12.01.2017

Blauhelme

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Blauhelme

Kleine Geschichte der UN-Friedensmissionen

von Sandra Szurek

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Viele verbinden die Organisation der Vereinten Nationen (UNO) vor allem mit ihren Friedensmissionen. Mehr als 100 000 Polizisten, Soldaten und zivile Mitarbeiter sind aktuell im Rahmen von insgesamt 39 Operationen auf vier Kontinenten im Einsatz. Die Aufgabe von Friedensmissionen ist ebenso umfassend wie undankbar. Sie sehen sich harter Kritik ausgesetzt, und die Verfehlungen, insbesondere im Hinblick auf sexuellen Missbrauch und Korruption, sorgen zu Recht für Empörung.1

Während es zwischen 1948 und 1988 lediglich 15 UN-Friedensmissio­nen gab, ist ihre Zahl seit dem Ende des Ost-West-Konflikts stark angestiegen: Bis 2015 wurden 56 weitere Friedenseinsätze durchgeführt – mit gemischter Bilanz.

Der sogenannte Brahimi-Bericht formulierte bereits im Jahr 2000 Reformmaßnahmen, mit denen die Wirkung der Missionen verbessert werden sollte.2 Er empfahl klarere Mandate, eine bessere Anpassung der stark standardisierten Methoden auf das jeweilige Einsatzgebiet sowie eine engere Zusammenarbeit zwischen dem UNO-Hauptquartier in New York und den Einsatzkräften vor Ort.

Nur fünf Jahre später läuteten jedoch abermals die Alarmglocken. Ende 2014 hatte UN-Generalsekretär Ban Ki Moon eine unabhängige Expertengruppe, das High-Level Independent Panel on Peace Operations (Hippo), mit einer umfassenden Überprüfung der Friedensmissionen beauftragt. Sein im Juni 2015 veröffentlichter Bericht kommt zu einem deutlichen Ergebnis: „Die Regierungen und lokalen Organisationen im Osten wie im Westen, im globalen Norden wie im globalen Süden haben unserer Gruppe deutlich zu verstehen gegeben, dass Veränderungen zwingend notwendig sind.“ Es gehe, so der Bericht, um nichts Geringeres als „die Glaubwürdigkeit, Legitimität und Relevanz der Vereinten Nationen in den kommenden Jahren“.3

Um diese alarmierende Diagnose zu verstehen, muss man einen Blick in die Vergangenheit werfen. In der UN-Charta von 1945 wurden die Blauhelmtruppen noch mit keinem Wort erwähnt. Erst Jahre später begann sich dieses Mittel zu etablieren: mit der Entsendung einer Beobachtermission nach Palästina im Jahr 1948 und vor allem mit der Aufstellung der United Nations Emergency Force (Unef) infolge der Suez­krise 1956. Seither variiert die Anzahl der Friedensmissionen, je nachdem wie groß das Einvernehmen zwischen den fünf ständigen Mitgliedern des UN-Sicherheitsrats (USA, Russland, China, Vereinigtes Königreich und Frankreich) ist.

Während in Kapitel VI der UN-Charta die friedliche Beilegung von Streitigkeiten geregelt ist, beinhaltet Kapitel VII die bislang noch nie angewendete Möglichkeit, bewaffnete Streitkräfte bereitzustellen, die der Autorität des Sicherheitsrats unterstehen, sowie einen Generalstabsausschuss einzurichten. Die Friedensmissionen liegen zwischen diesen beiden Kapiteln – sie sind gewissermaßen ein Kapitel VIa – und basieren auf drei Grundprinzipien: der Zustimmung des betreffenden Landes, der Neutralität der UN-Truppen sowie dem Gewaltverzicht der Blauhelme (außer in Notwehrsituationen).

Bis zum Ende des Kalten Kriegs bestanden die Friedenseinsätze ausschließlich aus friedenserhaltenden Missionen. Sie dienten als Pufferkräfte

zwischen verfeindeten Ländern und sollten dafür sorgen, dass Waffenruhen eingehalten und Grenzen respektiert werden.

Die erste UN-Friedensmission überhaupt, die Organisation der Vereinten Nationen zur Überwachung des Waffenstillstands in Palästina (Untso), beschäftigt seit 1948 insgesamt 387 Personen vor Ort. Bei der 1949 ins Leben gerufenen ­Militärbeobachtergruppe der Vereinten Nationen in Indien und Pakistan (Unmogip) sind es noch 110 Personen, während die 1964 aufgestellte Friedenstruppe der Vereinten Nationen in Zypern (Unficyp) noch immer 1075 Personen umfasst. In allen drei Fällen sind die Blauhelme einsame Wächter über eingefrorene oder völlig versteinerte Konflikte.

Seit den 1990er Jahren traten dann zusehends interne Konflikte und asymmetrische Kriege an die Stelle von zwischenstaatlichen Konflikten, während zugleich der Zerfall des Ostblocks einen Konsens zwischen den ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrats ermöglichte.

Friedensmissionen entstanden in der Regel auf der Grundlage von Friedensverträgen, deren Einhaltung die UN-Truppen gewährleisten sollten. Ihr Mandat sah weiterhin vor, in von Bürgerkriegen erschütterten Ländern zur Wiederherstellung eines „dauerhaften Friedens“ beizutragen. Dazu zählten unter anderem humanitäre Aufgaben, Einhaltung der Menschenrechte und Aufbau von Sicherheit sowie die Entwaffnung und Demobilisierung der Konfliktparteien.

Die Länge der Resolutionstexte ist in dieser Zeit von ein bis zwei auf über 15 Seiten angewachsen, ein Zeichen für eine Entwicklung, für die der UNO-Jargon das Wort „Christmas tree man­date“4 geprägt hat: Die Mandate werden beladen wie Weihnachtsbäume, ufern aus, ihnen fehlt die klare Gewichtung der einzelnen Ziele. Mit dem Ergebnis, dass die Missionen unverhältnismäßig aufgebläht wurden. Die mitunter überzogenen Erwartungen der Staaten sowie der Umstand, dass die Vereinten Nationen permanent damit beschäftigt waren, schwelende Konflikte nicht wieder aufflammen zu lassen, erschwerten letztlich nachhaltige gemeinsame Friedensbemühungen.

Die im Laufe der 2000er Jahre in Burundi durchgeführten Einsätze verdeutlichen beispielhaft die scheinbar endlosen Anstrengungen der UNO, die nötig sind, um Recht und Staatlichkeit in einem Land wiederherzustellen. Das Arusha-Friedensabkommen vom 28. August 2000 setzte zunächst der Gewalt ein Ende, die damals bereits mehrere hunderttausend Menschenleben gefordert hatte. Es folgten die Mission der Vereinten Nationen in Burundi (Onub) im Jahr 2004 sowie die Einrichtung eines Integrierten Büros (Binub) 2006.

2007 kam der strategische Plan der Kommission für Friedenskonsolidierung hinzu, die das Abgleiten instabiler Staaten in den Krieg verhindern helfen oder sie nach einem beendeten Krieg unterstützen soll.

Die Friedensmission in Burundi konnte eine Zeit lang als Erfolg angesehen werden. Doch 2015 eskalierte die Situation erneut, als Präsident ­Pierre Nkurunziza bekanntgab, für eine dritte Amtszeit anzutreten. Der Sicherheitsrat beschloss daraufhin die Entsendung von 228 UNO-Polizisten zur Beobachtung der Sicherheitslage und etwaiger Menschenrechtsverletzungen.

Doch wie sollen friedenserhaltende Missionen funktionieren, wenn es in Wirklichkeit gar keinen zu erhaltenden Frieden gibt? Bei manchen Konflikten sind zahlreiche bewaffnete Gruppen beteiligt. Dadurch handelt die UNO mitunter ohne klare Zustimmung des betroffenen Landes, während die regionale und internationale Unterstützung oft nur zögerlich erfolgt (wie etwa vergangenes Jahr in Burundi). Ähnliche Schwierigkeiten gibt es in Mali, wo im Norden ein Zustand der permanenten Unsicherheit herrscht und über 10 000 Personen im Rahmen der Multidimensionalen Integrierten Stabilisierungsmission der Vereinten Nationen (Minusma) im Einsatz sind.

Naturgemäß finden viele Friedensoperationen in einem gefährlichen Umfeld statt – gefährlich sowohl für die Blauhelme, die, wie zuletzt im Mai 2016 in Mali, zur Zielscheibe werden, als auch für die Bevölkerung. Der Brahimi-Bericht aus dem Jahr 2000 hatte betont, dass die Blauhelmsoldaten dazu befähigt werden müssten, nicht nur sich selbst, sondern auch andere Teile der Mission und deren Mandat zu verteidigen. Der Schutz der Zivilbevölkerung wurde daraufhin zu einem Schlüsselprinzip der Friedensmissionen erhoben.

Die Mandate beziehen sich immer öfter auf Kapitel VII der Charta. Und bei bestimmten Missionen haben die Blauhelme inzwischen ausdrücklich die Möglichkeit, in Notwehrsituationen auch „robuste“ Mittel anzuwenden. Sie dürfen also nicht nur zur Selbstverteidigung Gewalt einsetzen, sondern auch dann, wenn eine schwere und unmittelbare Gefahr für Zivilisten besteht. Unter einem solchen Mandat läuft seit 2011 die Mission im Südsudan, ebenso wie die 25000 Mann starke Monusco-Stabilisierungsmission in der Demokratischen Republik Kongo.

Mit robusten Mitteln zum Frieden

Im Lauf der letzten 70 Jahre haben sich UN-Missionen also sehr verändert: von eher statischen Operationen mit ein paar hundert Mann, die als Wachposten aufgestellt wurden, hin zu multidimensionalen Missionen mit tausenden Mitgliedern, deren Mandat auch Friedenserzwingung und Gewaltanwendung abdecken kann.

Vor dem Hintergrund ihrer Erfahrungen haben die UN den operativen und konzeptionellen Rahmen ihrer Friedensmissionen durch die sogenannte Capstone-Doktrin 2008 formalisiert.5 Dadurch konnten erhebliche Fortschritte bei der Truppenausbildung und der Durchsetzung einer Nulltoleranzstrategie im Fall von sexuellen Übergriffen erzielt werden, auch wenn diese bedauerlicherweise weiterhin vorkommen.

Durch ein Minimum an gemeinsamen Regeln, Standards, Verfahrensweisen und Vorbereitungen lässt sich außerdem die Einrichtung einer Friedensmission im Anschluss an einen Beschluss des Sicherheitsrats beschleunigen. Zu diesem Zweck wurden am Sitz der Vereinten Nationen in New York neue Strukturen wie die beiden Hauptabteilungen Friedenssicherungseinsätze (DPKO) und Unterstützung Feldeinsätze (DFS) ins Leben gerufen.6

Lässt sich aus diesen Anstrengungen schlussfolgern, dass die UNO eine – in dieser Form einzigartige – internationale Armee auf die Beine stellen will? Es ist durchaus fragwürdig, ob die beschriebenen Entwicklungen sich im Einklang mit der UN-Charta befinden, da Letztere nach Auffassung einiger Fachleute ausschließlich die friedliche Beilegung von Streitigkeiten regelt.

Der Hippo-Report scheint diese Befürchtungen indirekt aufzugreifen. Er fordert vier grundlegende Neuausrichtungen der Friedensmissionen: Erstens soll der Hauptfokus in Zukunft auf Konfliktprävention und politischen Konfliktlösungen liegen. Über Konzeption und Durchführung der Missionen soll die Politik entscheiden. Anders ausgedrückt: Ein Friedenseinsatz darf keine Notlösung sein, auf die man zurückgreift, weil kein Friedensvertrag zustande kommt oder keine Friedensbereitschaft erkennbar ist.

Zweitens müssen die Missionen, deren Aufgabe es ist, Friedensprozesse zu fördern und zu begleiten, effi­zien­ter werden, indem man sie besser an die Verhältnisse vor Ort anpasst. Das bedeutet keine standardisierten Operatio­nen mehr, sondern verschiedene, an die jeweilige Situation angepasste Mittel, die auf einem Dialog mit der Bevölkerung vor Ort basieren.

Die dritte Neuausrichtung sieht eine Vervielfältigung von Friedenspartnerschaften vor, insbesondere mit Regionalorganisationen wie der Afrikanischen Union (70 Prozent aller UN-Friedensmissionen finden gegenwärtig in Afrika statt). Und viertens soll ein klarerer Rahmen für die Anwendung von Gewalt geschaffen werden, was eine „Dreieckszusammenarbeit“ zwischen den truppenstellenden Ländern, dem Sicherheitsrat und dem Generalsekretariat voraussetzt.

Die Friedensmissionen sind mehr als jedes andere Tätigkeitsfeld der Vereinten Nationen von der inneren ­Ambivalenz der Organisation geprägt. Die UNO ist ein Zusammenschluss souveräner Staaten, die aufgefordert sind, jene humanistischen Werte zu fördern, die 1945 von den Völkern der Erde feierlich verkündet wurden und geteilt werden sollen. Doch obwohl die UN-Charta ganz im Zeichen des Friedens steht, dem alles Handeln der Vereinten Na­tio­nen untergeordnet ist, sieht sie dennoch in Artikel 44 die Möglichkeit vor, dass der Sicherheitsrat die Anwendung von Gewalt beschließt – eine Möglichkeit, von der unter Umständen das Überleben von Völkern abhängen kann.

Am 1. Januar 2017 trat der Portugiese António Guterres als neunter Generalsekretär der Vereinten Natio­nen sein Amt an. Seine wichtigste – und vielleicht übermächtige – Aufgabe wird darin bestehen, die Mitgliedstaaten davon zu überzeugen, dass der Weg des Friedens in erster Linie von einem unerschütterlichen politischen Willen getragen wird, sich nicht mit der Gewalt abzufinden, die überall auf der Welt geschieht.

1 Siehe Ronald Hatto, „Le Maintien de la paix. L’ONU en action“, Paris (Armand Colin) 2015.

2 Bericht der Sachverständigengruppe für die Friedensmissionen der Vereinten Nationen, UNO-Dokument A/55/305-S/2000/809, New York, 21. August 2000.

3 „Unsere Stärken für den Frieden vereinen. Politik, Partnerschaft und Menschen“, Bericht der Hochrangigen unabhängigen Gruppe für Friedensmissionen, UNO-Dokument A/70/95-S/2015/446, 17. Juni 2015.

4 Siehe Arthur Boutellis und Alexandra Novosseloff, „Le Conseil de sécurité et l’évolution des opérations de maintien de la paix“, in: Alexandra Novosseloff (Hg.), „Le Conseil de sécurité des Nations Unies entre impuissance et toute puissance“, Paris (CNRS Éditions, collection Biblis) 2016.

5 Siehe United Nations Peacekeeping Operations: Principles and Guidelines, www.un.org/en/peacekeeping/documents/capstone_eng.pdf, UNO, Hauptabteilung Friedenssicherungseinsätze, Hauptabteilung Unterstützung Feldeinsätze, New York 2008.

6 Alexandra Novosseloff, „La professionnalisation du maintien de la paix des Nations Unies ou le travail de Sisyphe“, Peacekeeping Operations Review, New York, März 2016.

Aus dem Französischen von Richard Siegert

Sandra Szurek ist stellvertretende Vorsitzende der Association française pour les Nations Unies (Afnu).

Le Monde diplomatique vom 12.01.2017, von Sandra Szurek