09.03.2017

Der Grexit und die linken Geisterfahrer

zurück

Der Grexit und die linken Geisterfahrer

von Niels Kadritzke

Katrin PlavČak, Suspicious Contract, 2013, Öl auf Leinwand, 105 x 135 cm Ludger Paffrath
Audio: Artikel vorlesen lassen

Die konservative Opposition in Griechenland hat eine Entdeckung gemacht, die sie entzückt. „Die Vorsitzende der deutschen Partei Die Linke, Sahra Wagenknecht, schlägt den Austritt Griechenlands aus der Eurozone vor“, empörte sich die Nea Dimokratia (ND) in einer Presseerklärung vom 22. Februar. Und richtete an die Regierungspartei Syriza die inquisitorische Frage: „Hatte Herr Tsipras Kenntnis von der offiziellen Position der Partei Die Linke, wie sie deren Vorsitzende formulierte?“1

Im Übereifer hat die ND zwei Punkte übersehen: Zum einen ist die Grexit-Forderung keineswegs die „offizielle Position“ der deutschen Partei, die der Syriza am nächsten steht. Und zum anderen hat Wagenknecht den Grexit nicht „vorgeschlagen“, wohl aber behauptet – und das nicht zum ersten Mal –, eine wirtschaftliche Erholung Griechenlands wäre ohne das „Korsett“ der Gemeinschaftswährung „wahrscheinlich um einiges leichter“.2

Zudem vergaß die ND bei ihrer Anfrage über die „Genossin Wagenknecht“, ihren eigenen, nämlich den „CDU-­Genossen Schäuble“ zu erwähnen, dem ihr Vorsitzender Kyriakos Mitsotakis kurz zuvor seine Aufwartung gemacht hatte. Der deutsche Finanzminister, der bekanntlich mächtiger als Frau Wagenknecht ist, betreibt seit Jahren mithilfe der Grexit-Drohung eine eigenwillige europäische Austeritätspolitik, die in seiner Partei offenbar mehrheitsfähig ist.

Dagegen repräsentiert Wagenknecht in Sachen Grexit weder ihre eigene Partei noch die Syriza. Wohl aber einen Teil der linken „öffentlichen Meinung“ in beiden Ländern. In Griechenland wird der Euro-Austritt nur von drei politischen Parteien gefordert. Zwei von ihnen stehen links und haben sich – auch wegen dieser Frage – von der Syriza abgespalten,3 die dritte Grexit-Partei ist die neonazistische Chrysi Avgi (Goldene Morgenröte). Eine fürwahr seltsame Übereinstimmung zwischen linksradikalen und rechts­ex­tre­mistischen Kräften und Motiven.

Erklärungsbedürftig ist aber auch die Nähe zwischen Wagenknecht und Schäuble. Linke Grexit-Befürworter sind zumeist erklärte EU-Skeptiker, die das „europäische Projekt“ abbrechen oder radikal umbauen wollen. Für die Eurozone sehen sie erst recht keine Zukunft. Und ihr Plädoyer für den EU-Austritt Griechenlands ist stets auch eine Kampfansage an die Verfechter des Tina-Arguments. Das berühmte Diktum „There is no alternative“ ist für sie nur ein Trick der neoliberalen Weltenlenker, die mit ihrem Sachzwang-Fetischismus jeden radikalen Gegenentwurf diskreditieren wollen.

Frageverbote sind natürlich verboten. Aber genauso unsinnig wie die Tina- ist die Tinna-Behauptung: There is never no alternative. Wie könnten sonst aufrechte Linke argumentieren, dass der Kampf gegen den Klimawandel – bei Strafe des Untergangs – alternativlos sei?

In den meisten Rechts-links-Kon­tro­versen geht es jedoch gar nicht um das Ob, sondern um den Inhalt der Alternative, und im Fall Griechenland vor allem um ihre konkreten Folgen. Die Tina-Kritik der Gegenseite ersetzt also nicht die Beweislast für die eigene Alternative.

Haben die linken Grexit-Befürworter ein besseres Konzept zur Überwindung der Krise, jedenfalls besser für die Mehrheit der Betroffenen? Eine linke Antwort sollte sich – gerade in ihrem Realitätsgehalt – von den „rechten“ Konzepten unterscheiden. Deshalb ist es für Linke tatsächlich ein Problem, wenn sie mit dem deutschen Finanzminister in einem Boot sitzen, der von sich behauptet, die bessere „Alternative für Griechenland“ zu kennen.

Die Motive für Schäubles Bemühen, Griechenland aus der Währungsunion zu drängen, waren nicht immer dieselben. Im Berliner Finanzministerium wurde an einem Plan B schon seit 2010 gearbeitet, als halb Europa auf den „Greccident“ spekulierte: das ungeplante Ausscheiden aus dem Euro nach einem Staatsbankrott. Mehrere Regierungen bestellten damals bei Finanzinstituten wie Rothschild ausführliche Gutachten über die Folgen für die gesamte Eurozone. Wie konkret in Berlin über den Grexit nachgedacht wurde, erfuhr die griechische Seite erstmals am 16. September 2011.

Am Rande der EU-Finanzministerkonferenz in Breslau nahm Schäuble damals seinen griechischen Kollegen Venizelos beiseite, um ihn zu einem „sanften“ Austritt aus der Eurozone zu überreden. Dabei ging er auffällig ins Detail: Umwandlung aller Bankeinlagen über 3000 Euro in die neue Währung, Kapitalkontrollen, Cashrationen von wöchentlich 50 bis 100 Euro pro Kopf, Lebensmittelnothilfe, eine „Luftbrücke“ für Medikamente.4

Venizelos wies das Ansinnen entsetzt zurück. Aber die ausbuchstabierten Pläne machten ihm klar, dass dies nicht nur ein Schreckschuss war, um den Griechen das Zittern beizubringen. Es war ein strategisches Denkmodell.

Wie das aussah, erfuhr US-Finanzminister Timothy Geithner Ende Juli 2012, als er den Kollegen Schäuble in Sylt besuchte. Viele in Europa hielten „den Rauswurf Griechenlands für eine wünschenswerte Strategie“, erläuterte Schäuble seinem Gast. Ein Grexit müsse so „traumatisch“ wirken, dass die anderen EU-Länder vor Schreck „mehr Souveränität aufgeben würden“. Das kalte Kalkül: „Wenn man Griechenland abbrennen lässt, wird es leichter, ein stärkeres Europa mit einer glaubwürdigeren Firewall aufzubauen.“5

Mit Souveränitsverzicht war die Bereitschaft gemeint, sich der strengen Haushaltsdisziplin zu unterwerfen, die Schäuble als einziges Rezept für das EU-Krisenmanagement gelten ließ. Der Grexit sollte die Spreu vom Weizen trennen. Danach solle jedes Land, das im Euro bleiben wolle, seine Entscheidung treffen. Und Griechenland? War nur ein Kollatoralschaden auf der Autobahn ins deutsche Europa.

Schäuble wurde zunächst gestoppt, auch durch die Finanzmärkte, die negative Folgen für Portugal, Spanien und womöglich Italien antizipierten.6 Seine nächste Grexit-Offensive kam erst 2015, als Griechenland wieder am Abgrund stand und die Tsipras-Regierung das Diktat der Troika unterschreiben sollte. Damals formulierte Schäuble seine Drohung so brutal, dass auch viele EU-Partner schockiert waren. Wenn Tsipras nicht spurt, hieß es im Ultimatum vom 10. Juli, „sollten Griechenland rasche Verhandlungen über ein Time-out von der Eurozone, mit möglichen Schuldenerleichterungen … für eine Zeit von mindestens fünf Jahren angeboten werden.“7

Nicht nur der Athener Finanzminister Varoufakis glaubte, dass sein Berliner Kollege es ernst meinte. Auch in Brüssel sagten maßgebliche Leute – hinter vorgehaltener Hand –, dass Schäuble auf den Grexit hinarbeite, berichtete am 16. Juli 2015 der Welt-Korrespondent: „Zu hart seien die Sparauflagen, die der Bundesfinanzminister Griechenland in den Block diktiere. Zu rigoros schließe er den nötigen Schuldenschnitt aus. Zu harsch sei sein Ton in den Sitzungen.“

Wer damals Schäuble in letzter Stunde gestoppt hat (Hollande, Tusk, Merkel?), müssen die Historiker herausfinden. Klar ist aber: Hätte Tsipras nicht kapituliert, wäre der Grexit gekommen. Dafür wird er noch heute in Griechenland wie in Europa von manchen Linken als Judas verdammt. Das sind sehr oft Leute, die ihn zuvor absurderweise zum Che Guevara des Mittelmeers hochgejubelt hatten.

Dabei hat sich der Athener Regierungschef niemals für den Grexit ausgesprochen. Ob er diese Lösung heimlich erwogen habe, wurde er in einem Interview der linken Zeitung Efimerida ton Syntakton gefragt. Tsipras Gegenfrage: „Ob ich je daran dachte, etwas zu betreiben, was der härteste Vertreter der Gegenseite gefordert hat? Das wäre blödsinnig, wäre echter Verrat gewesen. Und katastrophal für die Arbeiter, denn es hätte ihre Kaufkraft und ihren Lebensstandard zerrüttet, aber auch die gesamte Volkswirtschaft.“8

Die Antwort klingt aufrichtig, verweist aber auf ein großes Problem: Der Lebensstandard in Griechenland ist nach sieben Jahren Krise ohnehin zerrüttet. Und die Arbeitslosigkeit ist nur deshalb ein wenig gesunken, weil zehntausende – vor allem junge – Arbeitsemigranten der Statistik nicht mehr zur Last fallen. Zudem ist die Grexit-Drohung noch längst nicht vom Tisch. Auch in der aktuellen Verhandlungskrise erklärte Schäuble, die Gläubiger müssten ihr „Pressing“ auf die Griechen fortsetzen, andernfalls müssten die aus der Eurozone ausscheiden.9 Für die zweite Alternative votieren heute 52 Prozent der deutschen Bevölkerung und 75 Prozent der AfD-Anhänger.

In gewisser Weise ist Schäubles Gre­xit-­Option heute bedrohlicher als 2015. Sie fügt sich in das Szenario, das auf ein „Europa der Willigen“, sprich eine EU der verschiedenen Geschwindigkeiten zusteuert: Deutschland und andere Kernländer auf der Überholspur, die Südländer und andere Nachzügler auf der Kriechspur, und auf dem Seitenstreifen stehen die Pannenopfer und warten auf den Abschleppdienst des IWF.

Sollte sich dieses Szenario durchsetzen, dem inzwischen offenbar auch Angela Merkel zuneigt, würden die linken Euroskeptiker recht behalten, für die eine Gemeinschaftswährung ohne gemeinsame Steuerpolitik und Eurobonds nie eine Zukunft hatte.

Recht behalten ist freilich noch kein Alternativkonzept. Das aber ist weit und breit nicht zu sehen.10 Schon gar nicht für Griechenland. Die Rückkehr zur eigenen, stark abgewerteten Währung wäre für das extrem verschuldete und exportschwache Land ein Notausgang mit extremen Risiken.

Das hat auch der klügste Kopf der Euroskeptiker erkannt. In einer Athener Zeitung äußerte Heiner Flassbeck volles Verständnis dafür, dass die Tsipras-Regierung den „Sprung ins Unbekannte“ verweigert habe. Er habe das auch nie erwartet, denn ein schwacher Staat wie Griechenland könne den Ausstieg aus dem Euro nicht als Erster, also vor Italien oder Frankreich wagen.11

Ähnlich sah es Iannis Varoufakis. Der erste Finanzminister der Tsipras-Regierung hat den griechischen Euro­beitritt zwar für einen Fehler gehalten, aber „wenn man mal drin ist, kommt man nicht raus, ohne dass es eine Katastrophe gibt.“ Allein das Risiko einer solchen Katastrophe sollte verantwortungsvollen Politikern die Fantasie vom „Sprung ins Unbekannte“ austreiben.

Aber Ökonomen haben die Folgen eines Grexit auch sehr konkret beschrieben. Die reichen von „kurzfristigen“ Turbulenzen, die Jahre dauern könnten, bis zu dem strukturellen Problem, wie ein deindustralisiertes Land mit weicher Währung eine tragfähige Exportwirtschaft aufbauen soll. Zudem würde die inflationäre Drachme den griechischen Besitzern von Euroguthaben – und ausländischen Investoren – das „große Fressen“ auf Kosten der Drachmen-Griechen ermöglichen.12 Auch das sollte linken Grexit-Befürwortern zu denken geben.

Die entscheidende Frage ist jedoch eine andere: Wo soll das Geld herkommen, um die ganz normalen staatlichen Funktionen zu finanzieren? Ganz zu schweigen von einem minimalen Sozialstaat, den es in Griechenland bislang nicht gibt, weil die finanziellen Ressourcen von einem korrupten Klien­tel­system aufgesogen wurden, vor allem von einem großenteils ineffizienten öffentlichen Sektor, den man nie zu evaluieren gewagt hat.

Where is the money? Das gilt auch für das Problem der öffentlichen Verschuldung, das eine weiche Währung noch verschärfen würde. Die klassische linke Antwort eines Schuldenschnitts ist keine. Denn der Drachmenstaat würde ohne tiefgreifende Reformen ständig neue Haushaltsdefizite produzieren, die man – wie die unentbehrlichen Importe – mit Anleihen in harten Devisen finanzieren müsste. Die aber gäbe es nur zu hohen Kosten.13

Die große Lebenslüge der Grexit-Anhänger ist also die Illusion, dass Griechenland mit der Drachme wieder ein souveräner Staat wäre. Der neue Souverän wäre vielmehr der Bondsmarkt, der seine Bedingungen noch unerbittlicher diktieren würde, als es die heutigen Gläubiger tun.

Die Flucht aus dem Euro wäre eine Flucht vor den wirklichen Problemen des Landes, argumentiert Giorgos Oikonomou, kritischer Beobachter der griechischen Gesellschaft. Denn diese Probleme rühren nicht vom Euro, sondern von den Patholo­gien des Systems: „Das gescheiterte oligarchische und kleptokratische System zu verändern, ist die unabdingbare Voraussetzung für alle weiteren Schritte.“14 Der Schritt aus dem Euro wäre nur ein Alibi, diese Probleme weiter vor sich her zu schieben.

1 Kathimerini, 22. Februar 2017.

2 Rheinische Post online, 21. Februar 2017; zur Kritik an Wagenknecht aus den Reihen der Linken siehe Sozialismus Aktuell, 24. Februar.

3 Die LAE (Volkseinheit) und die Plefsi Eleftherias (Kurs der Freiheit), deren addiertes Wählerpotenzial laut Umfragen 4 bis 5 Prozent beträgt; die Kommunisten von der KKE sind keine Grexit-Befürworter.

4 So Venizelos vor einem griechischen Parlamentsausschuss, siehe Kathimerini, 21. Dezember 2016.

5 Geithners Bericht über dieses Gespräch in seinem Buch „Stress Test“ (2014), hier zitiert nach New York Times, 29. Juni 2015.

6 In dieser Zeit wurde in Brüssel und Frankfurt (EZB) an einem „Plan Z“ gearbeitet, der den Grexit einkalkulierte, siehe Financial Times, 14. Mai 2014.

7 Englische Originalfassung in: Süddeutsche Zeitung, 12. Juli 2015.

8 Efimerida ton Syntaktion, 25. Dezember 2016.

9 Siehe „Die Zeit läuft weg“, LMd-Blog Griechenland, 27. Februar 2017.

10 Der plausibelste Entwurf ist die Rückkehr zu einer „Währungsschlange“, die Lafontaine vorgeschlagen hat, siehe: Der Spiegel, 11. Juli 2015.

11 Efimerida ton Syntakton, 27. September 2015.

12 Siehe meine Darstellung in: „Grexit und was dann?“, Le Monde diplomatique, Juni 2016.

13 Einen bitteren Vorgeschmack bieten die Zinsraten für griechische Bonds, die von neuen Grexit-Gerüchten automatisch in die Höhe getrieben werden.

14 Efimerida ton Syntakton, 28. Juni 2016 und 23. Februar 2017.

© Le Monde diplomatique, Berlin

Eine erweiterte Fassung dieses Textes erscheint auf dem LMd-Blog Griechenland.

Le Monde diplomatique vom 09.03.2017, von Niels Kadritzke