Israel macht weiter
Vom Siedlungsbau zur Annexion – mit Rückenwind aus Washington
von Dominique Vidal
von Dominique Vidal
Drei Äußerungen des neuen US-Präsidenten lassen ahnen, in welche Richtung die US-Politik in Bezug auf den israelisch-palästinensischen Konflikt gehen wird. Da ist zunächst Donald Trumps Ankündigung, die US-Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem zu verlegen;1 da ist ferner die Weigerung, die Siedlungen, die Israel seit 1967 in den besetzten Gebieten errichtet hat, als Hindernis für den Friedensprozess zu betrachten; und da ist drittens die Entscheidung, keinen Druck mehr auf die israelische Regierung auszuüben, um sie an den Verhandlungstisch zu bringen.
Mindestens ebenso vielsagend sind die Ernennungen von Jared Kushner zum Chefberater im Weißen Haus und von David Friedman zum neuen US-Botschafter in Israel. Kushner, der Schwiegersohn des Präsidenten, unterstützt finanziell den Siedlungsbau im Westjordanland. Und Friedman ist Präsident der Amerikanischen Freunde von Bet El, einer der ältesten israelischen Siedlungen im Westjordanland. Kurz nach seiner Nominierung, die noch vom US-Senat bestätigt werden muss, verkündete der diplomatische Quereinsteiger Friedman, wie sehr er sich auf die Arbeit „in der amerikanischen Botschaft in Israels ewiger Hauptstadt“ freue.2
Wer noch einen Beweis brauchte, dass die Zurückhaltung der Netanjahu-Regierung beim Siedlungsbau mit dem Amtsantritt Trumps beendet ist, bekam ihn am 24. Januar: Nur vier Tage nach der Vereidigung des neuen US-Präsidenten genehmigten Benjamin Netanjahu und sein Verteidigungsminister Avigdor Lieberman den Bau von 2500 neuen Wohneinheiten in verschiedenen Siedlungen des Westjordanlands. Es ist auch kein Zufall, dass gleichzeitig mit Trumps Amtsantritt die Ultrarechten in Israel ihre Bemühungen um eine historische Kehrtwende in der Palästinapolitik wieder verstärken: Ziel ist die Annektierung des Westjordanlands.
Naftali Bennett, Bildungsminister und Vorsitzender der nationalreligiösen Partei Jüdisches Heim, spricht sich schon lange für die Annexion der C-Zone aus. Dieses Gebiet, das seit dem Oslo-Abkommen der alleinigen Kontrolle Israels unterstellt ist, umfasst mehr als 60 Prozent des Westjordanlands, insbesondere das Jordantal, aber auch sämtliche Siedlungen und deren Zufahrtsstraßen.
Als die israelische Polizei in den ersten Februartagen den auf palästinensischem Privatland errichteten Siedlungsaußenposten Amona räumte, pries Bennett den „heldenhaften“ Widerstand der Amona-Bewohner und warb für eine Annexion des gesamten Westjordanlands. Die Räumung, die auf einen Beschluss des obersten israelischen Gerichtshofs von 2014 zurückgeht, hatte in Israel heftige Proteste ausgelöst. Um die Gemüter zu besänftigen, verkündete Ministerpräsident Netanjahu, Israel werde für die Bewohner von Amona eine neue Siedlung in den besetzten Gebieten gründen – zum ersten Mal seit mehr als zwei Jahrzehnten.
Bereits am 5. Dezember 2016 hatte Bennett die Knesset in erster Lesung über einen Gesetzentwurf abstimmen lassen, der 4000 Wohnungen in den „Außenposten“ mit einem Streich legalisieren will: Siedlungen, die sogar nach israelischem Recht bislang als illegal galten, weil sie auf enteignetem palästinensischem Privatland errichtet sind.3 Das „Regularisierungsgesetz“ stellt einen eklatanten Verstoß gegen die vierte Genfer Konvention und bestehende UN-Resolutionen dar. Um Gesetzeskraft zu erlangen, muss der Text allerdings noch zwei weitere Lesungen durchlaufen und vom obersten Gerichtshof bestätigt werden.
„Das ist das gefährlichste israelische Gesetz seit 1967“, erklärte Walid Assaf, der Vorsitzende der Kommission gegen den Sperrwall und israelische Siedlungen innerhalb der Palästinensischen Autonomiebehörde kurz nach der ersten Abstimmung im Dezember.4 Auch Israels Generalstaatsanwalt Avichai Mandelblit kritisierte den Gesetzentwurf scharf, der sich gegen die Rechtsprechung des obersten Gerichts stellt; und Jitzchak Herzog, Chef der oppositionellen Arbeitspartei, bezeichnete ihn als „nationalen Selbstmord“.5
Aller Protest konnte Bennett aber nicht davon abhalten, ein weiteres Gesetz zur Annexion von Maale Adumim vorzulegen – der drittgrößten israelischen Siedlung östlich von Jerusalem –, über das das israelische Kabinett noch diesen Monat abstimmen soll. Für die palästinensische Autonomiebehörde kommt diese Wendung einem Todesurteil gleich: Mit der Annexion immer größerer Teile des Westjordanlands hätte sie nicht mehr viel Trümpfe in der Hand, um zu verhandeln.
Vor fünfzig Jahren, kurz nach dem Sechstagekrieg, behauptete die Regierung unter Ministerpräsident Levi Eschkol, sie wolle den Status der besetzten Gebiete beibehalten; lediglich Ostjerusalem war bereits 1967 annektiert und 1980 zusammen mit Westjerusalem zur „vollständigen und vereinigten“ Hauptstadt des Landes ernannt worden. Das sei eben, so der damalige Außenminister Abba Eban, eine „Trumpfkarte“ für künftige Friedensverhandlungen. An diese Version hielten sich offiziell alle nachfolgenden Regierungen, was sie aber nicht daran hinderte, das Westjordanland immer dichter zu besiedeln: 5000 Siedler waren es 1977, als die Rechte erstmals an die Macht gelangte. Heute sind es mehr als 400 000, nicht mitgerechnet die rund 200 000 Israelis, die in Ostjerusalem leben.
Netanjahus Zickzackkurs
Eine Annexion des gesamten Westjordanlands – also auch der A- und B-Gebiete, die unter palästinensischer Verwaltung stehen – würde nach internationalem Recht bedeuten, dass den Palästinensern dieselben Rechte zuerkannt werden müssten wie den Israelis, also auch das Wahlrecht. Sollte der dann binationale Staat die Gleichberechtigung der beiden Völker ablehnen, würde er zu einer Neuauflage der südafrikanischen Apartheid: Das eine Volk reißt zulasten des anderen alle Rechte an sich.
Um das zu vermeiden, bliebe nur ein noch schlimmeres Szenario: eine neue Welle palästinensischer Vertreibungen aus dem Westjordanland, womöglich überhaupt aus dem Staat Israel. Der wäre ja nicht mehrheitlich jüdisch geworden, hätte nicht zwischen 1947 und 1949 die „Nakba“ („Katastrophe“ auf Arabisch) stattgefunden, die Vertreibung von rund 750 000 Palästinensern – vier Fünftel der damaligen palästinensischen Bevölkerung.
Im Schatten des Krieges von 1967 wurde die ethnische Säuberung mit der „Naksa“ („Rückschlag“) fortgesetzt. Damals flohen weitere 300 000 Menschen aus den von der israelischen Armee besetzten Gebieten. Aber natürlich haben sich die Umstände seither verändert: Wenn die Kameras der ganzen Welt zuschauen, lässt sich schwerlich eine Massendeportation durchführen.
Die Ultrarechten machen kein Geheimnis mehr daraus, dass sie die Aussicht auf eine Annexion des Westjordanlands begrüßen. „Unser Traum ist es, das Judäa und Samaria zu einem Teil des souveränen Staates Israel werden. Wir müssen jetzt handeln, und wir müssen unser Leben dafür geben“, verkündete Naftali Bennett im vergangenen Oktober.6
Ministerpräsident Netanjahu hingegen laviert: Am 5. Dezember stimmte er in erster Lesung für das Regularisierungsgesetz, dann sprach er sich dagegen aus, nur um sich im Januar wieder dafür einzusetzen – was auch mit dem Wechsel im Weißen Haus zu tun haben dürfte.
Neu ist dieser Zickzackkurs allerdings nicht. 2009 räumte Netanjahu in einer Rede an der Universität Bar-Ilan ein, es sei denkbar, dass vielleicht irgendwann einmal „ein entmilitarisierter palästinensischer Staat“ geschaffen würde. Sechs Jahre später, kurz vor den Parlamentswahlen im März 2015, schwor er, solange er am Ruder sei, werde es keinen palästinensischen Staat geben. Kaum im Amt bestätigt, distanziert er sich von seiner Aussage – und leugnete sie: „Was ich vor sechs Jahren sagte, als ich zu einer Lösung mit einem entmilitarisierten palästinensischen Staat aufrief, der den jüdischen Staat anerkennt, nehme ich in keinem Punkt zurück. Ich habe nur gesagt, dass die Bedingungen dafür heute nicht gegeben sind.“7
Der Grund für diese Akrobatik ist die zunehmende internationale Isolation Israels, die auch Netanjahu registriert. Das einflussreiche Institute for National Security Studies (INSS) in Tel Aviv schreibt in seinem letzten Jahresbericht: „Das Image Israels in den westlichen Ländern verschlechtert sich weiter – eine Tendenz, die die Möglichkeiten feindlicher Gruppierungen erweitert, Aktionen durchzuführen, die darauf abzielen, das Land seiner moralischen und politischen Legitimität zu berauben und Boykottkampagnen in verschiedenen Bereichen zu lancieren.“8
Die Ultrarechten reagieren darauf allenfalls mit Achselzucken. Denn sie setzen ihre Hoffnungen nicht allein auf die neue US-Regierung, sondern auch auf eine zunehmend radikalisierte öffentliche Meinung in Israel. Der andauernde Kriegszustand, zu dem in den letzten Monaten noch die „Messer-Intifada“ hinzukam, das Ausmaß der medialen Manipulation, aber auch und vor allem das Fehlen jeglicher politischer Alternativen – all diese Faktoren erklären, weshalb sich die Mehrheit der israelischen Juden inzwischen extremistischen Ansichten anschließt.
UN-Resolution gegen die Siedlungspolitik
Laut Meinungsumfragen lehnen die Israelis mehrheitlich die Schaffung eines Palästinenserstaats ab und befürworten eine Annexion des Westjordanlands. Knapp die Hälfte würde sogar einer „Umsiedlung“ der Palästinenser, eingeschlossen die israelischen Staatsbürger palästinensischer Herkunft, zustimmen.9
Ein Ereignis steht symbolisch für die Radikalisierung am rechten Rand: die Reaktion auf die Verurteilung des israelischen Soldaten Elor Asaria, der am 24. März 2016 im Stadtzentrum von Hebron einen verwundeten und bewusstlos am Boden liegenden palästinensischen Angreifer mit einem Kopfschuss getötet hat. Nachdem ein Video des Vorfalls um die Welt gegangen war, wollte der Generalstab aus Sorge um das Image der Armee ein Exempel statuieren, und das Militärgericht sprach den Angeklagten am 4. Januar wegen Totschlags schuldig – die Strafe, die noch nicht verkündet wurde, könnte bis zu zwanzig Jahre Haft betragen.
Vorausgesetzt, die drei Richter knicken angesichts der stürmischen Proteste, die ihr Urteil ausgelöst hat, nicht ein: Netanjahu und nahezu alle seine Minister, fast die gesamte politische Klasse und die meisten Medien fordern die Begnadigung des Mörders, ebenso wie 67 Prozent der dazu befragten jüdischen Israelis. Wegen vieler Todesdrohungen stehen die Richter nun unter Polizeischutz. Auch der Generalstabschef der Armee wurde bereits von rechten Extremisten angegriffen.
Während in Israel also Politik und Gesellschaft nach rechts gerückt sind,10 verabschiedete der UN-Sicherheitsrat am 23. Dezember 2016 die UN-Resolution 2334 gegen die Siedlungspolitik Israels – weil sich die USA zum ersten Mal seit 1980 ihrer Stimme enthielten. Das Vorgehen der Amerikaner wäre lobenswert gewesen, wäre es nicht so spät gekommen, und erst nachdem die Obama-Regierung mit Tel Aviv eine auf zehn Jahre verteilte Militärhilfe von 38 Milliarden Dollar vereinbart hatte.
Doch nicht nur der Zeitpunkt war ein Problem. Schlimmer ist, dass diese Manöver der Obama-Administration in letzter Minute keine potenziellen Sanktionen beinhalteten. Yair Lapid, Vorsitzender der liberalen Partei Jesch Atid, sieht darin dennoch eine Gefahr: „In dieser Resolution ist zwar keine Rede von Sanktionen, sie liefert aber die Infrastruktur für künftige Sanktionen; genau das ist das Beunruhigende. Darauf können sich Klagen vor internationalen Gerichten gegen Israel und seine Staatsführung gründen.“11
Tatsächlich beweist die interne Entwicklung in Israel, dass nur noch starker internationaler Druck, verbunden mit rechtlichen und wirtschaftlichen Zwangsmaßnahmen, die Machthaber zur Vernunft bringen kann. Die Bedeutung internationaler Boykottaktionen hat auch Netanjahu erkannt: 2015 bezeichnete er die BDS-Kampagne (Boycott, Divestment and Sanctions) als „strategische Bedrohung“.
Nach Ansicht der Rand Corporation, einer US-Denkfabrik, könnte die BDS-Kampagne die israelische Wirtschaft über einen Zeitraum von zehn Jahren bis zu 47 Milliarden Dollar kosten:12 In zahlreichen Ländern ziehen Pensionsfonds, Großkonzerne und Banken ihre Investitionen aus den Siedlungen, ja aus ganz Israel ab. Die EU wiederum verlangt eine eigene Etikettierung für Erzeugnisse aus den Siedlungen, damit deren Hersteller nicht länger von den Vorteilen des Assoziierungsabkommens mit Israel profitieren können.
Selbst von der gegenüber Tel Aviv sonst so wohlwollenden Europäischen Kommission kommen entsprechende politische Signale. Federica Mogherini, Hohe Vertreterin für Außen- und Sicherheitspolitik der EU, ist zwar keine Befürworterin eines Israel-Boykotts, betont aber: „Die Union schützt die Meinungs- und Assoziationsfreiheit entsprechend ihrer Grundrechtecharta, das gilt auch in Bezug auf BDS-Maßnahmen.“13
In Frankreich erwirkten die Behörden hingegen diverse Gerichtsverfahren und empfindliche Strafen gegen die BDS-Aktivisten. Absurderweise wurden deren Aktionen als „Anstiftung zum Rassenhass“ dargestellt, während sie in Wahrheit für das Ende des Siedlungsbaus und die Gleichberechtigung der Palästinenser kämpfen: ein Ziel, das sie mit niemand Geringerem als den Vereinten Nationen teilen.
1 Die 1995 vom US-Kongress beschlossene Verlegung wurde bisher von keinem Präsidenten umgesetzt.
3 Haaretz, Tel-Aviv, 5. Dezember 2016.
4 Agence France-Presse (AFP), 7. Dezember 2016.
8 Anat Kurz und Shlomo Brom (Hg.), „Strategic Survey for Israel 2016–2017“, Tel Aviv (INSS) 2016.
9 Siehe „Almost Half of Israeli Jews Back Transfer or Expulsion of Arabs, Haaretz, 8. März 2016.
10 Siehe auch Charles Enderlin, „Kampf der Kulturen in Israel“, Le Monde diplomatique, März 2016.
11 Le Monde, 23. Dezember 2016.
12 Financial Times, London, 12. Juni 2015.
13 The Times of Israel, 31. Oktober 2016.
Aus dem Französischen von Barbara Schaden
Dominique Vidal ist Journalist und Historiker. Mitherausgeber der Reihe „L’État du monde“ (La Découverte).