Die Freiheit der Niederlande
Vom Gründungsmythos der Nation zum Kampfbegriff der Nationalisten
von Ute Schürings
Noch nie wurde eine niederländische Parlamentswahl in Deutschland so gebannt verfolgt wie im März 2017. Das lag vor allem an Geert Wilders und seiner Partei für die Freiheit (PVV). Mit Blick auf die Präsidentschaftswahlen in Frankreich galt die niederländische Wahl als Menetekel für die Zukunft Europas. Entsprechend erleichtert reagierten die deutschen Medien und Politiker, als Wilders’ PVV deutlich hinter den Umfragewerten zurückblieb. Der bisherige Ministerpräsident Mark Rutte wurde als Gewinner gefeiert, der Populismus war angeblich in die Schranken gewiesen.
Ist der Aufstieg des Populismus in den Niederlanden damit tatsächlich gestoppt? Eher ist das Gegenteil der Fall, wie das Wahlergebnis und die Wahlkampfdebatten zeigen. Die rechtsliberale VVD blieb trotz Verlusten mit 21,3 Prozent (2012: 26,6 Prozent) stärkste Kraft, gefolgt von Wilders’ PVV mit 13,1 Prozent (10,1 Prozent). Die Christdemokraten (CDA) kamen auf 12,5 und die linksliberale D66 erreichte 12,2 Prozent. Die Grünen (GL) mit 9,1 Prozent konnten ihre Stimmen fast vervierfachen, ebenfalls 9 Prozent erzielten die Sozialisten (SP). Eine schwere Schlappe erlitten die Sozialdemokraten, die von 24,8 auf 5,7 Prozent abstürzten.
Die Niederlande haben ein reines Verhältniswahlrecht, also ohne Sperrklausel: Für ein Mandat reichen daher 0,67 Prozent der Stimmen. Die 150 Parlamentssitze verteilen sich auf nicht weniger als 13 Parteien. Diese zersplitterte politische Landschaft ist zugleich deutlich polarisiert. Die Hälfte der Bürger hat rechts gewählt: Christdemokraten, Rechtsliberale und Rechtspopulisten erreichten zusammen 48 Prozent. Das links-grüne Spektrum kam auf 32 Prozent, die D66 als Partei der Mitte auf 13 Prozent.
Der eigentliche Erfolg der Rechtspopulisten besteht jedoch darin, dass sie weitgehend die Themen des Wahlkampfs bestimmten. Zum Beispiel die Frage nach der kulturellen Identität: Beim großen Fernsehduell der Spitzenkandidaten am 5. März ging der Hauptstreit darüber, ob die Niederlande ihre eigene Kultur zu wenig geschützt haben.1 Die Parteiführer überboten sich wochenlang mit Ideen, wie sich die nationale Identität wieder stärken ließe. Der Christdemokrat Sybrand Buma wollte in den Schulen wieder die Nationalhymne singen lassen. Ministerpräsident Mark Rutte forderte Migranten unverblümt auf, sich an die niederländische Kultur anzupassen oder das Land zu verlassen: „Benehmt euch normal oder haut ab.“2 Selbst die Sozialdemokraten traten für einen „progressiven Patriotismus“ ein und schlugen ernsthaft vor, die Arbeitsmigration innerhalb der EU zu begrenzen.
Immigrantenphobie und Integrationsskepsis sind in diesem Wahlkampf hoffähig, ja zum Mainstream geworden. Einzig die Grünen machten da nicht mit: Ihr Vorsitzender Jesse Klaver betonte in besagter Fernsehdebatte über die Bedrohung der eigenen Kultur die traditionellen „niederländischen Werte Offenheit und Toleranz“.
Nach wochenlangen Debatten über die eigene kulturelle Identität eine Wahl zu erleben, die zwischen Rechtsliberalen und Rechtspopulisten entschieden wird – das wäre den meisten Niederländern noch vor 20 Jahren absurd vorgekommen. Noch aberwitziger wäre ihnen erschienen, dass in ihrem Land ein Politiker wie Wilders trotz seiner „Wahlniederlage“ nach wie vor den Ton angibt. Warum ist das so? Und warum sind die linken Parteien bei Themen wie Migration und Integration in die Defensive geraten?3
Das Phänomen ist bekanntlich nicht auf die Niederlande beschränkt. Die Mixtur aus Immigrationsabwehr, Islamophobie, EU-Skepsis, Wirtschaftsprotektionismus und Nationalismus hat auch den britischen „Brexiteers“ zum Sieg verholfen. Sie wirkt vor allem bei Menschen, die sich abgehängt fühlen und dafür „die in Brüssel“ verantwortlich machen. Deshalb wählen sie Geert Wilders, der den Austritt aus der EU fordert.
Dabei geht es den Niederlanden wirtschaftlich hervorragend. Die Indikatoren über Wirtschaftswachstum, Staatsverschuldung und Arbeitslosigkeit zeigen, dass es den Niederlanden besser geht als Deutschland und viel besser als dem EU-Durchschnitt.4 Das Gefühl des Niedergangs hat also keine reale Basis.5 Es handelt sich vielmehr um ein gefühltes nationales Unwohlsein: Eine große Mehrheit der Bürger beschreibt sich zwar selbst als glücklich oder sogar sehr glücklich, empfindet zugleich jedoch, dem Land gehe es schlecht.6
Der Erfolg des niederländischen Rechtspopulismus rührt auch von einer „Konsensmüdigkeit“ her. Das Land wurde jahrzehntelang von Koalitionen regiert, in denen ideologisch sehr disparate Parteien zusammen regierten und schwierige Kompromisse eingehen mussten. Obwohl diese Kompromisskultur jahrhundertelang als ausgesprochene Tugend galt, wird sie neuerdings immer stärker als Ursache für Stagnation und Krise gesehen. Damit entstand ein politischer Raum für neue Parteien mit einem „klaren Profil“.
Opfer dieser Entwicklung sind vor allem die Sozialdemokraten, die in der Regierung Rutte massive Kürzungen bei den Sozialleistungen mitgetragen haben. Für viele Menschen unmittelbar spürbar war das im Bereich der Altenpflege. Die Übertragung dieses Aufgabenbereichs an die Kommunen war mit Einsparungen von 25 Prozent verbunden: ein Viertel weniger für die gleichen Aufgaben. Ähnliche „Reformen“ gab es bei der Pflegeversicherung und den Rentenkassen. Eine sozialdemokratische Partei, die sich solchen Sparprogrammen nicht widersetzt und selbst im Wahlkampf nicht von ihnen abrückt, wird nicht wiedergewählt.
Ausschlaggebend für den Erfolg der Populisten ist jedoch ein Phänomen, das sich als eine Art Identitätskrise bezeichnen lässt, eine umfassende Verunsicherung, die wirtschaftliche, politische und historisch-kulturelle Dimensionen hat.
Trotz der genannten Konjunkturdaten erinnern sich die Niederländer noch sehr genau an die schwere Wirtschafts- und Finanzkrise, in die das Land 2008 hineinschlitterte und die es nur langsam überwunden hat. 2013 erreichte die Arbeitslosigkeit mit 8,1 Prozent den höchsten Wert seit 30 Jahren. Viele konnten ihren Immobilienkredit nicht mehr bedienen und mussten ihre Wohnung verkaufen. Die Krise war also sehr konkret. Inzwischen ist sie überwunden, aber die Angst sitzt noch tief.7
Eine weitere Quelle der Verunsicherung ist der befürchtete Bedeutungsverlust des Landes. In der gesamten Nachkriegszeit waren die Niederlande als Gründungsmitglied der EWG ein einflussreicher Akteur auf der europäischen Bühne. Doch im Europa der 28 – mit deutlich erweiterten Befugnissen – verstehen viele Bürger nicht mehr, was in Brüssel vor sich geht. Sie fühlen sich fremdbestimmt. Auch deshalb stimmten beim Referendum von 2005 mehr als 60 Prozent gegen die europäische Verfassung.
Auch der Flugzeugabsturz in der Ukraine verunsicherte die Leute zutiefst. Eine internationale Krise, die weit entfernt schien, schlug plötzlich in ihren Alltag ein. An Bord der Passagiermaschine MH17, die im Juni 2014 auf dem Weg von Amsterdam nach Kuala Lumpur abgeschossen wurde, befanden sich 198 Niederländer. Ihre trauernden Landsleute hatten auf einmal das Gefühl, Spielball im geopolitischen Ringen der Großmächte zu sein.
Am deutlichsten zeigt sich die Identitätskrise jedoch im historisch-kulturellen Bereich. Lange kompensierten die Niederländer die überschaubare Größe ihres Landes durch ein Gefühl moralischer Überlegenheit, konstatiert der Politikwissenschaftler Ton Nijhuis: „Das Land mag zwar klein sein, doch die Welt kann sich ein Beispiel an der Art und Weise nehmen, in der die Niederlande organisiert sind und gesellschaftliche Probleme angehen.“8
Was Nijhuis meint, sind Werte wie Toleranz, Konsens und Freiheit. Genau diese Werte, die im Selbstbild der Niederländer stets den Kern der kulturellen Identität – und ihrer moralischen Überlegenheit – ausmachten, werden seit etwa 15 Jahren infrage gestellt.
Dass dieses Selbstbild rissig geworden ist, hat auch mit einem zunehmend kritischen Blick auf die eigene Vergangenheit zu tun: Unterdrückung in den Kolonien, Beteiligung am Sklavenhandel, Kollaboration im Zweiten Weltkrieg, Verbrechen im Kampf gegen die Unabhängigkeitsbewegung in Indonesien (1946–49), eine mögliche Mitschuld am Massaker von Srebrenica – all das sind historische Kapitel, die ein Gefühl moralischer Überlegenheit schwerlich zulassen.
Die traditionellen Werte werden aber auch „von innen heraus“ problematisiert oder gar in Schwächen umgedeutet. Ein Mann wie Pim Fortuyn hat seit 2001 die Toleranz gegenüber Migranten als indifferentes Wegsehen angeprangert. Der militante Kämpfer gegen die Integrationspolitik verhöhnte die „heilige Kuh des Multikulti“. Die permanente Konsenssuche der sozialliberalen Koalition unter Wim Kok (1994–2002) kritisierte er als Hinterzimmerpolitik, die alle Hauptprobleme ungelöst gelassen habe.
Fortuyn wurde 2002 kurz vor den Wahlen von einem radikalen Umweltaktivisten ermordet. Seine Partei gewann anschließend 17 Prozent der Stimmen. In das gleiche Horn stößt heute Geert Wilders, wenn er die „alte Politik“ als behäbig, selbstzufrieden und elitär bezeichnet.
Die populistische Rechte hat also traditionelle niederländische Grundwerte erfolgreich usurpiert. Das gilt beispielhaft für den Topos „Freiheit“, der im niederländischen Gründungsmythos – über die den Spaniern abgetrotzte Unabhängigkeit – verwurzelt ist. Es ist kein Zufall, dass Wilders seine Bewegung „Partei für die Freiheit“ nannte. Und dass er sich bei seinen Tiraden gegen den Islam und marokkanische Migranten stets auf die Meinungsfreiheit beruft.
Ein Beispiel: 2014 fragte Wilders seine Anhänger bei einer Kundgebung: „Wollt ihr mehr oder weniger Marokkaner?“ Die schrien „Nein“, worauf Wilders erklärte: „Dann werden wir dafür sorgen.“ Als er wegen dieses Vorfalls im November 2016 wegen Volksverhetzung verurteilt wurde, hielt er dem Gericht entgegen: „Wenn Sie mich verurteilen, verurteilen Sie das halbe Land.“9
Toleranz, Konsens, Freiheit – die Werte, die bisher die Grundlage des gesellschaftlichen Zusammenhalts bildeten, stehen inzwischen so stark in der Kritik oder wurden von Populisten so oft missbraucht, dass sie kaum noch als Kitt wirken. Das erklärt, warum das Land auf der Suche nach seiner Identität ist. Viele Niederländer sind heute tatsächlich zutiefst überzeugt, dass Migranten ihre Kultur missachten. Für subjektive Wahrheiten solcher Art ist es unerheblich, ob es sich um ein reales Problem handelt oder ob Populisten nur eine Bedrohung herbeireden, um sich selbst als Lösung anzubieten.
Das hat in diesem Wahlkampf auch Mark Rutte mit seinem oben zitierten Aufruf getan. Und es hat geklappt: Der liberale Populist wird auch die neue niederländische Regierung führen. Er wird eine Koalition von Rechtsliberalen, Linksliberalen und Christdemokraten bilden, die allerdings einen weiteren Partner braucht.
Das könnten die Grünen sein, die zwar keine Regierungserfahrung, aber durchaus Interesse haben. Oder aber die kleine Christenunion, mit der Rutte eine weniger komfortable Mehrheit, aber auch weniger Ärger hätte. Die Grünen stehen für ökologischen Wandel, für EU-Nähe und für eine tolerante Migrationspolitik. Mit einem solchen Programm werden sie inhaltliche Kompromisse mit den drei anderen Parteien schwerlich finden. Zudem haben sie das tragische Koalitionsschicksal der Sozialdemokraten vor Augen.
Geert Wilders dagegen wird als Oppositionführer seine Strategie der Polarisierung fortsetzen und damit weitere Anhänger gewinnen. Der Populismus konnte keineswegs eingedämmt werden, im Gegenteil. Die Parteien der Mitte haben seine Methoden übernommen. Die Zeiten der linksliberalen Idylle – wenn es sie denn je gab – sind vorüber. In der aktuellen politischen Landschaft der Niederlanden weisen die Wegzeichen nach rechts.
1 nos.nl/artikel/2161564-op-een-rij-de-fragmenten-van-het-carredebat.html.
3 Siehe Perry Anderson, „Das System Europa und seine Gegner“, Le Monde diplomatique, März 2017.
5 Siehe dazu Stefan Lessenich, „Phantomschmerztherapie“, Süddeutsche Zeitung, 10. März 2017.
6 De Volkskrant, 20. März 2017.
9 NRC Handelsblad, 23. November 2016.
Ute Schürings ist Kommunikationsberaterin und Trainerin für interkulturelle Kommunikation mit Schwerpunkt Niederlande sowie Autorin von: „Benelux. Porträt einer Region. Politik, Alltag, Kultur und Geschichte“, Berlin (Ch. Links) 2017.
© Le Monde diplomatique, Berlin