09.02.2017

Im Labyrinth des Kapitals

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Im Labyrinth des Kapitals

Jeder Ausweg aus der Krise schafft wieder neue Probleme

von Cédric Durand

Henrik Spohler, The Third Day 19, Kakteenzucht, Borrego Springs, USA
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Am 2. April 2007, vor fast zehn Jahren, war die New Century Financial Corporation pleite. Das Ende des zweitgrößten Anbieters von Subprime-Hypothekenkrediten in den USA markierte den Beginn der größten Finanzkrise seit 1929. Von dieser Krise hat sich der Kapitalismus noch immer nicht erholt.

Das Wachstum bleibt schleppend, die Arbeitslosenzahlen sind nach wie vor hoch, die Konjunkturprognosen schlecht. Die Zentralbanken haben das Spektrum ihrer Interventionsmaßnahmen ständig erweitert und dabei (fast) alle Tabus gebrochen; und doch stoßen sie damit an Grenzen. Der Versuch, dem Neoliberalismus neues Leben einzuhauchen, droht zu scheitern.

Bei der Rettungsaktion wurden keine Kosten und Mühen gescheut. Im Winter 2008/2009 mobilisierten die reichsten Länder der Welt Gelder in Höhe von 50,3 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts (BIP), um ein vor dem Exitus stehendes Finanzsystem wiederzubeleben.1 Bankenrettung mittels Rekapitalisierung oder Sonderkrediten, Liquiditätsspritzen zur Belebung des Kreditmarkts oder Aufkauf toxischer Vermögenswerte, um die Bilanzen der Finanzinstitute zu entlasten: Sämtliche haushalts- und geldpolitischen Register wurden gezogen, um das Finanzsystem mit Liquidität zu fluten.

Am 14. und 15. November 2008 waren in Washington erstmals die Staats- und Regierungschefs der G-20-Länder (einschließlich Russlands, Chinas, Brasiliens und Indiens) zusammengetreten. Sie vereinbarten, alles zu tun, um die Stabilität des Finanzsystems zu garantieren und die globalisierte Wirtschaft zu retten. Sie bekräftigten ihr Vertrauen „in die Prinzipien der Marktwirtschaft, des Freihandels und der Investitionsfreiheit“2 und verpflichteten sich, durch gemeinsames Handeln eine weitere, ähnlich bedrohliche globale Krise zu verhindern.

Mission erfüllt? Nur zum Teil. Ein Zusammenbruch der Weltwirtschaft wie in den 1930er Jahren wurde verhindert; das weltweite BIP stieg langsam wieder an; der Rückgang des Welthandels konnte begrenzt werden. Hat sich der Neoliberalismus also noch einmal gerettet? Das ist keineswegs sicher. Der Kapitalismus ist zwar nicht zusammengebrochen, steckt aber tief in der Stagnation.

2009 schien das System zu kippen. Selbst Fans von Milton Friedman (1912–2006), einem der geistigen Väter des durch die Krise diskreditierten Monetarismus, entdeckten plötzlich John Maynard Keynes (1883–1946) und dessen Plädoyer für eine staatliche Konjunktur- und Ausgabenpolitik. Und ein Marktwirtschaftler wie Martin Wolf, Leitartikler der Financial Times und Autor von „Why Globalization Works“ (2004), schrieb zu Weihnachten 2009 eine Kolumne, in der er Friedman für widerlegt erklärte und bekannte: „Von nun an sind wir alle Keynesianer.“

Doch schon 2010 meldete sich die Sparpolitik mit Macht zurück. Privatisierungen, arbeitsrechtliche Einschränkungen und Haushaltskürzungen, die von Griechenland bis Großbritannien umgesetzt wurden, führten allerdings nicht zum erhofften Befreiungsschlag. Das Wachstum der reichen Staaten verharrt im Durchschnitt bei 1 bis 2 Prozent und liegt damit deutlich unter dem Niveau früherer Jahrzehnte. In vielen Regionen Europas und der USA herrschen Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung. Nicht besser sieht es in den Entwicklungs- und Schwellenländern aus, die aus eigener Kraft keine ausreichende Dynamik erzeugen können. 2016 wuchs die Wirtschaft Chinas so langsam wie seit 1990 nicht mehr, zugleich schrumpfte das BIP in Russland und Brasilien.

Die Wachstumsprognosen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) fielen zwischen 2007 und 2012 regelmäßig zu optimistisch aus. Im Durchschnitt lagen sie um 1,5 Prozentpunkte höher als die tatsächlichen Werte – eine erstaunliche Differenz, die anschaulich zeigt, in welche Richtung sich die Weltwirtschaft offenbar entwickelt. Der Kapitalismus hat an Dynamik verloren. Das ewige Wachstum scheint der Vergangenheit anzugehören, das Versprechen allgemeinen Wohlstands findet keine Abnehmer mehr. Dass diese legitimierende Illusion geplatzt ist, führt zu politisch-ideologischen Verschiebungen, die zunächst vor allem konservative Kräfte begünstigen – allen voran Donald Trump in den USA.

„Es ist der Moment gekommen, sich darauf zu besinnen, was der Staat Gutes tun kann.“ Das hat nicht etwa ein lateinamerikanischer Adept von Hugo Chávez gesagt, sondern Theresa May auf dem Kongress der britischen Konservativen am 5. Oktober 2016. Der Satz läutet das Ende einer Epoche ein. Die britische Regierungschefin trifft, ohne ihren wirtschaftsfreundlichen Kurs aufzugeben, zwei erstaunliche Feststellungen: Die Sparpolitik hat nicht zu der erhofften Konjunkturerholung geführt. Und auch der Versuch, den Märkten über die Geldpolitik wieder zu alter Stärke zu verhelfen, ist gescheitert.

Seit 2010 haben die G-7-Staaten ihre Staatsausgaben zurückgefahren und ihre Haushaltsdefizite von durchschnittlich 6,6 Prozent (2009) auf 2,7 Prozent (2015) reduziert. Zu Beginn der Krise formulierte der damalige EU-Kommissar für Wirtschaft und Währung, Olli Rehn, die herrschende Meinung mit den Worten: „Niemand kann ewig über seine Verhältnisse leben, nicht einmal ein Staat. Die theoretischen Modelle und die praktische Erfahrung zeigen, dass das Wachstum durch eine stabilitätsorientierte Haushaltspolitik mittel- bis langfristig viel mehr gefördert wird als durch leichtsinnige Ausgaben.“3

Sparpolitik wider besseres Wissen

Den Einwand, die Austeritätspolitik bremse das Wachstum und erhöhe die Arbeitslosigkeit, ließ Rehn nicht gelten. Diese Politik trage vielmehr dazu bei, „das Vertrauen der Verbraucher und Investoren zu stärken und einen spürbaren, aber fragilen Aufschwung in eine dauerhafte Wachstumsphase zu überführen und damit Arbeitsplätze zu schaffen“.

Doch Rehns Argumente halten, wie der schottische Politikwissenschaftler Mark Blyth4 gezeigt hat, einer Überprüfung nicht stand. 2013 machte der Masterstudent Thomas Herndon von der University of Massachusetts Amherst eine für die ökonomische Zunft peinliche Entdeckung: Er fand heraus, dass die empirische Untersuchung von Kenneth Rogoff und Carmen Reinhart voller Fehler war.5 Die beiden Harvard-Professoren werden oft als Kronzeugen einer Entschuldungspolitik zitiert. Dabei hätte das Griechenland-Drama auch die letzten Zweifler überzeugen müssen: Seit 2010 hat das Land seine Ausgaben drastisch gekürzt, ohne dass sich seine Wirtschaftslage verbessert hätte. Dennoch wird die Sparpolitik fortgesetzt.

Die einzelnen Staaten geben damit ihre makroökonomischen Inter­ven­tions­möglichkeiten aus der Hand und überlassen den Zentralbanken das Heft des Handelns. Die legten in ihrem Bemühen, die Konjunktur durch massive Kreditvergabe anzukurbeln, einen außergewöhnlichen Aktivismus an den Tag. Sie senkten die Leitzinsen und setzten parallel dazu auf neue geldpolitische Instrumente wie Quantitative Easing (QE). Diese „quantitative Lockerung“ bedeutet, dass die Notenbanken am Sekundärmarkt Staats- und Unternehmensanleihen aufkaufen, um deren Rendite zu drücken. Dadurch haben sie die Märkte mit Liquidität geflutet und ihre kumulierte Bilanzsumme zwischen 2008 und 2016 verdreifacht: von 6000 Milliarden auf rund 17 500 Mil­liar­den Dollar.6

Einige dieser Maßnahmen hatten die erhoffte Wirkung. So haben die Renditen langfristiger Staatsanleihen drastisch nachgegeben. Mit anderen Worten: Die öffentliche Hand kann sich quasi umsonst verschulden – oder mit dem Schuldenmachen sogar noch Geld verdienen. So mussten im Dezember 2016 die Käufer fünfjähriger französischer Staatsanleihen einen Negativzins von minus 0,28 Prozent bezahlen. Zehnjährige französische Staatspapiere wurden mit rund 0,65 Prozent verzinst – bei einer jährliche Inflationsrate von 0,7 Prozent. In dem Fall wird der Staat durch die Aufnahme von Schulden reicher – und profitiert zusätzlich von einem leichten Wachstum, das die Steuereinnahmen sprudeln lässt. „Jetzt ist der Moment gekommen, Fremdkapital aufzunehmen, und zwar langfristiges Fremdkapital“,7 so das Fazit, das Donald Trump im August 2016 zog.

Die Maßnahmen der Zentralbanken und insbesondere das späte Eingreifen der Europäischen Zentralbank (EZB) beendeten die Spekulation mit Staatsanleihen, die aus der Subprime-Krise eine Euro-Krise gemacht hatte. Diese Maßnahmen haben jedoch nicht zum Ziel, staatliche Investitionen zu fördern oder die Schaffung von Arbeitsplätzen zu finanzieren. Im Gegenteil: Damit die Länder, die unter dem Rettungsschirm der Troika aus Internationalem Währungsfonds (IWF), EZB und Europäischer Kommission stehen, in das QE-Programm der EZB aufgenommen werden, müssen sie zuvor ihre Haushaltsdefizite verringern.

Geldflut mit Nebenwirkungen

Die unverhofft niedrigen Zinsen haben ihre Wirkung auf die Unternehmen nicht verfehlt. Diese haben, wie von den Zentralbanken erwartet, Bankkredite aufgenommen und verstärkt Unternehmensobligationen auf den Kreditmärkten platziert. In den USA zum Beispiel hat sich das Anleihevolumen gegenüber 2007 vervierfacht.

Was haben die Unternehmen mit diesem Geld gemacht? Ein im Oktober 2016 veröffentlichter Bericht der Edmond-de-Rothschild-Gruppe gibt eine klare Antwort: „Die Unternehmen haben sich für zweierlei entschieden: Zunächst erhöhten sie die Dividenden, um anschließend Aktienrückkäufe zu beschließen. Beide Maßnahmen kommen den Aktionären zugute: Die erste verschafft ihnen schlicht höhere Dividendeneinnahmen, die zweite beschert ihnen einen Kursanstieg, der aus den Aktienrückkäufen resultiert. Damit stützen die Unternehmen nicht nur die Börsenkurse. Sie tragen auch zu einem höheren Gewinn pro Aktie bei, weil mit jeder zurückgekauften Aktie die Gesamtzahl der Aktien sinkt.“8

Eindrucksvoll belegt wird das durch die Entwicklung in den USA: Hier wurden seit 2014 pro Jahr Aktien im Wert von mehr als 500 Milliarden Dollar zurückgekauft. Zugleich erreichen die ausgeschütteten Dividenden in Höhe von 600 Milliarden schon fast wieder die Rekordwerte, die in den 2000er Jahren üblich waren. In Europa deuten die ersten Analysen zum Anleihekaufprogramm der EZB in dieselbe Richtung: Die Kreditexpansion kommt den Ak­tio­nä­ren zugute, ohne die Investitionen auch nur im Geringsten anzukurbeln.

In der Tat ist das Investitionsvolumen (als Prozentsatz des BIPs) gegenüber der Zeit vor 2007 weltweit um 2 bis 3 Prozentpunkte zurückgegangen. Noch dramatischer ist die Entwicklung bei den Nettoinvestitionen (Bruttoinvestionssumme abzüglich der Abnutzungs- und Ersatzinvestitionen): In den USA werden pro Dollar Umsatz gerade einmal 4 Cent, im Euroraum sogar nur 2 Cent reinvestiert. Und in Japan liegen die Reinvestitionen fast bei null.

Um es klar zu sagen: Diese Volkswirtschaften versäumen es, sich auf die Zukunft vorzubereiten. In Ländern wie Griechenland oder Italien ist die Situation noch schlimmer, wo die Produktionsziffern seit mehreren Jahren zurückgehen. In Griechenland belief sich der Rückgang bis 2015 auf jährlich 7 bis 8 Prozent.

Eine umfassende Wirtschaftsdepression ist allerdings nicht eingetreten. Doch die Stagnation hält an und hat bereits neue Verwerfungen bewirkt. Die ersten Probleme sind eine direkte Folge der Geldpolitik. So hatte der Zinsrückgang die Nebenwirkung, dass die Renditen der besonders sicheren Anlagen gesunken sind, die einen Großteil der Portfolios von Pensionskassen, Lebensversicherungen und Teilen des Bankensystems ausmachen. Diese Dynamik hat bei den Rentensystemen, die in allen Ländern mit beitragsfinanzierten Kassen zu beobachten ist, die latente Krise verschärft.

Am 16. Dezember 2016 bestätigte das US-Finanzministerium erstmals die von der Pensionskasse der Metallarbeiter in Cleveland beantragten Leistungskürzungen. Sollte das Verfahren wie geplant durchgezogen werden, kommt es zu Einbußen von durchschnittlich 20 Prozent, in bestimmten Fällen sogar bis zu 60 Prozent. Und das Management einer Pensionskasse, die für die Altersbezüge von 34 000 Fernfahrern im Bundesstaat New York zuständig ist, wollen diese ebenfalls um 20 Prozent senken.

Auch in den Niederlanden werden mehrere Pensionskassen im laufenden Jahr ihre Leistungen kürzen. Und in Großbritannien hat sich das Defizit bei den großen Rentenkassen 2016 verdreifacht – weshalb sie von der Regierung eine Reduzierung ihrer Zahlungsverpflichtungen gegenüber den versicherten Arbeitnehmern fordern.

Die Politik des billigen Geldes hat also in eine Sackgasse geführt. Die Rückkehr zu einer restriktiveren Geldpolitik und zu einer Erhöhung der Leitzinsen verspricht allerdings auch keine rosige Zukunft. Damit die lange Verschuldungskette nicht reißt, die viele und ganz verschiedene Volkswirtschaften zusammenbindet, sind niedrige Zinsen wichtiger denn je. Zehn Jahre nach der Krise stöhnen zahlreiche Wirtschaftsakteure noch immer unter der Schuldenlast. Und wenn sich der in den USA eingeläutete Kurs auf höhere Zinsen beschleunigen sollte, würde das zu einem ähnlich raschen Anstieg der Kreditausfälle führen – mit entsprechenden Ansteckungsgefahren für das Finanzsystem und die Gesamtwirtschaft.

Im Übrigen haben die niedrigen Zinserträge der Staatsanleihen so manchen Anleger dazu verleitet, immer riskantere Papiere zu kaufen. So sind im Lauf der Zeit neue Blasen entstanden, die bei einem plötzlichen Zinsanstieg platzen würden. Das American Enterprise Institute, eine der wichtigsten Denkfabriken der US-amerikanischen Unternehmer, bewertet die Situa­tion als alarmierend: „Hohe Verschuldungsniveaus, Renditen, die das Kreditrisiko nicht widerspiegeln, und zunehmende Verwerfungen innerhalb der Weltwirtschaft – all das macht es sehr wahrscheinlich, dass es in den nächsten zwei Jahren zu einer allgemeinen Finanzkrise kommt.“9

Auch die OECD räumt ein, dass die bisherige makroökonomische Strategie nicht greift: „Die Geldpolitik wurde überstrapaziert. Es ist Zeit, die Hebel der Haushaltspolitik in die richtige Richtung zu bewegen.“10 Möglicherweise werden Theresa May und Donald Trump in diese Richtung gehen. Sollten sie eine expansive Haushaltspolitik betreiben, droht allerdings Widerstand von bestimmten Fraktionen der Privatwirtschaft, die allen Grund haben, die Sparpolitik zu unterstützen.

Wie der polnische Ökonom Mi­chal Kalecki 1940 schrieb, soll die Dok­trin „gesunder“ Staatsfinanzen, sprich: strenger Haushaltsdisziplin, garantieren, dass das Beschäftigungsniveau von der „Zuversicht“ der Kapitalisten – und nicht von staatlicher Interventionspolitik – abhängig ist.11 Diese Doktrin nützt also den Unternehmern. Und jede Politik, die ihren Interessen widerspricht, wird durch Investitionskürzungen und Arbeitsplatzabbau bestraft.

Ein Staat könnte dieses Risiko bewusst eingehen und versuchen, das Wachstum anzukurbeln. Die Erfahrungen, die in der Sowjetunion, in den USA während des „New Deal“ von Präsident Franklin Delano Roosevelt, in der französischen Planwirtschaft der 1950er Jahre und in Kriegswirtschaften gesammelt worden sind, zeigen: Regierungen können durch angemessene Interven­tio­nen eine Vollbeschäftigung erreichen. Sie müssten nur dafür sorgen, dass Importe und Exporte ausgeglichen sind.

Viel Geld, keine Ivestitionen

Die „Experten“ der Finanzbranche und der Unternehmerseite lehnen diese Möglichkeit ab. Sie sehen in jeder Ausweitung staatlicher Kompetenzen einen unzumutbaren Eingriff in die über Jahrzehnte erkämpfte Freiheit des Kapitals. Dabei würde eine mutige Beschäftigungspolitik selbst von Teilen der Oberschicht befürwortet, die erkannt haben, dass die Geldpolitik nicht in der Lage ist, die Akkumula­tion wieder in Gang zu bringen.

Die Schwierigkeiten gehen jedoch nicht nur auf die verheerenden wirtschaftspolitischen Entscheidungen zurück, die seit 2010 gefällt wurden. Hinzu kommt, dass die Krise die Konzentration in der Privatwirtschaft weiter beschleunigt hat: Die Megakonzerne nutzten die verfügbare Liquidität, um ihre „Mergers & Acquisitions“ auszuweiten. Das Volumen dieser Fu­sions- und Übernahmegeschäfte übertraf 2015 und 2016 noch die Rekordzahlen der Vorkrisenjahren. Unternehmensfusionen zielen darauf, Arbeitsplätze abzubauen, Marktanteile zu gewinnen und neue Profitmöglichkeiten zu erschließen, da der Kundenstamm erweitert und die Marktmacht gegenüber den Lieferanten verstärkt werden kann. Damit werden die Großunternehmen zu uneinnehmbaren wirtschaftlichen Festungen.

In einem Bericht vom April 2016 zeigten sich die Wirtschaftsberater von Barack Obama (Council of Economic Advisers, CEA) beunruhigt über die Risiken einer solchen Konzentration.12 Sie verwiesen auf den starken Rückgang von Unternehmensgründungen und die vermehrte Zahl von kartellrechtlichen Urteilen wegen geheimer Absprachen. Um den Trend zu veranschaulichen, nannten sie folgende Zahlen: Die Kapitalrendite der leistungsstärksten 10 Prozent unter den Großunternehmen ist heute fünfmal so hoch wie beim Median aller Großfirmen. Vor 25 Jahren lag das Verhältnis noch bei zwei zu eins. Das bedeutet eine starke Konzentration der Gewinne bei den „Größten der Großen“.

Die zunehmende Konzentration verändert auch die Aktionärsstruktur.13 Die Giganten unter den institutionellen Investoren wie Black Rock, State Street und Capital Group kontrollieren zwischen 10 und 20 Prozent der Aktien der meisten US-Großkonzerne, von denen einige direkte Konkurrenten sind. Diese Aktionäre setzen Strategien durch, die auf maximale Gewinne aus kurzfristigen Investitionen abzielen, was weniger Investitionen bedeutet.

Zur Konzentration der wirtschaftlichen Macht tragen weitere Faktoren bei: die patentrechtlichen Innovationshürden; die Vorteile, die sich die Internetriesen durch Datensammeln verschaffen; die zunehmende Bedeutung der Wettbewerbsregulierung zwischen den kapitalistischen Volkswirtschaften. Entsprechend steigen die Ausgaben für Lobbyaktivitäten immer weiter an. Am Ende können die mächtigsten Konzerne – dank ihrer ständig ausgebauten Wettbewerbsvorteile – gesetzliche Regelungen durchsetzen, die sie noch weiter begünstigen.

Das alles erklärt zumindest teilweise, warum die aktuelle wirtschaftliche Situation so merkwürdig ist: Die Unternehmen sind zwar vollgepumpt mit Liquidität (in den USA sind mehr als 800 Milliarden Dollar verfügbar), aber sie investieren nicht. Die marxistischen Ökonomen Paul A. Baran und Paul M. Sweezy haben in ihrem berühmten 1966 erschienenen Buch „Monopoly Capital“ die These aufgestellt, dass Monopolbildung zu Finanzialisierung und Stagnation führt.14

Neue Blasen und Dauerarbeitslosigkeit

Demnach erzielen die Unternehmen in einer oligopolistischen Konstella­tion garantierte Gewinne, für die es im Produktionssektor keine ähnlich rentablen Anlagemöglichkeiten gibt. Daher lenken sie einen steigenden Anteil der durch Produktion erzielten Gewinne in den Finanzsektor um – und fördern damit ständig neue Blasen, die zu Stagnation und Dauerarbeitslosigkeit führen. Folgt man dieser Argumentation, beruht die aktuelle Krise somit letztlich auf der Organisationsform des heutigen Kapitalismus.

Wie sich heute schon abzeichnet, dürfte das Jahrzehnt zwischen 2010 und 2020 – wie zuvor schon die 1930er und 1970er Jahre – ein Scharnierjahrzehnt werden. Das lässt turbulente Zeiten erwarten. Und wachsende Widersprüche innerhalb des kapitalistischen Systems und entsprechende soziale Gegensätze, die nur politisch und durch eine grundlegende Veränderung der Institutionen überwunden werden können.

Wenn bestehende Regelungen und Übereinkünfte infrage gestellt werden, kann dies zu einer Radikalisierung der gesellschaftlichen Gruppen führen, die den Status quo ablehnen.

Wir befinden uns an einem historischen Punkt. Alle Versuche, das neoliberale, finanzialisierte System, das den Zeitraum von 1980 bis 2008 dominiert hat, durch außergewöhnliche geldpolitische Maßnahmen wiederherzustellen, sind gescheitert. Gleichzeitig wächst die Gefahr einer neuen Finanzkrise.

Die emanzipativen Kräfte haben es künftig mit zwei Gegnern zu tun: den Anhängern des Marktfundamentalismus und den Verfechtern eines na­tio­na­lis­tischen Autoritarismus, die den Freihandel und die Austeritätspolitik von rechts infrage stellen. Die neue Regierung der größten Wirtschaftsmacht der Welt verkörpert beide Strömungen.

1 „Fiscal implications of the global economic and financial crisis“, Occasional Paper, Nr. 269, IWF, Washington, D. C., 28. September 2009.

2 „Declaration of the Summit on Financial Markets and the World Economy“, G 20, Washington, D. C., 15. November 2008.

3 Olli Rehn, „Why Europe is cutting spending“, The Wall Street Journal, New York, 25. Juni 2010.

4 Mark Blyth, „Austerity: The History of a Dangerous Idea“, New York (Oxford University Press) 2012.

5 Robert Pollin und Michael Ash, „Austerity after Reinhart and Rogoff“, Financial Times, London, 17. April 2013.

6 Desmond Lachman, „Trouble ahead for the global economy“, The American Enterprise Institute, Washington, D. C., 10. November 2016.

7 „ ,King of debt‘ Donald Trump: ,Now is the time to bor­row‘ “, CNBC.com, 11. August 2016.

8 „Dividendes et rachats d’action: les entreprises de la zone euro vont-elles suivre leurs homologues américains?“, Regards et perspectives économiques, Banque  Privée Edmond de Rothschild, Paris, 5. Oktober 2016.

9 Desmond Lachman, siehe Anmerkung 6.

10 Catherine Mann, Chefökonomin der OECD, zitiert in: Financial Times, 28. November 2016.

11 Der Begriff „state of confidence“ im Sinne von „Unternehmerzuversicht“ ist von Keynes entlehnt (Geneal Theo­ry, Kapitel 12), siehe Michal Kalecki, „Polital aspects of full employment“, The Political Quarterly, Oktober 1943: mrzine.monthlyreview.org/2010/kalecki220510.html.

12 „Benefits of competition and indicators of market power“, Council of Economic Advisers Issue Brief, Washington, D. C., April 2016.

13 „Too much of a good thing“, The Economist, London, 26. März 2016.

14 Paul A. Baran und Paul M. Sweezy, „Monopolkapital. Ein Essay über die Amerikanische Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung“, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1973.

Aus dem Französischen von Markus Greiß

Cédric Durand ist Wirtschaftsdozent an der Universität Paris XIII und der Autor von: „Le Capital fictif. Comment la finance s’approprie notre avenir“, Paris (Les Prairies ordinaires) 2014.

Le Monde diplomatique vom 09.02.2017, von Cédric Durand