China demokratisieren – aber wie?
Die Vordenker eines politischen Wandels fürchten die Dummheit des Volkes
von Jean-Louis Rocca
Auf der einen Seite stehen die „Demokraten“, die eine Regierung durch das Volk und für das Volk wollen, und auf der anderen Seite die „Autoritären“, die an der Diktatur der Einheitspartei festhalten – so das Bild, das die meisten westlichen Medien von der politischen Landschaft Chinas zeichnen. In Wirklichkeit sind die Unterschiede zwischen beiden Lagern aber gar nicht so groß. Beide wollen bestimmen, unter welchen Voraussetzungen demokratische Fortschritte zugelassen werden können, ohne Stabilität und Eintracht zu gefährden.
Eine direkte Demokratie kommt dabei nicht einmal für die Liberalen und Dissidenten infrage: Das Volk – im Wesentlichen die Bauern und Wanderarbeiter (Mingong) – sei seinen Leidenschaften und Instinkten ausgeliefert und deshalb anfällig für Manipulationen aller Art. „Echte“ Demokratie setze Eliten voraus, die in der Lage sind, die Entscheidungen des Volks zu lenken. Stützen sollten sie sich dabei auf den bürgerlichen Teil der Bevölkerung, das heißt auf die städtische Mittelschicht.
Diese Auffassung von der Demokratie ist weder neu noch auf China beschränkt. Auch im Europa des 19. Jahrhunderts waren Wahlen nur innerhalb von Systemen denkbar, in denen das Volk geführt wurde, und bis heute schwören viele westliche Intellektuelle auf eine Art „betreute Demokratie“.
In China beherrscht gegenwärtig das Thema Demokratisierung und Repräsentation die politische Debatte. Die Verfechter eines starken Staats und eines stabilen Systems lehnen demokratische Reformen ab, da sie dem direkten Ausdruck des Volkswillens zu viel Raum geben würden. Diese „Konservativen“ stimmen – ob sie sich nun auf die Erfahrungen mit der chinesischen Revolution berufen oder die Rückkehr zum Konfuzianismus predigen1 – in einem Punkt überein: Nur eine Elite, die erhaben ist über schnöde materielle Interessen, sei geeignet, die Anliegen des Volks zu vertreten.
Erstaunlicherweise sind auch ausgesprochen liberale Denker sehr vorsichtig, wenn es darum geht, die Volkssouveränität auszuweiten. Deren Standpunkt fasst die Sinologin Émilie Frenkiel2 folgendermaßen zusammen: Sie sind für das Wahlrecht, meinen aber, dass nur Staatsbürger wählen dürfen, die sich ihrer Verantwortung voll und ganz bewusst sind. Andernfalls bestehe die Gefahr, dass sie schlechte Politiker wählen. Der Historiker Xu Jilin betont, Reformen müssten schrittweise erfolgen. Für den Philosophieprofessor Ren Jiantao „wäre es das Beste, wenn die Kommunistische Partei anerkennen würde, dass sie sich unbedingt selbst reformieren muss, dass es keinen anderen Weg gibt“.3
Deng Zhenglai, Professor an der Fudan-Universität in Schanghai, führt aus: „China ist ein riesiges Land mit sehr vielen Menschen. Da kann man nicht durch eine bestimmte Politik alles verändern. Die Wirtschaftsreformen wurden nicht überall im Land gleichzeitig und auf die gleiche Weise umgesetzt. Die Chinesen haben ihre eigene Art der Weisheit … Man braucht Geduld … Dann kann man, falls nötig, auch wieder einen Schritt zurückgehen.“
Der Politologe Li Qiang meint, vor der Einführung des Wahlrechts müsse zuerst ein moderner Staat und eine funktionierende Wirtschaft aufgebaut werden. Dies und einige individuelle Freiheitsrechte sowie ein gewisser Spielraum für die Zivilgesellschaft gehörten zu einer „ersten Etappe“, der dann ehrgeizigere Reformen folgen könnten. Und auch die würden keinesfalls der „modernen westlichen Demokratie“ entsprechen, denn das erlaube „das Gewicht unserer Traditionen nicht“. Der auch international bekannte Liberale Yu Keping setzt Demokratie mit „guter Regierungsführung“ gleich, das heißt mit der Herrschaft ehrlicher Technokraten.4
Das Leitbild einer effizienten Elite
Auch der berühmte Blogger Han Han schlägt in dieselbe Kerbe. Für die gebildeten Leute (wenhuaren) sei „Demokratie gleichbedeutend mit Freiheit. Aber für die meisten Chinesen hat die Freiheit nichts mit der Presse, mit Literatur oder Kunst, mit Wahlen, öffentlicher Meinung oder Politik zu tun … Für alle, die keine Beziehungen haben, heißt frei sein, laut schreien, über die Straße gehen oder auf den Boden spucken zu können, wie es ihnen passt. Und für Leute mit Beziehungen besteht Freiheit darin, die Gesetze übertreten zu können, wie sie wollen, und Gesetzeslücken ausnutzen zu können, um all das Böse zu tun, das sie tun möchten.“5 Anders ausgedrückt: Nur gebildete und gute Menschen können Demokratie begreifen.
Vielleicht sind diese negativen Urteile eine Folge der massiven Propaganda der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) oder einer immer noch ausgeprägten autoritären Tradition. Doch selbst Liu Xiaobo, der Friedensnobelpreisträger des Jahres 2010, Unterzeichner der Charta 086 und seit 2008 wegen seiner Schriften im Gefängnis, ist der Ansicht, dass die Mittelmäßigen stets ihr Eigeninteresse im Blick hätten. Deshalb könne das Primat der Freiheit nur von einer kleinen Elite ausgehen. „Seit dem Untergang des alten Adels bemisst sich die Qualität moderner Gesellschaften daran, inwieweit eine Minderheit in der Lage ist, ein Gegengewicht zur Mehrheit zu bilden“, erklärt Xiaobo. „Die elitäre Minderheit kümmert sich um die Schwachen und kritisiert die politischen Machthaber; sie widersteht den Vorlieben der Massen, das heißt, sie bewahrt sich ihre Unabhängigkeit und ihren kritischen Geist sowohl gegenüber den Mächtigen als auch gegenüber den Massen; sie kontrolliert die Regierung durch ihre Kritik und lenkt die Massen.“ An anderer Stelle schreibt er: „Was die Massen wollen, ist banales und materielles Glück.“7
Hängt diese elitäre Einstellung auch bei demokratisch gesinnten Intellektuellen mit der bitteren und ernüchterten Feststellung zusammen, dass ihre Landsleute nach dreißig Jahren, in denen sich der Lebensstandard deutlich erhöht hat, nur noch ans Konsumieren denken? Allerdings haben die Anhänger der Demokratie auch schon vor dem „chinesischen Wirtschaftswunder“ nicht allzu viel Nähe zum Volk gesucht, wie die Analysen der Studentenproteste auf dem Platz des Himmlischen Friedens 1989 zeigen. Zhang Liang zählt in seinem Buch8 die wichtigsten Gründe für deren Scheitern auf: „Die Schwäche der Reformer an der Spitze der KPCh, die Uneinigkeit innerhalb der Studentenbewegung, die Kluft zwischen Intellektuellen und Bauern sowie das Fehlen einer stringenten Organisation und eines detaillierten Programms.“
Entstanden war diese Kluft dadurch, dass die Studenten an der Reinheit ihres Anliegens und an ihrem hohen Anspruch festhalten wollten. Ihre Kritik am Regime sollte politisch und moralisch sein und nicht durch wirtschaftliche Interessen motiviert. Sie versuchten, zum Wohle der Nation zu handeln, bemühten sich um den Erhalt der Ordnung und den Fortgang der wirtschaftlichen Produktion. Ein Ordnungsdienst schottete die Hungerstreikenden und die Anführer vor den Vertretern der Arbeiter und Bauern ab, die ihnen ihre Interessen darlegen wollten, um die Studenten in ihrer Reinheit und Gelassenheit nicht zu stören. Nur „zuverlässige“ Personen wurden zu ihnen vorgelassen.9
Ein Blick in die Schriften der ersten Liberalen zeigt, wie alt diese Argumente sind. Liang Qichao (1873–1929) gilt als deren Vordenker und als derjenige, der die Demokratie nach China brachte. Er stand nicht unter dem Einfluss von Kräften der Vergangenheit oder des Totalitarismus. Und doch klingt das, was er nach einer seiner Reisen in die Vereinigten Staaten schrieb, ganz ähnlich wie die Äußerungen des so viel später geborenen Liu Xiaobo: „Wenn ich mir die Gesellschaften der Welt ansehe, ist keine so ungeordnet wie die Gemeinschaft der Chinesen von San Francisco. Warum? Die Antwort ist die Freiheit. Es ist nicht so, dass die Chinesen in China den Chinesen in San Francisco von Natur aus überlegen wären, aber zu Hause werden sie von Beamten regiert und von Vätern und älteren Brüdern gelenkt. Heute bedeuten die Freiheit sowie die verfassungsmäßige und republikanische Ordnung, dass die Mehrheit regiert. (...) Wenn wir jetzt ein demokratisches System einführen müssten, wäre das schlichtweg nationaler Selbstmord. Das chinesische Volk kann derzeit nicht anders als autokratisch regiert werden.“10
Für chinesische Intellektuelle ist es seit jeher unvorstellbar, dass das Volk als demokratischer Souverän die politische Macht innehat. Für sie bedeutete Demokratie bestenfalls ein paar bürgerliche Freiheiten, die dem Volk zugestanden wurden und allen erlaubten, ihren Standpunkt zu formulieren, ihre Interessen zu vertreten beziehungsweise ihre Präferenzen auszudrücken – aber immer im Rahmen einer Oligarchie von Regierenden, die die Kontrolle behielt.
Solche Vorstellungen bringen Verfechter der westlichen Demokratie regelmäßig zur Verzweiflung. Aber manche haben auch Sympathien dafür, da sie in der Demokratie à la chinoise eine Alternative zum eigenen Modell erkennen. Dabei sind sie nicht von chinesischen Traditionen beeinflusst, weder von Konfuzius noch von der Kommunistischen Partei. Dargelegt ist diese Denkweise in einem Buch von Michel Aglietta und Guo Bai, die für den politischen Wandel einen anderen Weg als die repräsentative Demokratie vorschlagen.11 Dieser Wandel könne von bürokratischen Institutionen ausgehen, unter Führungspersönlichkeiten, die um die Bedeutung der Ethik für die Politik wüssten und die die Verantwortlichen der unteren Ränge genau kontrollierten. Der Kern eines solchen Systems sei „eine nach den ethischen Prinzipien des Konfuzianismus kontrollierte Bürokratie“. Angesichts der negativen Effekte von Kapitalismus und Globalisierung zeige sich „die wahre Vornehmheit in einer geistigen und moralischen Überlegenheit, die durch gesellschaftlichen Status, politische Funktionen und materiellen Wohlstand belohnt werden muss“.
Die beiden Autoren stimmen mit den chinesischen Liberalen darin überein, dass die Macht in den Händen einer Elite liegen muss, die sich durch besondere Verdienste auszeichnet; welche Verdienste das sind, bestimmt die Elite selbst. Anders als die chinesischen Liberalen sind Aglietta und Bai aber der Meinung, dass die chinesische Bürokratie genau die Elite ist, die China braucht, weil sie effizient und gerecht sei.
Aber wer ist eigentlich das Volk, dessen Bedürfnisse es zu befriedigen gilt und das dennoch nicht an die Macht gelangen soll? Seit dem 19. Jahrhundert zählen in China alle Menschen dazu, die weder über Vermögen noch über Bildung verfügen: Bauern und kleine Kaufleute sowie, je nach Epoche, Arbeiter (bis Ende der 1990er Jahre) und Wanderarbeiter (heute). Den Angehörigen dieser gesellschaftlichen Klassen traut man nicht zu, ihre Rolle als Staatsbürger auszufüllen, weil ihnen die „Eignung“ (suzhi) dazu fehlt. Dieser Begriff bezieht sich vor allem auf das Bildungsniveau, meint aber auch guten Geschmack, anständiges Benehmen, Höflichkeit, Hygiene, Zivilisiertheit und geistiges Niveau.
Bis heute ist die Unterscheidung zwischen dem (gebildeten) „Städter“ und dem (ungebildeten) „Landbewohner“ die wichtigste Trennlinie innerhalb der chinesischen Gesellschaft. Nachdem große Teile der alten Arbeiterschicht in die Mittelschicht aufgestiegen sind und damit zu den Gebildeten gehören, gibt es ganz unten in der Hierarchie jetzt die Wanderarbeiter. Da sie aber nach wie vor die große Mehrheit der Bevölkerung, also der potenziellen Wählerschaft stellen, besteht eine große Zurückhaltung, ihnen die Schlüssel zur Macht in die Hand zu geben.
Die chinesischen Demokraten sind mit ihrem Misstrauen gegenüber dem Volk nicht allein. Neigen nicht alle Liberalen fast reflexhaft dazu, die Ausübung der Demokratie zu beschränken? Ein Blick nach Frankreich in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts zeigt Parallelen zwischen den damaligen politischen Debatten und der Skepsis im heutigen China. Die Ausrufung des Zweiten Kaiserreichs 1852 war ein Schock für die Anhänger der Republik. Die Bauern hatten sich von den regierenden Republikanern abgewandt und unterstützten Louis-Napoléon Bonaparte, der populistische mit diktatorischen Zügen verband und nach seiner Wahl ein autoritäres Regime errichtete. Nach einem Staatsstreich machte er sich zum Kaiser und wurde vom Volk durch Plebiszit bestätigt. Und die ländlichen Wähler hielten ihm auch die Treue: Sie waren bis 1870 die wichtigsten Unterstützer des Kaiserreichs.
Die meisten Republikaner waren der Ansicht, dass die Landbevölkerung – die damals 70 Prozent der Franzosen ausmachte – die Demokratie verraten hatte und dass die Mehrheit der französischen Bevölkerung den Anforderungen der Staatsbürgerschaft und der republikanischen Staatsform nicht gewachsen war. Der Bauer galt als Gegenmodell zum Staatsbürger, nicht von Natur aus, sondern wegen seiner Lebensumstände, die ihn daran hinderten, sich in die Nation zu integrieren und zu verstehen, worum es in der Politik geht. Man hielt ihn für politisch desinteressiert, da es ihm an Bildung und Verständnis für universelle Fragen fehle. „In einer Verdrehung, die sich in der Geschichte der republikanischen Idee immer wieder wiederholt, wird aus der Schwierigkeit der Republik, einen Teil ihrer Bürger zu integrieren, die Schwierigkeit bestimmter Bevölkerungsgruppen, sich in die Republik zu integrieren“, schreibt die Historikerin Chloé Gaboriaux.12
Ebenso wie im damaligen Frankreich ist auch im heutigen China der Bauer das Problem. Dabei gab es in den Zeiten von Napoléon III. bereits mehr gebildete Bauern als ungebildete. Viele stimmten zwar für die Konservativen und lehnten die revolutionären Exzesse der Pariser Kommune ab. Aber sie hatten klar erkannt, dass Wahlen ihnen nützen konnten.
Heute sind nicht mehr die Bauern das suspekte Wahlvolk, sondern die Unterschichten. Es gibt immer noch Stimmen, die fordern, staatliche Willensbildung müsse sich auf etwas anderes gründen als auf das Mehrheitsprinzip oder die direkte Demokratie. Manche Politiker bezweifeln, ob die Bürger überhaupt die Fragen verstehen, auf die sie bei Volksbefragungen antworten sollen.13 Sie plädieren für angeblich rationalere Entscheidungsprozesse, die auf Erkenntnissen von Technokraten und Fachleuten beruhen sollen. Wie diese Juristen, Experten und Regierenden ausgewählt werden sollen, sagen sie allerdings nicht – wahrscheinlich ist es wieder die Aufgabe der „Eliten“, sie zu legitimieren.
Da erweist sich der Blick nach China wieder als aufschlussreich. Die dortigen Intellektuellen kommen, konfrontiert mit den Anforderungen der Modernisierung ihres Landes und der Frage, welchen Beitrag sie dazu leisten können, wieder auf Konstellationen zurück, die die „modernen“ Gesellschaften vermeintlich schon vor Jahrzehnten hinter sich gelassen haben. Sie versuchen, einen mystifizierten Demokratiebegriff an gleichermaßen mystifizierte chinesische Besonderheiten anzupassen. Dabei stellen sie fest, wie sehr die hehren Prinzipien der Demokratie – vom 19. Jahrhundert bis heute – Systeme und Ideologien entstehen lassen, die paradoxerweise die demokratische Praxis einschränken.
Letztlich sind diese Debatten oberflächlich und redundant, weil sich die Beteiligten im Wesentlichen mehr oder weniger einig sind und nur darin unterscheiden, welche Methoden und welche Grundsätze installiert werden sollen, damit die Gesellschaft gut regiert wird. Die Regierung müsse bei ihrem Handeln das Interesse der Allgemeinheit verfolgen, das heißt das Wohlergehen des Volks sichern. Aber den Weg dahin kennen ja nur diejenigen, die bereits an der Regierung sind. Deshalb plädieren sie für eine Demokratie, die von einer meritokratischen Elite gelenkt wird. Diese verfüge – man weiß nicht, warum – über herausragende Fähigkeiten und ethische Grundsätze, die gewährleisten, dass sie ihre Aufgabe ehrlich erfüllt.
Damit wird von vornherein ein Gefälle zwischen Volk und Elite, Regierenden und Regierten, Gebildeten und Ungebildeten angenommen. Die Demokratie muss dieser Realität Rechnung tragen. Natürlich können demokratische oder meritokratische Verfahren eine gewisse Erneuerung der Eliten ermöglichen. Man kann Wettbewerbe einführen, Kommissionen zur Kontrolle der Bürokratie einberufen, den Einfluss von Medien und Nichtregierungsorganisationen stärken, den Gesetzen Geltung verschaffen und mehr Möglichkeiten der demokratischen Partizipation eröffnen. Aber wer von diesen Innovationen profitieren will, muss bestimmte Qualitäten besitzen, und die Mächtigen sagen, welche das sein sollen: Kultur, „Niveau“, technisches Know-how, Umgangsformen, Beziehungen. Schon heute spielen in den Medien, bei den Gerichten, in den NGOs oder der Verwaltung mächtige Netzwerke von Entscheidern die zentrale Rolle, sie verteilen Posten und legen mit ihren Kriterien willkürlich fest, was Erfolg ist und was nicht.
Diesen Festlegungen ist eine Gesellschaft ohne demokratische Vertretung wie die chinesische weitgehend ausgeliefert. Alle – ob Neokonfuzianer oder Liberale, Apparatschiks oder Dissidenten – sind sich einig, dass eine Elite anstelle des Volks regieren soll. Alle wünschen, dass eine dominierende Mittelschicht entsteht, die so viel Bildung, Einkommen und Glaubwürdigkeit besitzt, dass eine repräsentative Demokratie optimal funktionieren kann. China stünden dann ausreichend gut bezahlte und gut ausgebildete Menschen zur Verfügung, glückliche Konsumenten, Besitzende und damit Bürger, die sich ihrer Verantwortung vollkommen bewusst wären. Die bereit wären, ihre Interessen wahrzunehmen – welche mutmaßlich mit dem Interesse der Allgemeinheit übereinstimmen würden –, die Gesetze zu achten und die Modernisierung voranzutreiben, aber auch die Stabilität zu erhalten. Und sie würden zuverlässig aufgeklärte Herrscher wählen.
Die Konflikte unter all denen, die dieser Meinung sind, drehen sich darum, welche Art von Elite das Land braucht. Damit ist der Beweis erbracht, dass China auch politisch in der modernen Welt angekommen ist.
5 Han Han, „Lun geming“ („Über die Revolution“), 23. Dezember 2011 (auf Chinesisch).
6 Die Charta von 2008 forderte eine demokratische Verfassung.
7 Liu Xiaobo, „La Philosophie du porc et autres essais“, Paris (Gallimard „Bleu de Chine“), 2011.
8 Zhang Liang, „Les Archives de Tiananmen“, Paris (Le Félin), 2004.
13 Vgl. Alain Garrigou, „Volkes Stimme“, Le Monde diplomatique, August 2016.
Aus dem Französischen von Ursel Schäfer
Jean-Louis Rocca ist Professor für Politologie am Centre de recherches internationales (Ceri), Paris. Autor von: „The Making of the Chinese Middle Class. Small Comfort and Great Expectations“, New York (Palgrave Macmillan) 2017.