12.01.2017

Eisenoxid und ein Hauch Türkis

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Eisenoxid und ein Hauch Türkis

Kerry James Marshall malt das schwarze Amerika

von Chase Madar

Souvenir I, 1997, Acryl, Collage, Siebdruck und Glitzer auf Leinwand, 274 x 369 cm © Kerry James MarshallJoe Ziolkowski, © MCA Chicago
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Abstrakt, gegenständlich, modern, Cinquecento, folkloristisch und virtuos: Kerry ­James Marshall spielt gern mit Traditionen. Wie aber geht ein afro­amerikanischer Künstler mit den Geschichten und Bildern einer Kultur um, die sich an seinen Vorfahren brutal vergangen hat und bis heute oft Gewalt gegen Schwarze anwendet? Was bedeutet die kulturelle Vergangenheit der europäischen Metropolen? Ist sie eine Schatzkammer, eine Halde voller Giftmüll, oder gleicht sie einer geschlossenen Gesellschaft, von der man sich lieber fernhält?

Die Schriftstellerin und Bürgerrechtlerin Maya Angelou, die eine große Verehrerin von Shakespeare war, hat wiederholt erklärt, der Autor des Sonnetts 29 („Wenn mit den Menschen und dem Glück entzweit / Ich einsam wein’ ob meines Schicksals Tücke“) müsse ein schwarzes Mädchen gewesen sein. Toni Morrison hingegen befand: „Tolstoi hat nicht für mich, ein 14-jähriges farbiges Mädchen aus Lorain, Ohio, geschrieben.“

Marshall, dem das New Yorker Met Breuer derzeit eine große Retrospektive widmet, gibt eine andere Antwort auf die Frage nach dem Einfluss der Überlieferung. Sein Werk umfasst zwar auch Fotografie, Comic und Holzschnitt, doch die Ausstellung zeigt ausschließlich sein malerisches Œuvre: In „Voyager“ (siehe Seite 5) fährt ein Schiff namens „The Wanderer“ direkt auf den Betrachter zu, die Frauenfigur am Bug blickt in die Ferne, am Heck steht ein Mann halb verdeckt hinter dem Segel mit afrokubanischem Nsibidi-Hieroglyphen;1 das Boot fährt auf stilisierten, mit grobem Strich gemalten Wellen über einen Totenschädel hinweg.

Auf der historischen „Wanderer“, ursprünglich eine Vergnügungsjacht, wurden zuletzt 1858 afrikanische Sklaven nach Savannah deportiert. Schon ein halbes Jahrhundert zuvor war der Sklavenhandel in den Vereinigten Staaten verboten worden, trotzdem gelang es nicht, die Schiffseigner der „Wanderer“ vor Gericht zu bringen. Obwohl Marshalls Bild reale Elemente enthält, strahlt es etwas Rätselhaftes aus.

Kerry James Marshall ist 1955 in Birmingham, Alabama, geboren. Als er acht Jahre alt war, wurden bei einem Bombenanschlag auf eine Baptistenkirche, die ein Zentrum der schwarzen Bürgerrechtsbewegung war, vier Mädchen getötet. Später folgte Marshalls Familie dem großen Strom von hunderttausenden schwarzen Südstaatlern in die großen Städte im Norden und Westen. Doch kaum hatten sie sich in Los Angeles niedergelassen, brachen dort 1965 die Watts Riots aus. Mit 15 bekam Marshall ein Stipendium für einen Sommerkurs am Otis Institute of Art in Los Angeles. Danach hat er sich der Kunst verschrieben. Seit 25 Jahren lebt und unterrichtet er in Chicago.

Seine Bilder sind voller kunstgeschichtlicher Bezüge: von „Gulf Stream“, einer idyllischen Erwiderung auf Winslow Homers gleichnamiges Ölgemälde, auf dem ein Schwarzer in einem ruderlosen Fischerboot durch wütende Wellen treibt, bis hin zu dem Interieur eines Barbiers, dessen Titel „De Style“ augenzwinkernd auf die abstrakte Malerei von Piet Mondrian verweist.

Die meisten seiner Werke haben etwas Erzählerisches, in denen biblische Geschichten, historische oder mythische Ereignisse in einen neuen sozialgeschichtlichen Kontext gestellt werden. In „Vignette“ (Seite 6) rennen ein nackter Mann und eine nackte Frau an hohem Gras vorbei. Es könnte die Vertreibung aus dem Paradies darstellen oder die Flucht vor Sklaventreibern in Westafrika – oder North Carolina. Das kleine Stück befestigte Straße oder Bürgersteig in der vorderen linken Ecke wirft die Frage auf, ob die Szene eher in einer traumatischen Vergangenheit spielt oder künftige Schrecken abbildet und ob es sich im Hintergrund tatsächlich um Grasland handelt oder nicht doch um ein zugewachsenes verlassenes Grundstück.

Die wichtigste Farbe, die Marshall in seinen Bildern verwendet, ist eine Mischung aus Kohlenschwarz, Eisenoxidschwarz und Beinschwarz, angereichert mit einem Hauch Kobaltblau, Goldocker und Phtalotürkis. Dieses organische Dunkel bildet den Hautton realistisch ab und steht außerdem für das Schwarzsein als solches, so wie das Lavendelblau in den Miniaturen der Mogulzeit das Göttliche repräsentiert.

Marshall ist ein traditioneller Maler, der in der Welt herumgekommen ist. Anders als viele Künstler des 20. Jahrhunderts, die sich von der Repräsentation abgewandt haben, kehrte Marshall zur gegenständlichen Malerei zurück, wobei er sich Techniken der abstrakten Malerei zu eigen machte. Sein Bild „Black Painting“, das auf Ad Reinhardts „Monochrome“ aus den 1950er Jahren anspielt, wirft einen Blick in das Schlafzimmer des Black-Panther-Aktivisten Fred Hampton, der 1969 in seiner Wohnung von Chicagoer Polizisten und FBI-Agenten erschossen wurde.

Porträts von apollinischer Heiterkeit

In Marshalls großformatigen Gemälden spielen sich ländliche Szenen vor einem Horizont aus Sozialbauvierteln ab, wo einst die Reise so vieler schwarzer Migranten aus den Südstaaten endete. So stellt der Künstler das klassische Genre der Pastorale eines Tizian, Fragonard oder Manet in einen vollkommen anderen sozialen Kontext: die Flucht aus dem rassistischen Süden in den auch nicht gerade freundlich gesinnten Norden und Westen der USA mit seinen Aufstiegsversprechen, Mittelklasselöhnen und -wohnungen. In „Past Times“ (Seite 23) vergnügen sich Ausflügler an einem See. Trotzdem wirkt die scheinbar idyllische Szene mit den Wohnblöcken im Hintergrund erstarrt und melancholisch.

In den Augen ihrer Kritiker ist nicht zuletzt die modernistische Architektur schuld an den massiven sozialen Problemen in diesen unterfinanzierten und schlecht ausgestatteten Wohnsiedlungen. Das in den 1950er Jahren mit staatlichen Mitteln gebaute und 1976 wieder abgerissene Pruitt-Igoe-Wohnviertel in St. Louis wird oft als Paradebeispiel für wohlmeinende sozialdemokratische Hybris angeführt. Dabei funktionieren ähnliche Anlagen landesweit gut, wenn dort überwiegend weiße Mittel- und Oberschichtler leben. Marshalls Gemälde zu dem Thema zeichnen ein neues urbanes Idyll, sie sind eine Meditation über Ambivalenz und Enttäuschung, aber auch über die glücklichen Erinnerungen, die mit dieser unerfüllten Einladung zu einem bürgerlichen Leben verbunden sind.

In den Vorstellungen über das schwarze Amerika wimmelt es nur so von Stereotypen und Verzerrungen. Das fängt schon mit den Zahlen an: Einer Gallup-Umfrage aus dem Jahr 2000 zufolge glaubten weiße US-Amerikaner mehrheitlich, dass der Anteil der Schwarzen an der Bevölkerung bei 30 Prozent liege, während er tatsächlich nur 13 Prozent betrug.

Barack Obamas Präsidentschaft hat kein postrassistisches Zeitalter der Harmonie und Gleichheit eingeläutet. Und die Erholung von der Finanzkrise 2008 ist am schwarzen Amerika weitgehend vorbeigegangen, obwohl schwarze Haushalte mittleren Einkommens viel stärker von der Krise betroffen waren als Angehörige der weißen Mittelschicht, die oft sowohl über eine eigene Wohnung als auch über größere Rücklagen verfügen.

Dennoch dürften die Obama-Jahre vielen Menschen bald wie ein goldenes Zeitalter der Toleranz erscheinen. Mit seiner als Sorge getarnten Bigotterie hat Donald Trump viele schockiert: „Afroamerikaner und Latinos leben in der Hölle. Dort gehst du auf die Straße und wirst erschossen.“2 In einem Land, das sich noch immer zu 70 Prozent als weiß bezeichnet und in dem viele Weiße in ihrem Alltag nur selten mit Minderheiten in Kontakt kommen, werden solche Vorstellungen als bare Münze genommen.

Für Marshall geben die Stereotype, die Donald Trump bemüht, nur wieder, „was die meisten Leute zum vorherrschenden Bild der Schwarzen in Amerika erheben. Und das ist auch ein Bestandteil unserer Geschichte, das lässt sich nicht leugnen, aber ich versuche in meiner Kunst zu zeigen, dass da viel mehr dazugehört.“

Marshall bannt die alltägliche Würde und den Lebensstil der Schwarzen auf die Leinwand, ohne dass man auf den Gedanken käme, ihm Verklärung vorzuwerfen. Manche seiner Bilder reflektieren sowohl die Gewalt, die Schwarze einander antun, als auch die, die ihnen der Staat antut. „Bang!“ (Seite 22) bezieht sich auf die Feuerwerke, die am Unabhängigkeitstag eines Landes entzündet werden, das seinen nichtweißen Bürgern lange Freiheit und Autonomie verwehrt hat. „The Lost Boys“ (Seite 8) ist eine nüchterne Halluzination über durch Schusswaffen getötete Kinder.

Wie stark sie ihr Augenmerk auf das Negative richten sollen, ist für schwarze Künstlerinnen und Künstler eine heikle Frage. Ellen Gallagher und Kara Walker eignen sich die rassistische Bildwelt an und wenden sie ins Groteske, um sie zu bändigen und zu neutralisieren. Im 20. Jahrhundert hat sich die Kunstwelt lieber mit der naiven Malerei eines Horace Pippin beschäftigt statt mit den ausgebildeten Künstlern, die nicht so gut ins Schema des edlen Wilden passten. Manche von Marshalls früheren Werken spielen bewusst mit einer quasifolkloristischen Schlichtheit: Sein nach Ralph Ellisons Roman über die Gesetzlosigkeit unter Schwarzen benanntes Porträt „Invisi­ble Man“ ist der Versuch, in einer Kunstwelt, die die schwarzen Künstler kaum wahrnimmt, eine Nische zu finden.

Seit den frühen 1990er Jahren hat Marshall seinen Weg gefunden: „Ich habe mich schon lange von der Idee verabschiedet, Kunst zu machen; ich wollte herausfinden, wie man Gemälde macht“, schrieb er im Jahr 20003 und verteidigt die traditionelle Kunstausbildung: „Ich habe in der Geschichte keinen Beleg dafür gefunden, dass eine strenge akademische Ausbildung einen Künstler je gehindert hätte, eine eigene Identität zu entwickeln oder neue Wege zu gehen.“

Marshalls Figuren strahlen eine apollinische Heiterkeit und Ausgeglichenheit aus, am deutlichsten seine Künstlerporträts. Keines zeigt den Künstler selbst, aber in allen gibt er sich zu erkennen: von seinem künstlerischen Ahnherrn Scipio Moorhead, einem schwarzen Maler aus der Bostoner Kolonialzeit, der durch die Gedichte der schwarzen Lyrikerin Phyllis Wheat­ley bekannt wurde, bis zum Bildnis einer aufwendig frisierten Malerin, die mit ihrer Palette in der Hand offenbar gerade eben angefangen hat, die Leinwand hinter sich zu bemalen (Seite 7). Beide blicken dem Betrachter aufrecht und selbstbewusst entgegen.

In einem Land, das mit einem Mal von innen wie von außen kaum noch wiederzuerkennen ist, und in einer Zeit, in der Bildung, Disziplin und Verstand in die Defensive geraten sind, verschafft Kerry James Marshall diesen Werten über seine Kunst Geltung.

1 Nsibidi, auch bekannt unter den Namen Nsibiri oder Nchibiddi, ist eine Bilderschrift, die aus einer Gegend stammt, die heute im Südosten Nigerias liegt.

2 Siehe Melissa Chan, Fortune, 26. September 2016.

3 Arthur Jafa, Kerry James Marshall und Terrie Sultan, „Kerry James Marshall“, New York (Henry N. Abrams) 2000.

Aus dem Englischen von Robin Cackett

Chase Madar ist Journalist und Autor. Die Marshall-Retrospektive am Met Breuer läuft noch bis zum 29. Januar.

© Le Monde diplomatique, London/Berlin

Le Monde diplomatique vom 12.01.2017, von Chase Madar