Gefangen im Chaos
Brasiliens Haftanstalten sind überfüllt, lebensgefährlich und werden von Banden beherrscht
von Anne Vigna
Auf einem der wenigen Bilder, die es vom Innern des Gefängnisses Vila Indepêndencia in São Paulo gibt, sieht man ein Wirrwarr von Hängematten, das aussieht wie ein Spinnennetz. Hier und da hängt ein Arm oder ein Bein eines Gefangenen heraus. An den Wänden erkennt man ein Metallgerüst, an dem das Gebilde aus Seilen hängt. Da am Boden kein Platz für die vierundfünfzig Gefangenen ist, die in Zellen für zwölf Personen untergebracht sind, wird der obere Teil des Raums mit genutzt. Diese „Lösung“ für die extreme Überbelegung existiert in vielen Gefängnissen Brasiliens. „Wir sind kurz vor dem Kollaps“, warnt Thiago Joffily, Staatsanwalt im Bundesstaat Rio de Janeiro.
Seit 1995 ist die Zahl der Häftlinge in Brasilien von 90 000 auf 623 000 gestiegen.1 Damit nimmt das Land weltweit den vierten Platz ein. Während jedoch in den USA, China und Russland – dem Spitzentrio – die Zahl der Häftlinge in den letzten Jahren gesunken ist, steigt sie hier weiter.2
Trotz der Schaffung von 236 000 Haftplätzen in den letzten fünfzehn Jahren fehlen noch mindestens 250 000. „Wir glauben, dass noch viel mehr Plätze fehlen“, schätzt Valdirene Daufemback, Leiterin der nationalen Gefängnisverwaltung (Departamento Penitenciário Nacional, Depen). „Eine Studie legt nahe, dass 2014 fast eine Million Personen in Brasilien im Gefängnis waren, die einen für ein paar Monate, die anderen lebenslänglich.“
Die massenhaften Inhaftierungen haben jedoch nicht zu einem Rückgang der Unsicherheit geführt. Im Gegenteil: Die Straftaten haben noch zugenommen. 2015 gab es 58 467 Tötungsdelikte,3 fast doppelt so viele wie 1990. Bei Diebstahl und Drogenhandel ist die Entwicklung dieselbe. „Die Gefängnisauslastung hat zugenommen, weil die Gesellschaft zunehmend ein hartes Vorgehen gegen die Kriminalität fordert. Die Nulltoleranzpolitik hat aber verheerende Folgen. Das belegen alle Studien, in Brasilien und weltweit“, erläutert Thiago Joffily.
Schon 1990, während der Amtszeit von Präsident Collor de Mello, wurde Drogenhandel im Strafgesetzbuch neben Mord, Entführung und Vergewaltigung in die Kategorie der schwersten Verbrechen eingestuft. Die Strafen werden immer länger, und das eigentliche Ziel des Strafvollzugs, die Inhaftierten arbeiten zu lassen und im offenen Vollzug zu resozialisieren, rückt in immer weitere Ferne.
Die wegen Mordes Verurteilten sind seit jeher eine Minderheit; in Brasilien sind es 12 Prozent der Gefängnisinsassen, die Aufklärungsrate bei Tötungsdelikten liegt zwischen 6 und 8 Prozent. Die große Mehrheit der Strafgefangenen ist wegen Diebstahl (43,4 Prozent) oder Drogenhandel (25,5 Prozent) verurteilt.
„Die Gefängnisse sind voll von Personen, die von der Militärpolizei auf frischer Tat ertappt und festgenommen wurden“, erklärt die Soziologin Jacqueline Sinhoretto, Expertin für Gefängnisse beim Forschungsinstitut Forum öffentliche Sicherheit von São Paulo. „Die Militärpolizei Brasiliens ermittelt nicht, sondern geht lediglich auf Streife. So landen im Gefängnis nicht die gefährlichen Verbrecher und große Dealer, sondern die Armen: Kleinkriminelle und Abhängige, die Drogen verkaufen, um ihren eigenen Bedarf decken zu können.“
2006 setzte Präsident Lula da Silva eine Reform der Drogengesetze durch, um die Zahl der Verhaftungen wegen Drogenhandel zu verringern. Fachleute kritisierten die Reform, die auf die Entkriminalisierung der Drogenabhängigen abzielte, als tollkühn. Zum ersten Mal wurden sie als Drogenkranke und nicht als Kriminelle betrachtet, sie bekamen medizinische Hilfe und wurden eher zu gemeinnütziger Arbeit als zu Gefängnisstrafen verurteilt.
Das neue Gesetz hat allerdings eine große Schwachstelle: Die Drogenmenge, ab der ein Konsument als Dealer gilt, ist nicht festgelegt. Die Entscheidung fällt der Richter anhand juristischer Kriterien (wie Vorstrafen), aber auch sozialer Kriterien wie Berufstätigkeit, Verhalten und Wohnort des Beschuldigten. „In der Praxis hat das Gesetz zu mehr Verurteilungen wegen Drogenhandels geführt, obwohl es das Gegenteil erreichen wollte. Wenn der Beschuldigte ein junger Schwarzer aus einem Armenviertel ist, halten ihn die meist konservativen Richter automatisch für einen Dealer. Ist ein Beschuldigter, der mit derselben Menge erwischt wurde, weiß und gehört der Mittelschicht an, wird er eher als Konsument behandelt“, erklärt der Anwalt Rafael Custódio, Leiter des Justizprogramms der NGO Conectas.
Die Weißen profitieren also eher von der gesetzlich garantierten Straflosigkeit, bei schwarzen Konsumenten oder Kleindealern steigt das Strafmaß eher. Deshalb ist der Anteil der Schwarzen und der Mestizen an den Gefängnisinsassen ständig gewachsen und lag 2016 bei 67 Prozent. (Der Anteil der Schwarzen an der Gesamtbevölkerung beträgt 7,6 Prozent, der der Mestizen 43 Prozent).
Das Gesetz unterscheidet zwischen „kleinen“ und „großen“ Händlern: Die kleinen genießen einen Straferlass (zwischen einem Sechstel und zwei Dritteln der Strafe), die großen nicht. Aber auch hier lassen sich die Kriterien unterschiedlich interpretieren. Um zur Gruppe der „Kleinen“ zu gehören, darf der Beschuldigte weder ein Wiederholungstäter sein noch einer kriminellen Organisation angehören.
„Für die meisten Richter ist ein Angeklagter, der in einer Favela lebt, automatisch Mitglied einer kriminellen Organisation, weil diese vor allem in den Armenvierteln existieren. Seit es das Gesetz gibt, wurden tausende junge Leute wegen kleiner Drogenmengen zu mehr als fünf Jahren Gefängnis verurteilt, obwohl viele von ihnen nur für ihren Eigenbedarf gedealt haben“, sagt Custódio. Seit der Einführung des Gesetzes 2005 ist die Zahl der Verurteilten von 31 000 auf mehr als 140 000 im Jahr 2014 gestiegen.4
Auch die weibliche Bevölkerung ist betroffen: Nach den letzten verfügbaren Zahlen von 2014 waren 63 Prozent der inhaftierten Frauen wegen Drogenhandel angeklagt oder verurteilt. Ihre Zahl hat sich zwischen 2000 und 2014 versechsfacht.5 Besonders für den Transport von Drogen nutzen die kriminellen Gruppen immer häufiger die Dienste von Frauen, weil die Polizei sie nicht so schnell verdächtigt. Die sozialen Folgen bei der Inhaftierung sind oft schwerwiegend. Die Frauen „werden oft von ihrem Partner verlassen, sobald sie ins Gefängnis kommen, sie lassen Familien zurück, die von ihnen abhängig waren. Am Ende sind die Kinder die Leidtragenden“, urteilt die Juristin Maíra Fernandes, Koautorin einer Studie über Schwangere in den Gefängnissen von Rio de Janeiro.6
In 70 Prozent der Fälle sorgen überforderte Großeltern für die Kinder. Aber fast jedes fünfte Kind landet in einem der meist schlecht ausgestatteten Kinderheime. „Das Schlimmste ist, dass es für viele Frauen Alternativen zur Haft gäbe, vor allem für die Zeit der Untersuchungshaft. Während unserer Recherchen in den Frauengefängnissen von Rio waren 70 Prozent der Insassinnen noch nicht rechtskräftig verurteilt“, berichtet Fernandes.
Die Überbelegung der Gefängnisse hat viel mit dem hohen Anteil von Untersuchungshäftlingen zu tun. 200 000 Personen (Frauen wie Männer) warten gegenwärtig auf ihr Urteil – ungefähr so viele, wie Plätze fehlen. Bei etwa einem Drittel von ihnen ist die Untersuchungshaft länger als die Strafe, zu der sie am Ende verurteilt werden. Außerdem sieht das Gesetz vor, dass Personen, die nicht gewalttätig waren und keine Gefahr für die Gesellschaft darstellen, bis zum Urteilsspruch unter Auflagen auf freiem Fuß bleiben können.
Das 2011 erlassene Gesetz über die Alternativen zu Gefängnis und U-Haft war die wichtigste Maßnahme der Regierung von Dilma Rousseff im Kampf gegen die Überbelegung der Gefängnisse. Aber es hatte kaum Auswirkungen. 2015 drängte der damalige Justizminister José Eduardo Cardozo in seinem „Plan für Kriminalitäts- und Gefängnispolitik“ erneut auf seine Umsetzung. Das Dokument unterstreicht die Notwendigkeit, für Delikte wie Taschendiebstahl (90 000 Häftlinge) und Drogenhandel mit kleinen Mengen weniger strenge Strafen zu verhängen. Doch viele Richter sind nach einer von der Regierung in Auftrag gegebenen Untersuchung7 der Ansicht, alternative Strafmaßnahmen kämen einer Straffreiheit gleich. Sie halten Drogenhandel für den Einstieg zur Schwerkriminalität und bestrafen solche Delikte deshalb besonders hart.
„Die Gesellschaft behandelt die Gefangenen wie Insekten und gesteht ihnen keinerlei Würde zu. Man rechtfertigt die entsetzlichen Zustände, die in den Gefängnissen herrschen, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, dass der Häftling eines Tages ja entlassen wird, und dann ist er viel gefährlicher als bei seiner Inhaftierung und oft auch krank“, kritisiert Maíra Fernandes. Die Behörden der Bundesstaaten erlauben Außenstehenden zwar keinen Einblick und verbieten Besuche von Journalisten, Wissenschaftlern und Vertretern von NGOs. Doch die Tatsachen sind bekannt. Gefängniswärter, medizinisches Personal, Kirchenvertreter und ehemalige Gefangene haben über die furchtbaren Zustände berichtet.
Ein Maßstab, um die gesundheitliche Situation in einem Gefängnis einzuschätzen, ist die Tuberkulose: In brasilianischen Gefängnissen ist die Wahrscheinlichkeit, diese Lungenkrankheit zu bekommen, 28-mal so hoch wie in Freiheit, denn sie breitet sich in lichtarmer und dicht bewohnter Umgebung besonders schnell aus. Um TBC zu erkennen, zu behandeln und weitere Ansteckungen zu vermeiden, braucht man medizinisches Personal. „Bis 2004 hatten wir fünf Haftkrankenhäuser, ein Sanatorium und dreimal so viel Personal“, sagt Lúcia Lutz, die seit fünfundzwanzig Jahren Ärztin in den Gefängnissen von Rio de Janeiro ist. „Heute haben wir nur noch ein Krankenhaus und das Sanatorium, obwohl die Zahl der Gefangenen ständig gestiegen ist.“
Es gibt zwar in jedem Gefängnis von Rio de Janeiro einen Krankenraum, aber dort arbeitet nur noch Pflegepersonal. Für Ärzte sind die Gehälter nicht mehr attraktiv genug. Auf 43 im vergangenen Jahr ausgeschriebene Arztstellen hat sich niemand beworben. Die Überbelegung verhindert auch, dass Kranke rechtzeitig ins Krankenhaus kommen können. Die Sterblichkeit steigt. 2014 lag die Quote bei 167,5 Todesfällen auf 100 000 Gefangene.
Den Häftlingen fehlt es an allem: an Platz, an Matratzen, an Essen, an Hygieneartikeln. Die Frauen machen sich aus Brotkrumen Ersatz für Damenbinden. „Die kriminellen Gruppen beschaffen das, was der Staat nicht besorgt. Seife oder Zahnpasta, das Telefon oder den Anwalt: All das besorgen sie den Häftlingen. Aber in diesen Verhältnissen gibt es nichts umsonst.“ Camila Caldeira Nunes Dias ist Soziologin und hat ein Buch über Brasiliens größte kriminelle Bande geschrieben, das „Erste Hauptstadtkommando“ (Primeiro Comando da Capital, PCC).
Ohne das PCC läuft gar nichts in den Gefängnissen von São Paolo, wo es 1993 gegründet wurde. Die Gefängnisverwaltungen haben keine andere Wahl, als die Häftlinge nach ihrer Zugehörigkeit zu kriminellen Banden unterzubringen und mit den Bandenchefs über das Funktionieren der Einrichtung zu verhandeln. Es gibt weder Mittel noch Personal, um deren Einfluss einzudämmen.
Einer Regierungsstudie zufolge kontrolliert das PCC mehr als 90 Prozent der 160 Gefängnisse des Bundesstaates São Paulo und ist in nahezu allen Haftanstalten des Landes präsent. 2006 war die Bande in der Lage, einen koordinierten Aufstand in 74 Gefängnissen São Paulos gleichzeitig zu organisieren, während andere Mitglieder mehrere Banken überfielen.8
Die „Brüder“, wie sie sich nennen, zeigen innerhalb ihrer Organisation absolute Disziplin und Solidarität – davon hängt schließlich oft genug ihr Überleben im Gefängnis ab. „Je mehr von ihnen ins Gefängnis kommen, desto stärker wird das PCC. Jedes Mal, wenn der Staat seine Verantwortung gegenüber den Häftlingen vernachlässigt, springt das PCC ein. Jede Verschlechterung der Lebensbedingungen in den Gefängnissen trägt zu dem Glauben bei, dass außer dem PCC niemand dem Staat die Stirn bieten kann. Das ist eine Katastrophe“, erklärt die Autorin der Untersuchung, Caldeira Nunes Dias.
Auch wenn die Leute bei ihrer Verhaftung keine Verbindungen zu einer kriminellen Gruppe haben: Im Gefängnis ist es praktisch unmöglich, sich nicht einer solchen anzuschließen. Wenn sie entlassen werden, ist die Bande oft genug ihre einzige Hilfe. Und dafür müssen sie auch bereit sein, ihr Leben zu opfern.
Im Oktober 2016 starben in Rio de Janeiro mehr als 30 Häftlinge bei Auseinandersetzungen rivalisierender Banden. Insbesondere das „Rote Kommando“ (Comando Vermelho) kämpft mit dem PCC um die Kontrolle des Drogenhandels in der Grenzregion zu Venezuela, Kolumbien, Peru und Guyana. Nach den Massakern in den Haftanstalten forderten die Gouverneure der Bundesstaaten vergebens von der Zentralregierung eine Verstärkung der Polizei, um weitere blutige Tragödien zu verhindern.
Anfang Januar 2017 wurden in Manaus etwa 100 Häftlinge, mutmaßlich Bandenmitglieder, getötet und ihre Leichen verstümmelt. Immer wieder zeigt sich der brasilianische Staat unfähig, die Situation unter Kontrolle zu bringen, und bleibt untätig. In Manaus hat die Polizei sogar zugegeben, Nachrichten über die Vorbereitung des Massakers abgefangen zu haben. Präsident Michel Temer allerdings bezeichnete das Gemetzel als „entsetzlichen Unfall“, als er sich vier Tage später – und nach den Gebeten von Papst Franziskus für die Opfer – endlich dazu geäußert hat.
Die Regierung hat nun mit Dringlichkeit den Bau neuer Gefängnisse angekündigt und einen Plan vorgestellt – von dem Experten jedoch wenig Wirkung erwarten. Schon im November hatte der Präsident seine Absicht angekündigt, das Strafrecht zu reformieren und die Strafen für Gewaltverbrechen weiter zu verschärfen.9 Ein neuer Anfall politischer Blindheit? Ein Geschenk an den Privatsektor, der (siehe Artikel rechts) bei Gefängnisbau und -verwaltung auf dem Vormarsch ist? Oder pure Demagogie? Anscheinend können sich die Behörden nichts anderes als eine Politik der harten Hand vorstellen. Und die trägt die Hauptschuld am gegenwärtigen Chaos.
1 Statistik der Nationalen Gefängnisverwaltung (Depen), brasilianisches Justizministerium, 2015.
3 Jahresbericht 2016 des Brasilianischen Forums für öffentliche Sicherheit, São Paolo.
5 Der Anstieg betrug 567 Prozent. Allerdings sind nur 6,4 Prozent der Gefängnisinsassen Frauen.
9 Folha de S. Paulo, 14. Oktober 2016.
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz
Anne Vigna ist Journalistin in Rio de Janeiro.