09.03.2017

Polen zuerst

zurück

Polen zuerst

Wie sich Kaczyński und seine Regierung die Zukunft der EU vorstellen

von Agnieszka Pufelska

Katrin Plavčak, Aber Socken!, 2014, Öl auf Baumwolle, 40 x 40 cm Ludger Paffrath
Audio: Artikel vorlesen lassen

Das eigene Land zuerst – das ist die polnische Antwort auf die aktuelle EU-Krise. „Der Brexit ist ein Faktum“, sagte neulich die polnische Regierungschefin Beata Szydło mit Blick auf die britische Entscheidung zum EU-Austritt. Die EU müsse sich entwickeln, „aber bei voller Bewahrung der autonomen Rechte der Mitglieder“.

Der politische Strippenzieher im Land weiß auch, wie das zu erreichen ist. Jarosław Kaczyński, Chef der Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS), will die Nationalstaaten stärken und die Kompetenzen der EU reduzieren. Konkret will er eine umfassende Vertragsänderung durchsetzen, das Parlament in Straßburg entmachten und vor allem das Einstimmigkeitsprinzip im EU-Rat wieder einführen. Das bedeutet ein Vetorecht für jede Regierung.

Kaczyńskis Einspruch gegen die Stimmverteilung in der EU ist nicht neu. Als Ministerpräsident versuchte er bereits Anfang 2007 den Vertrag von Lissabon zu torpedieren. Hauptgrund seines Protests damals wie heute: die doppelte Mehrheit. Im Zuge der EU-Reform war geplant, das im Vertrag von Nizza festgelegte Stimmrecht neu zu regeln. Für den Beschluss neuer Gesetze sollte demnach die Zustimmung von Mitgliedstaaten mit einem Anteil von mindestens 50 Prozent an der EU-Bevölkerung nötig sein. Das bedeutete mehr Macht für das wiedervereinigte 80-Millionen-Einwohner-Land und weniger Einfluss für das 40-Millionen-Einwohner-Land und die kleineren Staaten.

Kaczyński war der festen Überzeugung, dass die neue Stimmengewichtung ein gezielter Angriff Deutschlands sei, der die polnische Souveränität unterminieren wolle. Seine Beschwerden waren von überheblichen Tönen geprägt, die antideutsche Ressentiments bedienten. „Wenn Polen nicht die Jahre 1939 bis 1945 durchgemacht hätte, wäre Polen heute ein Land mit einer Bevölkerung von 66 Millionen“, argumentierte Kaczyński, womit er implizit mehr Stimmen für den polnischen Staat von heute forderte.

Für den Warschauer Machthaber ist die Instrumentalisierung der polnischen Kriegsopfer seit jeher Leitprinzip einer Außenpolitik, die Polen eine außerordentliche Position auf der internationalen Bühne sichern will. Mit diesem Ziel ist jede Art von Souveränitätsverzicht unvereinbar. „Polen darf nicht zu einem Regierungsbezirk Brüssels degradiert werden!“, rief Kaczyński im Sejm, als die Parlamentsabgeordneten am 1. April 2008 über die Ratifizierung des Lissabon-Vertrags berieten.

Da saß er allerdings schon in der Opposition, nachdem die EU-freundliche Bürgerplattform die Wahlen vom Oktober 2007 gewonnen und mit Donald Tusk die Regierung übernommen hatte. Damals wollte Kaczyński als PiS-Fraktionschef eine Präambel zum Ratifizierungsgesetz durchsetzen, in der die Souveränität des Landes unterstrichen werden sollte. Ein weiterer Zusatz sollte festhalten, dass Polen nicht die EU-Grundrechtecharta übernimmt, die Ka­czyń­ski als Instrument zur Liberalisierung der Abtreibungsregelungen betrachtete. Als Tusk die Präambel wie die Zusatzklausel ablehnte, stimmte die PiS dem Lissabon-Vertrag zähneknirschend zu.1

Wenn Kaczyński auf eine Änderung der EU-Verträge drängt, will er sich als Verteidiger der nationalen Interessen profilieren. An diesem Image des PiS-Chefs arbeitet heute die ganze Regierung. So bezeichnet Außenminister Witold Waszczykowski die EU-Initiative Kaczyńskis als den polnischen Beitrag zum Aufbau „einer Union der freien Nationen und gleichberechtigten Staaten“. Aus Nationalstaaten also, die auf allen Gebieten souverän sind, die nicht in die Zuständigkeit der EU fallen – die sich allerdings nur noch um den Binnenmarkt und die Umwelt kümmern soll. Und künftig auch um die Verteidigung.

Wie man das in Warschau versteht, machte Waszczykowski auch auf der letzten Münchner Sicherheitskonferenz deutlich. Als EU-Vizekommissionspräsident Frans Timmermans der PiS-Regierung vorhielt, die geplante Justizreform verstoße gegen den EU-Vertrag, bekam er die Antwort: Die Kommission solle sich nicht in die polnische Innenpolitik einmischen und Polen die Entscheidung überlassen, wie die eigene Verfassung zu interpretieren sei.

Hintergrund dieses Schlagabtauschs ist das Vertragsverletzungsverfahren, das die EU-Kommission im Januar 2016 gegen Polen wegen der Neuregelungen für das polnische Verfassungsgericht eingeleitet hat. Sofort nach ihrem Wahlsieg vom Oktober 2015 hatte die PiS-Regierung mit ihrer knappen Parlamentsmehrheit mittels einer „Reform“ beschlossen, das Verfassungsgericht unter Regierungskontrolle zu bringen.2 Kritiker im In- und Ausland sehen darin den Versuch, das letzte unabhängige Staatsorgan handlungsunfähig zu machen und die polnische Demokratie zu untergraben.

Mit Geschichte Politik machen

Doch die PiS-Regierung, sprich Ka­czyń­ski, lässt sich von niemandem reinreden, schon gar nicht von der Europäischen Kommission. Das lässt ihr nationaler Egoismus und ihre nationale Eitelkeit nicht zu. Zugleich will sie jedoch mit entscheiden, wer die führende Rolle in der EU spielen darf. Auf jeden Fall will sie die deutsche Vormacht eingeschränkt sehen. In Berlin verstehe man die polnischen Interessen nicht, heißt es in Warschau. Als Beleg dienen der geplante Bau der zweiten Ostsee­pipe­line von Russland nach Deutschland oder die deutsche Zurückhaltung bei der Stationierung von Nato-Truppen in Osteuropa.

Am schärfsten kritisiert wird jedoch der EU-Verteilungsschlüssel für Flüchtlinge, den angeblich die Deutschen diktiert haben. Dabei wird die vorgesehene Umverteilung häufig als „Zwangsumsiedlung“ bezeichnet. Diese begriffliche Umdeutung ist genau kalkuliert: Sie spielt auf die Umsiedlungsaktionen in Polen während der NS-Besatzung an, womit sie zugleich der nationalistischen Geschichtspolitik der PiS-Regierung dient. Die polnische Weigerung, Flüchtlinge aufzunehmen, wird zur patriotischen Pflicht geadelt, ja, zum Akt des Widerstands gegen deutsche Anmaßungen.

Genauso wichtig ist es Kaczyński, die Wiederwahl des polnischen EU-­Rats­präsidenten Tusk zu verhindern. Als Vorwand dienen dabei Ermittlungen der polnischen Staatsanwaltschaft in zwei Fällen. Der frühere Regierungschef soll in seiner Regierungszeit eine Finanzaffäre vertuscht haben. Und er soll – zusammen mit Putin – für den Absturz des Regierungsflugzeugs in Smolensk verantwortlich sein, bei dem vor sieben Jahren Kaczyńskis Zwillingsbruder und über 90 polnische Parlamentarier und hohe Militärs ums Leben kamen.

Aber vor allem ist Tusk in Ka­czyń­skis Augen kein Patriot. Schon weil er die polnischen Einwände gegen den Vertrag von Lissabon nicht unterstützt und stattdessen für die EU, also Deutschland, Partei ergriffen hat. Deshalb hintertreibt Warschau die erneute Wahl von Tusk zum Präsidenten des Europäischen Rats. Die PiS-Regierung geht dabei so weit, mit Jacek Saryusz-Wolski einen Gegenkandidaten zu nominieren, der seit 2004 für Tusks Bürgerplattform im Europäischen Parlament sitzt.

Für die Rückkehr zum Vetorecht sind auch innenpolitische Motive maßgebend. Wegen der Entmachtung des Verfassungsgerichts drohen EU-Sanktionen, bis hin zum Entzug des Stimmrechts. Das würde die Opposition gegen die Regierung stärken. Solche Sanktionen könnte die Regierung durch ihr Veto verhindern, wenn in Brüssel wieder einstimmige Beschlüsse erforderlich wären.

Mit ihrem streitbaren Einsatz für eine Vertragsänderung will sich die polnische Regierung aber auch als einzige Vorkämpferin für die polnische Souveränität darstellen. Deshalb denunziert sie die EU-freundliche Opposition als polenfeindlich oder gar als Hilfstruppe des deutschen Hegemons.

Kaczyński und seine Anhänger nehmen damit in Kauf, dass die Rückkehr zum Einstimmigkeitsprinzip die Europäische Union weiter destabilisieren oder handlungsunfähig machen könnte. Sie kennen die Geschichte Polens gut genug, um zu wissen, dass ein absolutes Vetorecht (liberum veto) für den Untergang der polnischen Staatlichkeit im 18. Jahrhundert mit verantwortlich war.3 Es ist kein Zufall, dass die EU-Abgeordneten der PiS seit dem Brexit auf einen Zerfall der Union setzen und einen „Neustart“ unter nationalen Vorzeichen befürworten.

Im Sinne eines wirklich „erneuerten“ Europa ist zu hoffen, dass Kaczyński mit seinen Machtansprüchen ein zweites Mal scheitert. Deshalb erhoffen sich in Polen die zahlreichen Gegner der PiS-Regierung eine wirkungsvolle Unterstützung auf europäischer Ebene. Das setzt allerdings voraus, dass bei den bevorstehenden Wahlen, die in mehreren EU-Ländern bevorstehen, die Rechtspopulisten nicht weiter an Boden gewinnen

In Polen konnte die PiS die Wahlen für sich entscheiden (wenn auch nur mit 37,6 Prozent der Wählerstimmen), weil sie die Menschen mit ihren realen Ängsten vor dem sozialen Abstieg ernst genommen hat, um sie mit ihren typischen Antworten (Nation, Religion, Freund-Feind-Denken) abzuspeisen. Dass die Zunahme prekärer Arbeitsverhältnisse und sozialer Unsicherheit rechtspopulistische Orientierungen fördert, ist heute offensichtlich. Wenn der Vormarsch nationalistischer Autokraten wie Kaczyński gestoppt werden soll, muss die EU deutlich mehr Verantwortung für soziale Sicherheit und Gerechtigkeit übernehmen.

1 Die Zustimmung der PiS wurde durch Staatspräsident Lech Kaczyński erzwungen, der seinem radikaleren Zwillingsbruder die Verweigerungspolitik ausreden konnte.

2 Siehe Anna Wojciuk und Łukasz Mikołajewski, „Die polnische Wandlung“, Le Monde diplomatique, Februar 2016.

3 Das liberum veto gewährte jedem Abgeordneten das Recht, durch seinen Einspruch („nie pozwalam“, ich verbiete) jeden Parlamentsbeschluss zu Fall zu bringen. Ursprünglich als Garant eines Konsens gedacht, wurde das liberum veto seit 1652 häufig zum Instrument von Einzelinteressen.

Agnieszka Pufelska ist Kulturhistorikerin.

© Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 09.03.2017, von Agnieszka Pufelska