09.03.2017

Das Einkaufsparadies am Ende der Welt

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Das Einkaufsparadies am Ende der Welt

Im feuchtkalten Süden Chiles floriert eine Freihandelszone

von Georgi Lazarevski

Es war einmal in Feuerland GEORGI LAZAREVSKI
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An den Ufern der Magellanstraße bläst ein so starker Wind, dass schon manch einer davon verrückt geworden sein soll. Eine Stimme im Radio näselt: „Zona Franca: Das Beste, was die Welt zu bieten hat, alles an einem Ort!“ Die Stimme dringt über den Äther in jedes Haus in der Gegend: „Über 9 Millionen Kunden, 300 Millionen Dollar Umsatz in diesem Jahr, kommen auch Sie vorbei!“ Zwischen diesen beiden Jingles fährt der Sender seine Werbespots ab. Alle beziehen sich auf den selben Ort: die Zona Franca, die Freihandelszone. Diese ­Ansammlung von Shoppingmalls an der Meer­enge liegt genau an der „Sandspitze“, auf Spanisch: Punta Arenas. Das ist der Name der größten Stadt im chilenischen Teil des südlichen Patagonien.

Ihre Blütezeit erlebte die Hafenstadt zu Beginn des 20. Jahrhunderts, vor dem Bau des Panamakanals. Damals kamen hier alle Schiffe vorbei, die zwischen Atlantik und Pazifik verkehrten und die stürmische See vor Kap Hoorn weiter südlich meiden wollten. Jetzt legen hier nur noch die turmhohen Kreuzfahrtschiffe an, die unterwegs zu der südargentinischen Stadt Ushuaia sind. Sie spucken Touristen zu Tausenden aus, Leute auf der Flucht vor ihrem Alltag.

„Das Ende der Welt“ („el fin del mundo“) ist hier zunächst einmal ein Label, eine Marke, die zum Träumen einladen soll. Es gibt sie in unendlichen Varianten: Biersorten, Cafés, Restaurants, touristische Rundwege, sogar für Nationalstraßen. So heißt ein Teilstück der Ruta 9 inzwischen „Straße am Ende der Welt“. Die Reisenden können hier, so wird ihnen versprochen, die „Zivilisation hinter sich lassen“ und „unberührte Landschaften betreten“; die Nabelschnur zu ihrem Alltagsleben sei nun durchtrennt; in diesem Teil der Welt sei noch alles möglich. Wer das tatsächlich glaubt, ist selber schuld. Die Reiseleiter bringen einen schnell auf die richtige Spur zurück: „Wer Punta Arenas besucht, muss unbedingt zum Einkaufen in die Zona Franca gehen, die größte Shoppingmall Patagoniens!“1

Die Reisenden merken schnell, dass schon lange vor den Kreuzfahrtschiffen die Zivilisation hier gelandet ist und das Ende der Welt mit betonierten Alleen, Lagerhallen und Autohäusern ausgestattet hat. In den Einkaufspassagen gibt es die neuesten Flüssigkristall-Bildschirme, kunststoffbeschichtete Möbel, Campingzubehör und zollfreien Schnaps für ein komfortables „Leben in der Wildnis“. Willkommen im modernen Patagonien.

Die Freihandelszone von Punta Arenas wurde 1977 zur Zeit der Pinochet-Diktatur von General Nilo Floody gegründet. Der damalige Militärintendant der Región Magallanes war berüchtigt wegen seiner Beteiligung an dem, was 1973 im Jargon der Militärs „Säuberung von bewaffneten extremistischen Gruppen“ hieß.

Auf Anregung von Pinochets Wirtschaftsminister José Piñera und unter dem Einfluss der „Chicago Boys“2 nutzte man die Region als Experimentierfeld der Globalisierung. Die staatseigenen Öl-, Wasser-, Telekom- oder Luftfahrtunternehmen wurden zu Schleuderpreisen an private Eigentümer verkauft. In der südlichsten Region Chiles, ohne jede Straßenverbindung zur 3000 Kilometer nördlich gelegenen Hauptstadt Santiago, war damals alles zu haben. Die Regierung scheute keine Mühen, um neue Siedler anzulocken, zumal der mächtige Nachbar Argentinien die Inseln im nahen Beagle-Kanal für sich beanspruchte. Die Zona Franca wurde zur Speerspitze der wirtschaftlichen Entwicklung der Region, sie war die späte Nachfolgerin der Kolonisierung ein Jahrhundert zuvor, bei der die indigenen Völker der Selk’nam (Onas), Kawesqar (Alakaluf) und Yaghan (Yámana) ausgerottet wurden.

Vierzig Jahre nach der Eröffnung stehen die großen Bauten am Ufer der Magellanstraße, angefressen vom Meerwasser und in leuchtenden Farben gestrichen. Der Anstrich muss ständig erneuert werden, um den Traum lebendig zu halten. Die Zona Franca verzeichnet von Jahr zu Jahr steigende Umsätze, selbst die neue Konkurrenz, die Pionero-Mall des US-Handelsriesen Walmart, vermag sie kaum zu bremsen.

Patricia Rebolledo, eine junge Mitarbeiterin des Wachdienstes Securitas, der die Zona Franca rund um die Uhr bewacht, dreht ihre tägliche Runde. Am Abend, wenn das Ballett der voll beladenen Einkaufswagen mit einem allerletzten Quietschen zur Ruhe gekommen ist, marschiert sie durch die Alleen und schließt die mit Stacheldraht und Wachhäuschen gesicherten Zugangstore ab. Eingesperrt werden in Chile heute nur noch Konsumgüter.

Insgesamt hat sich das Erscheinungsbild der Stadt seit ihrer Gründung 1848 nur wenig verändert. Punta Arenas war damals eine Strafkolonie, wo man Gefangene dahinvegetieren ließ. Das raue, feuchtkalte Klima war allein Strafe genug. Wer zu fliehen wagte, erfror. Nach einem Aufstand der Gefängniswärter, denen der Staat die Zulagen gestrichen hatte, sodass sie fast ebenso erbärmlich lebten wie die Häftlinge, erhielt das Lager 1877 einen neuen Status: Die Strafkolonie wurde zum Siedlungsgebiet erklärt, und die staatliche Oberhoheit sollte durch die Gründung einer Stadt gesichert werden.

Erinnerungen an diese Revolte wurden wach, als die Einwohner der Region, die Magallánicos, im Januar 2011 auf breiter Front gegen die Streichung einer Subvention protestierten, die ihnen niedrigere Gaspreise als dem Rest des Landes garantierte. In der gesamten Region wurden hunderte von Barrikaden errichtet, Touristen kamen eine Woche lang nicht mehr vom Fleck, bis die Regierung Piñera nachgab und vier Minister zurücktreten mussten. Eine solche Protestwelle hatte es seit den Demonstrationen gegen das Pinochet-Regime nicht gegeben. Das lag auch daran, dass das in der Umgebung von Punta Arenas geförderte Gas in dieser eisigen Region als ein öffentliches Gut gilt: Die Einwohner betrachten sich immer noch als Pioniere, als Träger der chilenischen Utopie, allen klimatischen und geografischen Widrigkeiten trotzen zu können, auch in der Magellan-Region.

Präsidentin Michelle Bachelet sagte nach ihrer Wahl 2014 zwar eine unbegrenzte Verlängerung der Gassubventionen zu, aber das änderte nichts an der extremen Ungleichheit im Land. Ein Dutzend Familien hat Chile unter sich aufgeteilt; eine davon ist die Familie Fischer, die sich bis 2030 eine Lizenz für die Zona Franca gesichert hat. Ihr Konzern ist vor allem im Immobiliensektor tätig und betreibt Einkaufszentren und Spielkasinos im ganzen Land (wie das Dreams gleich neben der Zona Franca in Punta Arenas); aber auch in Peru, Mittelamerika und Südafrika. Die Fischers halten auch große Anteile am AquaChile-Konzern der Familie Puchi, der mit seinen Lachsfarmen für zahlreiche Umweltskandale verantwortlich ist, wie die Zerstörung des Ökosystems vor der Insel Chiloé weiter im Norden.

Die große Mehrheit der Chilenen kann sich nur mit mehreren Jobs über Wasser halten – so auch Patricia Rebolledo. Sie begann mit 15 zu arbeiten, um ihre Schuluniform zu bezahlen, wurde sehr früh Mutter und musste von der Schule abgehen. Mit den monatlich 250 Dollar, die sie als Objektschützerin verdient, kann sie ihre vier Kinder nicht ernähren. In ihrer Kabine liest sie die Kleinanzeigen, während sie die nördliche Zufahrt zur Zona Franca im Blick behält. Sie stößt auf ein Angebot für eine Ausbildung zur Baumaschinenfahrerin. Mit so einer Qualifikation könnte sie sich bei Mina Riesco bewerben, dem gigantischen Kohlebergwerk der Luksic-Familie, das trotz des Widerstands von Umweltschutzorganisationen ein paar Kilometer weiter nördlich eröffnet wurde. Rebolledo weiß nichts von den Protesten: „Die Bergwerke sind ein Segen für unser Land, sie bringen das meiste Geld.“ Sie träumt von einer besseren Arbeit, einem neuen Leben.

Pionierträume und Goldrausch

Hinter ihr gleiten glitzernde Kreuzfahrtriesen über das schwarze Wasser der Meerenge. Sie fahren an den herumliegenden Schiffswracks vorbei. Darin reisen Touristen mit Abenteuerträumen schön warm ins Eismeer vor Ushuaia. An Land fahren die Touristenbusse tausende Kilometer an Zäunen entlang, die private Ländereien umgeben. Die Passagiere sind zu sehr damit beschäftigt, die Landschaft auf ihren Smartphones festzuhalten, um sich für die Stacheldrahtzäune zu interessieren. Dabei erzählen diese viel über die Kolonisationsgeschichte des Landes. Denn vor dem Tourismus mit seinem Versprechen unberührter Landschaften, vor der Zona Franca mit ihrer Fata Morgana vom Konsumglück hat es andere Phasen von Goldrausch und Pionierträumen gegeben, die so schnell verpufften, wie sie entstanden.

1945 lösten Ölfunde im Norden der Sierra Boquerón auf der Insel Feuerland jenseits der Meerenge große Hoffnungen aus. Aber der Boom war bald wieder vorbei. Die Kleinstadt Cerro Som­bre­ro wurde damals aus dem Boden gestampft, samt Kino, Schwimmbad und Freizeitpark. Hier gab es die damals höchste Heiratsrate im Land – inzwischen ist der Ort nur noch ein Schatten seiner selbst, ein trübseliges Dorf auf einem trockenen Hügel, das seinen Platz in der Geschichte mit abgenutzten Bohrköpfen und Denkmälern für heldenhafte Ölarbeiter behauptet. Auch die Gasvorkommen, die es einst massenhaft gab, erschöpften sich: Heute muss man tief bohren und zur Förderung Fracking einsetzen, das die unterirdischen Gesteinsschichten zerstört und den Boden vergiftet.

Vor dem schwarzen Gold gab es das weiße: die Wolle. Ende des 19. Jahrhunderts gründete die Familie Braun-Menéndez die Feuerlandgesellschaft (Sociedad Explotadora de Tierra del Fuego, SETF). Sie herrschte über ganz Patagonien und brachte die Schafzucht auf industrielles Niveau. Nachdem sie alle Hindernisse beseitigt hatte, besaß sie drei Millionen Hektar Land – ein Viertel der Fläche Englands. Die SETF, auch „Explotadora“ (Ausbeuterin) genannt, gehorchte bereits jener kapitalistischen Logik, die die Zirkulation von Arbeitskräften und Waren organisiert. Wie viele, die damals als Erste die Magellanstraße befuhren, versuchte auch die SETF alle wichtigen Durchfahrts- und Kreuzungspunkte unter ihre Kontrolle zu bringen. Deshalb ließ man Tonnen von Stacheldraht aus Europa herbeischaffen, um Gebiete abzugrenzen. Dabei ging es weniger um die Markierung von Grundbesitz als um die Kon­trol­le über Handel und Verkehr, die vor In­dia­nern, Gewerkschaften und der Konkurrenz geschützt werden sollten.

Als die großen Familien ihre Herrschaft auf das gesamte Territorium auszudehnen begannen, mussten sie zunächst – per Gesetz oder mit Gewalt, was meist auf dasselbe hinauslief – die ersten Siedler vertreiben: ein Haufen armseliger Gestalten, die sich Anfang der 1880er Jahre nach Feuerland aufgemacht hatten, nachdem man dort auf Gold gestoßen war. Bis heute gibt es noch eine Handvoll Goldsucher im Cordón Baquedano, einem Gebirgszug im Norden von Feuerland. Ihre Lebensumstände haben sich seit damals kaum verändert.

Gaspar Geissel zieht jeden Tag mit seiner Spitzhacke los. Er schürft in einer Erde, die ihm nicht gehört: Der Besitzer wohnt in Santiago und hat die Verwaltung seiner Güter einem Gaucho (Viehhirten) übertragen, der Geissel gewähren lässt. Dieser hebt Steine an, gräbt, sucht in Flussbetten, immer wieder aufs Neue – und das seit 30 Jahren. Er schuftet schwer und verdient wenig, aber er will nicht leben wie die Arbeiter, die in der Fischfabrik im 30 Kilometer entfernten Porvenir Lachs verpacken oder die Straße ausbessern, die an seiner Hütte vorbeiführt.

Manchmal bleiben Touristen an seinem Plakat stehen: „Hier wohnt ein Goldsucher“. Sie bezahlen ein paar Pesos, dafür führt er sie im Schnelldurchgang durch sein Leben. Gern würde er mehr vom Touristenboom profitieren, aber die Busse und Autos verlassen nur selten die große Hauptstraße nach Ushuaia. Also gräbt er weiter seine Nuggets aus und wiegt sie sorgfältig auf der Waage neben seinem Holzofen. Wenn der Winter Einzug hält und Schnee und Eis das Land im Griff haben, nimmt er die Fähre hinüber nach Punta Arenas auf die andere Seite der Meerenge, um dort sein Gold zu verkaufen.

In der Zwischenzeit verbindet ihn nur sein kleines batteriebetriebenes Radio mit der modernen Welt. Hier verkündet regelmäßig dieselbe näselnde Stimme die Nachrichten und die Goldkurse – und die Sonderangebote in der Zona Franca.

1 Punta Arenas Tax-Free Area: www.interpatagonia.com.

2 Eine Gruppe neoliberaler chilenischer Wirtschaftswissenschaftler, die in Chicago studiert hatten und sich vor allem von Milton Friedman (1912–2006) inspirieren ließen.

Aus dem Französischen von Sabine Jainski

Georgi Lazarevski ist Dokumentarfilmer und Regisseur des Films „Zona Franca“ (2016) über Punta Arenas: www.cinemadureel.org/fr/ar­chives/programme-2016/competition-francaise/zona-franca.

Le Monde diplomatique vom 09.03.2017, von Georgi Lazarevski