06.04.2017

Onkel Hos Soldaten an der Wirtschaftsfront

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Onkel Hos Soldaten an der Wirtschaftsfront

Freihandel statt Sozialismus in Vietnam

von Martine Bulard

Als Vietnam eine Werkbank für die Welt wurde CHARLES DHARAPAK/ap
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Einen wie Nguyen Van Thien nennt die Kommunistische Partei Vietnams (KPV) „Onkel Hos Soldat an der Wirtschaftsfront“. Der Ehrentitel nimmt Bezug auf Ho Chi Minh, Held der Unabhängigkeit und Gründer der Demokratischen Republik Vietnam. Nguyen Van Thien, ein etwa 50-jähriger energischer Mann mit dichtem schwarzen Pony, ist Geschäftsführer der Bac Giang Garment Corporation – und stolz auf seine internationale Kundschaft aus den USA, Japan und Spanien.

In seinen Fabriken – vier mit Menschen und Maschinen vollgestopfte Hangars am Stadtrand von Bac Giang, anderthalb Autostunden von Hanoi entfernt – arbeiten fast nur Frauen. Etwas abseits liegt ein Häuschen mit bescheiden eingerichteten Büros, daneben ein Altar für die Glücksgeister des Wohlstands. Solche mehr oder weniger imposanten Altäre sieht man in allen Fabriken. Sie stehen unter freiem Himmel oder in der Eingangshalle, vor manchen glimmen Räucherstäbchen.

Die Bac Giang Garment Corporation (BGGC) ist in Vietnam kaum bekannt, weil sie ausschließlich für den Export produziert. Laut Vertrag dürfen die Anoraks, Hosen und Jacken von Gap, Uniqlo und Zara nicht auf dem viet­na­mesischen Markt angeboten werden – um die Marken nicht zu entwerten. Als könnten die Arbeiterinnen, die in Sechstagewochen zwischen 3 Millionen und 5 Millionen Dong (120 bis 210 Euro) im Monat verdienen, sich die Kleider, die sie herstellen, leisten.

Vor zehn Jahren bestand die BGGC aus einer einzigen Fabrik mit 350 Beschäftigten. Damals war Nguyen Van Thien noch Chef der technischen Kontrolle. Das war vor der Privatisierung – ein Wort, das in dem Einparteienstaat niemand offiziell verwenden würde. Man windet sich in Begriffen wie „Vergesellschaftung“, „Umwandlung in Aktien“ und manchmal sogar „Verstaatlichung“, um zu erklären, dass die Anteile eben nicht mehr dem Staat gehören. Sie liegen dann bei den Angestellten, die ein Vorkaufsrecht besitzen (wenn sie es denn ausüben können), oder bei allen, die sich beteiligen „wollen“. Das Unternehmen ist damit nach offizieller Terminologie ein „Gemeingut aller Viet­na­mesen“. Das klingt nach gerechter Verteilung, aber in Wahrheit haben sich diejenigen, die über das Sozial- und Finanzkapital verfügten, gleich den Löwenanteil gesichert.

Heute besteht die BGGC aus fünf Fabriken mit insgesamt 14 000 Beschäftigten. Dem ehemaligen Angestellten und KPV-Mitglied Nguyen Huu Phay gehören allein 40 Prozent des Unternehmens, die er über Aktienkäufe und Kapitalerhöhungen erworben hat. Ein großes Fotoporträt von ihm hängt im Wartezimmer für Besucher. Früher, als es in Vietnam nur Staatsbetriebe gab, kamen die Bestellungen direkt vom Volkskomitee und aus dem parteigeführten Handelsministerium. Doch seit vor 30 Jahren „die Marktwirtschaft mit sozialistischer Ausrichtung“ eingeführt wurde, kontrollieren die großen westlichen Marken alles, vom Knopfdesign bis zum Nähgarn; und sie diktieren die Preise. Nguyen Van Thien ist dennoch froh, „dem staatlichen Joch und Papierkrieg“ entronnen zu sein. Für ihn zählt vor allem, dass „wir Geld verdienen“.

Nicht alle Versuche endeten so erfolgreich. Die meisten großen Staatsbetriebe machten Verluste, und zwar unabhängig davon, ob sie in Aktiengesellschaften umgewandelt wurden oder nicht. Das berichtet ein bekannter Anwalt, der anonym bleiben möchte. Der frühere hohe Funktionär leitet heute eine große Kanzlei, die sich auf Handelsrecht spezialisiert hat. Nur wenige Unternehmen kamen nach der „Erneuerung“ (doi moi) von 1986 groß heraus. Dazu gehören der Immobilienkonzern Vingroup, dessen Chef Pham Nhat Vuong als einziger Vietnamese auf der Forbes-Liste der Dollarmilliardäre auftaucht, VietTel, die Nummer eins im Telefongeschäft, und der Molkereikonzern Vinamilk. Alle drei verdanken ihren Erfolg aber besonderen Umständen. Vingroup konnte mithilfe staatlicher Aufträge und exklusiver Nutzungsrechte von Grund und Boden enorme Profite einfahren; VietTel gehört der Armee und hat privilegierten Zugang zu Satelliten und Funkfrequenzen; und Vinamilk ist im Besitz ausländischer Eigner, darunter ein Fonds aus Singapur.

Unternehmen, die zögerten, Gesellschafter aufzunehmen, und nicht mehr vom Staat kontrolliert wurden, schreiben indes gigantische Verluste – eine „Mischung aus Inkompetenz und Korruption“, diagnostiziert der Anwalt. Das eklatanteste Beispiel liefert der Energiekonzern PetroVietnam. Mehrere Geschäftsführer wurden nach horrenden Verlusten und nachgewiesener Günstlingswirtschaft zum Rücktritt gezwungen. Der KPV-Chef Nguyen Phu Trong hat offensichtlich beschlossen, entschiedener gegen die weit verbreitete Korruption vorzugehen, über die so viele Vietnamesen klagen und die den Kapitalverkehr in die aufstrebende Marktwirtschaft behindert.1 Die vietnamesischen Unternehmer seien bislang nur in einem kleinen Teich geschwommen, meint dazu der Anwalt. „Aber jetzt müssen sie raus aufs hohe Meer“ – das stürmische Meer des Freihandels und der gnadenlosen Konkurrenz.

Die Firma BGGC hat ihre Erfahrungen damit gemacht. „Um Kostendruck zu erzeugen, spielen einige Großkunden Vietnam gegen China aus und umgekehrt“, berichtet Nguyen Van Thien. Deshalb müsse er nun überall den Rotstift ansetzen. Der japanische Bekleidungshändler Uniqlo hat die Lieferungen aus China erst einmal gestoppt und stattdessen Subunternehmen in Vietnam angeheuert. Und die Hongkonger Textilfirma Leverstyle, die unter anderem auch für die japanische Marke näht, kürzte in seinen chinesischen Niederlassungen ein Drittel der Stellen. Bis 2020 will Leverstyle 40 Prozent seiner Ware in Vietnam produzieren lassen, wo es bis vor sechs Jahren noch gar nicht präsent war.2 Seit Beginn dieses Jahrzehnts verlassen immer mehr große Markenfirmen und deren Subunternehmer China, wie der taiwanesische Konzern PouChen (Nike, Adidas, Puma, Lacoste), der in die Industriegebiete rund um Ho-Chi-Minh-Stadt über 2 Milliarden US-Dollar investiert hat.

Laut Truong Van Cam, Vizepräsident der Vereinigung der Textil- und Bekleidungsunternehmen (Vitas), stammen 65 Prozent der vietnamesischen Textilexporte aus Firmen mit ausländischen Eignern oder Auftraggebern. Das sei doch eine gute Nachricht, meint der Arbeitgebervertreter, der eher wie ein sowjetischer Bürokrat aus den 1970er Jahren wirkt und nicht wie einer dieser amerikanisierten Jungunternehmer, die einem hier über den Weg laufen. Die Vitas habe als Erste Wirtschaftsreformen gefordert, erzählt Truong Van Cam, weil sie früh erkannt habe, dass die jüngere Generation andere Bedürfnisse hat und sich der Uniformisierung verweigert: „Wir müssen der Jugend Arbeit verschaffen. Das ist unser einziger Reichtum, aus dem wir schöpfen können.“

Für Truong Van Cam ist die Weltwirtschaft wie eine Karawane, die von Europa nach Japan und Südkorea zog und von dort nach China. Als auch dort die Löhne stiegen, ging es weiter nach Vietnam, Bangladesch und Myanmar. „Das ist ein Naturgesetz, denn das Ziel der Firmen besteht darin, Profit zu machen. Das sind Zyklen von zehn oder fünfzehn Jahren.“

Wie die meisten Wirtschaftsführer setzte auch Truong Van Cam große Hoffnungen auf das Freihandelsabkommen Transpazifische Partnerschaft (TPP) zwischen den USA und elf Pazifikanrainerstaaten (siehe nebenstehenden Kasten). Barack Obama hatte sie gar zum „fortschrittlichsten Handelsabkommen der Geschichte“ erklärt.3 Gestützt auf Berechnungen der Weltbank, erwarteten die Textilunternehmer bis 2025 einen steilen Anstieg ihres Weltmarktanteils von derzeit 4 auf 11 Prozent, die Elektronikkonzerne rechneten mit einem Exportboom in der Größenordnung von 18 Prozent, und die vietnamesische Regierung prognostizierte für die kommenden zehn Jahre ein Wirtschaftswachstum von 0,8 bis 2 Prozent pro Jahr.4

Die vielversprechenden Aussichten haben viel dazu beigetragen, dass sich die ausländischen Niederlassungen in den letzten Jahren derart schnell ausgebreitet haben. Und natürlich die unschlagbar niedrigen Löhne, wie Shimiu Tatsuji und La Van Tranh zu verstehen geben, das japanisch-vietnamesische Führungsduo von Foster Electric aus Japan, das in Vietnam Smartphonemikrofone und Autolautsprecher herstellen lässt: „Die vietnamesischen Arbeiter sind sehr konkurrenzorientiert. Sie sind zwar schlechter ausgebildet, lernen aber schnell. Hier sind 30 000 Menschen beschäftigt, der Grundlohn liegt zwischen 150 und 200 US-Dollar im Monat, während es in China durchschnittlich 650 US-Dollar sind. Wir sparen sehr viel Geld.“

Eine echte Goldgrube – nicht nur für den Foster-Konzern, der schon einige Niederlassungen in China geschlossen hat. Samsung hat 15 Milliarden US-Dollar investiert und beschäftigt 46 000 Mitarbeiter, quasi eine ganze Stadt. Hinzu kommen Foxconn, Apple und Canon.

Die niedrigen Löhne sind aber nicht der einzige Grund. Der Boom der letzten Jahre basierte vor allem auf den geplanten Senkungen der Zollgebühren in den USA und den elf übrigen Pazi­fik­an­rainern, die laut TPP bis zum Jahre 2025 vollständig abgebaut sein sollten. Zudem hatten die US-Verhandler eine strenge „Made in“-Regel durchgesetzt, nach der die zu exportierenden Güter entweder vollständig in Vietnam oder nur aus Bestandteilen hergestellt werden sollten, die aus TPP-Mitgliedsländern stammten – damit wäre China außen vor geblieben. Und Vietnam hätte nicht länger nur in China produzierte Teile zusammengebaut. So entstand der Goldrausch, den man seit Beginn dieses Jahrzehnts beobachten konnte.

Kaum Schutz für Arbeiter und Umwelt

Dank der Unterstützung aus Washington und TPP sah sich Vietnam schon als zweitgrößte Werkbank der Welt und bereitete sich darauf vor, seinem ebenso bevorzugten wie verhassten Handelspartner Marktanteile abzujagen: China ist Vietnams wichtigster Lieferant und Kunde und ein Gegner im Kampf um das Südchinesische Meer.

Das Freihandelsabkommen hatte also eine ebenso politische wie wirtschaftliche Bedeutung.5 Donald Trumps TPP-Aversion hat die Lage verändert. Hinter dem ominösen Störbild, mit dem CNN im November 2016 „wegen unangemessener Inhalte“ eine Sendung unterbrochen hatte, verbarg sich, wie später bekannt wurde, eine Tirade des frisch gewählten US-Präsidenten gegen die „billigen vietnamesischen Produkte“, die Amerika zu überfluten drohten. Offensichtlich wollte man die vietnamesischen CNN-Zuschauer vor Trumps Verbalattacken schützen.

Noch hofft man in Vietnam, dass die großen US-Konzerne ihren exzen­trischen Präsidenten zur Räson bringen und ihn wenigstens zu einem bilateralen Abkommen überreden könnten. Am 18. November erinnerte der Regierungschef Nguyen Xuan Phuc im Parlament daran, dass Vietnam „schon zwölf Freihandelskommen unterzeichnet“ habe und „die wirtschaftliche Integration weiterverfolgen“ wolle, ob mit oder ohne TPP.

Derzeit kommen die Auslandsinvestitionen vor allem aus Asien, allen voran Japan, gefolgt von Taiwan, Singapur, Südkorea und zuletzt China. Doch der Asean-Bund setzt auch wieder verstärkt auf den bewährten Handelspartner EU (die EWG war 1972 der erste formale Asean-Partner). Nach achtjähriger Pause haben beide Seiten die Freihandelsgespräche 2015 wieder aufgenommen; mit Singapur und Vietnam wurden bereits bilaterale Handelsverträge vereinbart. Das EU-Vietnam-Free-Trade-Agreement soll noch in diesem Jahr vom Europäischen Rat ratifiziert werden und 2018 in Kraft treten.

Hanoi baut ausländischen Investoren eine goldene Brücke: vollständige Steuerbefreiung für vier Jahre und ein Erlass um die Hälfte für die folgenden neun Jahre; erleichterter Zugang zu Grund und Boden (auf Kosten der Bauern) und Hilfe sowie Abbau bürokratischer Hürden. Das scheint sich zwar einerseits auszuzahlen mit 6,5 Prozent Wirtschaftswachstum 2016 (seit dem Jahr 2000 schwankte dieser Wert zwischen 5,5 und 7,6 Prozent pro Jahr), doch die Strategie hat ihren Preis: die Abhängigkeit von ausländischen Konzernen, die über zwei Drittel der viet­namesischen Exporte abwickeln. Samsung beispielsweise ist allein für 60 Prozent der Elektronikausfuhren verantwortlich. Gerät der südkoreanische Riese durch geschäftsschädigende Ereignisse (vom Galaxy-Note-7-Debakel bis zu den Bestechungsskandalen um Samsung-Manager) in Probleme, ist ganz Vietnam betroffen.

Nguyen Anh Dong vom Zentralen Managementinstitut (CIEM), einem Forschungszentrum unter der Oberhoheit des Planungsministeriums, leugnet diese Gefahren keineswegs. Der junge stellvertretende Leiter der Abteilung für politische Ökonomie kritisiert zwar die „neue Schicht der vietnamesischen Reichen und Unternehmer, die ihre Privilegien behalten wollen“, aber er erklärt ohne Umschweife: „Die ausländischen Unternehmen verfügen über Kapital, wir nicht. Also besser Ausländer, die in die Produktion investieren, als Vietnamesen, die auf Immobilien setzen. Außerdem fördert das die Konkurrenz unter den lokalen Firmen und bringt sie vielleicht dazu, ihr Management zu verbessern. Die direkten Auslandsinvestitionen sind unsere Wette auf die Zukunft.“

Vietnam verfügt weder über eigenes Kapital noch über Technologien, sondern nur über Menschen – eine junge, dynamische Bevölkerung mit einer Alphabetisierungsquote von 98 Prozent. Die Hälfte der Vietnamesen ist unter dreißig, der arbeitsfähigen Altersgruppe gehören 53,8 Millionen Menschen an. Und so setzt die Regierung auf niedrige Arbeitskosten, weil das schon Singapur, Taiwan und China zum Erfolg geführt hat.

Doch der Fall Vietnam ist anders, erklärt Erwin Schweisshelm von der Friedrich-Ebert-Stiftung in Hanoi: „Diese Länder haben ihre Märkte geschützt und entsprechende Regelungen erlassen. Noch heute ist es nicht möglich, eine chinesische Firma zu 100 Prozent zu übernehmen, und manche Investi­tio­nen müssen mit Technologietransfers einhergehen. Vietnam dagegen ist für alles offen. Es gibt keinerlei Einschränkungen oder Empfehlungen für eine Niederlassung oder die Nutzung der Ressourcen des Landes.“ Zudem werden Verstöße gegen das Arbeitsrecht offenbar kaum geahndet, was bereits zu zahlreichen Konflikten in großen Fabriken geführt hat.

Die Einhaltung von Vorschriften zum Umweltschutz wird ebenfalls kaum kontrolliert. Davon zeugt die Formosa-Affäre, benannt nach der taiwanesischen Firma in der Provinz Ha Tinh im Herzen des Landes, die im April 2016 toxische Rückstände aus ihrem Stahlwerk ins Meer kippte: 200 Kilometer verseuchte Küste waren die Folge, tonnenweise verendete Fische und über 40 000 arbeitslose Fischer sowie Einbrüche im Tourismus.6 „Man kann eben nicht alles haben. Sie müssen sich schon entscheiden, ob Sie lieber Fisch und Krabben oder ein Stahlwerk haben wollen“, erklärte damals ungerührt Chou Chun Fan, der Formosa-Vertreter in Hanoi.7

Er hatte aber nicht mit den Fischern gerechnet, die Klage einreichten, und auch nicht mit der urbanen Mittelschicht, die aus Sorge um die Qualität ihrer Nahrungsmittel in Ho-Chi-Minh-Stadt auf die Straße ging. Die Regierung ließ ein oder zwei angebliche Rädelsführer verhaften und mehrere Dutzend Demonstranten für ein paar Stunden in Gewahrsam nehmen, aber sie leitete auch unverzüglich Ermittlungen ein; die Firma musste die Fischer entschädigen und Chou Chun Fan wurde entlassen.

Ein paar Jahre zuvor hatte die Bauxitmine der chinesischen Firma Chinalco den Zorn der Massen hervorgerufen. Selbst der damals schon fast hundertjährige Vo Nguyen Giap (1911–2013), der legendäre General der Vietminh-Truppen gegen Frankreich und die USA, griff zur Feder, um vor den „gefährlichen Risiken für die Umwelt“ zu warnen.8 Vergeblich – der Profithunger war stärker.

Autos und Mofas verstopfen die Straßen und verpesten die Luft. Erste Bürgerinitiativen kämpfen gegen die Umweltverschmutzung und für Nahrungsmittelsicherheit. Im Frühling 2016 gingen in Hanoi die Einwohner auf die Straße, als mehrere Dutzend hundertjährige Bäume gefällt werden sollten – mit Erfolg. Der junge Software-Unternehmer Luong Ngoc Khue, der aus dem Mekongdelta stammt, möchte „Städter und Landbewohner“ versammeln, um gegen den „zwangsläufig gentechnisch veränderten, zwangsläufig von Monsanto hergestellten“ Mais oder Reis vorzugehen, der mit den Freihandelsabkommen ins Land gelangen könnte – der Saatgutriese Monsanto, der inzwischen dem deutschen Bayer-Konzern gehört, hat in Viet­nam einen denkbar schlechten Ruf. Im Vietnamkrieg setzten die USA Monsantos Entlaubungsmittel Agent ­Orange als Chemiewaffe ein. In den sozialen Netzwerken haben sich Luong Ngoc Khues Gruppe bislang nur ein paar Dutzend Hipster angeschlossen.

Die Leute würden sich nur versammeln, wenn es einen konkreten Fall wie die Formosa-Affäre gibt, erzählt die Dokumentarfilmerin Dao Thanh Huyen. „Noch denkt man nicht gemeinsam über die Fragen nach, wie wir in Zeiten der Globalisierung die Entwicklung nachholen, auf Augenhöhe bleiben und zugleich Vietnams jahrtausendealte Kultur und Werte wie Solidarität oder Respekt vor den Alten schützen können.“

Die Kommunistische Partei hat beschlossen, die Antwort auf solche Fragen auf später zu verschieben. Derweil dreht sich die Debatte auch nur um das Tempo der Reformen, nicht um deren Inhalte: Die einen meinen, man müsse sie beschleunigen und die Freihandelsabkommen als Druckmittel nutzen, um Gesetze und Verfahren zu ändern (im Vorfeld der TPP-Verhandlungen wurden bereits 60 Vorschriften im Sozial- und Wirtschaftsbereich geändert). Die anderen würden lieber etwas abbremsen, um den Wandel noch steuern zu können. Demnach gäbe es nur noch die Alternative zwischen einer ganz freien oder einer gemäßigten Marktwirtschaft. Von einer sozialistischen Ausrichtung ist in beiden Fällen keine Rede.

1 Transparency International veröffentlichte am 17. März 2017 einen Bericht über 16 Länder in der Region Asien-Pazifik. Demnach ist Vietnam ein Land mit besonders ausgeprägter Korruption, siehe Coralie Pring, „Peo­ple and Corruption: Asia Pacific“, Berlin (Transparency International) 2017.

2 „China manufacturers survive by moving to Asian neighbors“, The Wall Street Journal, 1. Mai 2013.

3 Jennifer Wells, „Will the TPP transform the garment manufacture in Vietnam“, The Toronto Star, 6. Oktober 2015.

4 „Potential macroeconomic implications of the Trans-Pacific Partnership“, Global Economic Prospects, Weltbank, Washington, D. C., Januar 2016.

5 Siehe Xavier Monthéard, „Zurück in Saigon. Die USA und Vietnam bauen 35 Jahre nach Kriegsende eine neue Partnerschaft auf“, Le Monde diplomatique, Juli 2011.

6 „Formosa environmental scandal in Vietnam poses potential security problems“, Tuoi Tre News, 13. Juli 2016.

7 „Hécatombe de poissons: Formosa s’excuse, l’enqête continue“, Le Courrier du Vietnam, Hanoi, 27. April 2016.

8 Siehe Jean-Claude Pomonti, „Le Vietnam, la Chine et la bauxite“, Planète Asie, 3. Juli 2009.

Aus dem Französischen von Sabine Jainski

Martine Bulard ist stellvertretende Chefredakteurin der französischen Ausgabe von Le Monde diplomatique.

Le Monde diplomatique vom 06.04.2017, von Martine Bulard