sei, ging anscheinend auf eine stinkende, heiße Nacht in Delhi zurück: „Menschen, die ihre Hände durch das Taxifenster streckten und bettelten. Menschen, die koteten und urinierten. Menschen, die sich an Busse klammerten. Menschen, die Tiere vor sich hertrieben. Menschen, Menschen, Menschen, Menschen.“ Voller Angst vor dem Mob flüchtete er schließlich zurück ins Hotel.

Murray Bookchin, einer der klügsten Fürsprecher und internen Kritiker der modernen Linken, nahm in den 1990ern ein tief verwurzeltes kulturelles Unbehagen wahr, „das einen schwindenden Glauben an die kreativen Fähigkeiten unserer Gattung widerspiegelt“. Er warf den selbsternannten Progressiven vor, eine quasieugenische Variante der „spirituellen Hygiene“ zu unterstützen, um den enormen Ressourcenverbrauch der Menschheit zu bremsen.

Die Kulturkonservativen haben im besten Fall für Anstand, gute Manieren, Rechtsstaatlichkeit und den Erhalt bedeutender Institutionen und Traditionen geworben. Implizit beruhte ihr Projekt auf dem Glauben an die Würde und Verbesserungsfähigkeit der Menschen. Die moderne Intelligenzija versuchte sogar noch mit ihren elitären menschenfeindlichen Ängsten, die Hochkultur gegen die zerstörerischen Kräfte der Vermassung zu schützen – was immerhin bedeutet, dass sie eine gewisse Hochachtung für bedeutendes künstlerisches Schaffen empfanden.

Was aber haben die ermatteten Hillary-Anhänger von heute zu bieten, die die Öffentlichkeit als dumm bezeichnen? Und was hat der verächtliche Nihilismus der rechten Trolle zu bieten, die im Internet ein grünes Pepe-Mem nach dem anderen hinaushauen und die „Normies“ verachten – außer ihrer eigenen Version von kulturellem Verfall und der fatalistischen Vision einer abgesagten Zukunft, diktiert vom biologischen Determinismus?

Manche von Trumps lautesten Kritikern orientieren sich selbst keineswegs an den großen humanistischen Mobilisierungen der Vergangenheit wie der Bürgerrechts- oder der Arbeiterbewegung. Sie stützen sich vielmehr auf die Tradi­tion menschenfeindlicher Angst und Verachtung. Die wahre Herausforderung, der wir jetzt begegnen, besteht weniger in einem entfesselten Populismus, der die Massen anspricht, sondern vielmehr in der verwirrten Debatte darüber, wofür der Populismus steht – und welche Hoffnungen den Massen erlaubt sein sollen.

1 Der französische Arzt Gustave Le Bon (1831–1941) gilt als Begründer der Massenpsychologie.

Aus dem Englischen von Meike Laaff

Angela Nagle ist Journalistin. Die Originalversion dieses Beitrags erschien im März in der US-Zeitschrift The Baffler.

Le Monde diplomatique vom 06.04.2017, von Angela Nagle